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Wintermörder - Roman

Krystyna Kuhn

 

Verlag Goldmann, 2008

ISBN 9783894804145 , 414 Seiten

Format ePUB, OL

Kopierschutz Wasserzeichen

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7,99 EUR

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    Thai-Juwelen

     

     

     

     

 

 

Zofia
Mittwoch, 31. Dezember 1941, Krakau

Die Krähen tauchten auf, nachdem mein Vater auf offener Straße erschossen worden war. Seitdem sitzen sie Tag für Tag auf den Dächern, auf den Fenstersimsen, in den kahlen Bäumen. Als ob alle, die verschwunden sind, sich in Krähen verwandelt haben und in deren Gestalt in die Stadt zurückkehren.
Nach den Lebensmitteln, der Seife und Hautcreme sollen wir jetzt auch Pelze, warme Stiefel, Handschuhe und Mützen bis fünf Uhr in den Tuchhallen abliefern. Meine Mutter ist darüber so erbittert, dass sie im Bett bleibt und sagt, sie wird erst wieder aufstehen, wenn alles vorbei ist. Daher muss ich gehen. Auf der Grodzkastraße sucht eine Schar Krähen im Müll nach Essbarem. Da sitzen sie mitten im Dreck, und als ich an ihnen vorbeigehe, putzen sie gleichgültig ihr schwarzes Gefieder, das glänzt wie die Nacht, die im Winter schon am frühen Nachmittag hereinbricht.
Als ich zu Hause bin, erzählt meine Mutter, dass am nächsten Tag Schreibmaschinen und Grammophone abgeholt werden. Also vergrabe ich die Schreibmaschine unter den Kohlen im Keller. Leszek will mir dabei helfen, doch ich schicke ihn nach oben, als er nicht aufhört zu husten. Am Abend hat er Fieber und möchte, dass ich ihm wieder die Geschichte von den sieben Raben vorlese.
Es ist spät, als ich zu Bett gehe. Kurz nachdem ich eingeschlafen bin, werde ich durch ein Brummen geweckt. Unruhe auf der Straße. Ich springe auf und beobachte durch die Verdunkelung eine lange Kolonne Lastwagen, auf denen Soldaten mit Helm und in voller Ausrüstung sitzen. Sie sind völlig mit Schnee bedeckt und sehen aus wie Gespenster. Ich bin dreizehn, und es ist Krieg.

Sieben Tage

Als der Nachrichtensprecher an diesem Sonntagabend im Januar von 'Russenkälte' sprach, schaltete Henriette Winkler den Fernseher aus und griff mit zittriger Hand nach dem Bordeaux, der seit vierzig Jahren direkt aus Frankreich geliefert wurde.
Da war sie wieder, diese Unruhe, die sie Abend für Abend überfiel. Immer dieses Gefühl, etwas vergessen zu haben. Und die Angst, die sie nicht loswurde. Nacht für Nacht dieser grauenhafte Traum, in dem sie durch einen langen Tunnel lief und Menschen begegnete, die schon längst gestorben waren.
Um sich abzulenken, schlug sie energisch den Deckel des Flügels nach oben, lehnte den Stock daneben und setzte sich. Chopin, Polonaise fis-Moll, op. 44.
Sie schlug die erste Taste an, doch die Finger rutschten ab, so sehr zitterten ihre Hände. Sie sollte sich damit abfinden, dass sie kein Klavier mehr spielen konnte, und es nicht Abend für Abend versuchen. Wie sie sich damit abfinden musste, dass sie nicht mehr arbeiten konnte. Seit Monaten hatte sie das Haus nicht mehr verlassen, weil sie so unsicher auf den Beinen war, dass sie Angst hatte zu stürzen.
Und wie ihre zunehmende Hilflosigkeit sie erbitterte, machte sie auch die Stille, die im Haus herrschte, ungeduldig.
Sie erhob sich vom Klavierstuhl, um hinüber zum Regal zu gehen. Ihre Hand griff unwillkürlich nach der Aufnahme von Chopins Balladen von Artur Rubinstein aus dem Jahr 1960. Sie hatte sie jeden Abend gehört, wenn sie vom Büro nach Hause gekommen war. Sie mochte seine klaren, entschiedenen Melodien, den perfekten, pointierten Rhythmus. Doch dann entschied sie sich anders. Sie brauchte jetzt Stimmen, die den Raum füllten, die zu ihr sprachen, damit sie vergessen konnte.
Denise hatte ihr zu Weihnachten einen CD-Player geschenkt, den zu benutzen sie sich weigerte, obwohl die Musik reiner und klarer klang. Aber die Stimmen der Sänger waren ihr fremd. Sie brauchte die Callas. Die Callas war mit ihr gealtert. Keine junge, energiegeladene Stimme, oder die lebendige Schönheit einer Anna Netrebko konnte die Callas ersetzen. Sie brauchte das Rauschen der Schelllackplatten.
Schließlich entschied sie sich für Tannhäuser. Der Geigen wegen, und natürlich das Lied über den Abendstern, das zu der Januarnacht passte. Wagner hatte es immer geschafft, ihre Ängste zu bändigen. Vorsichtig nahm sie die Schallplatte aus der Hülle. Sie aufzulegen war eine Kunst, wenn die Hand zitterte. Die Nadel rutschte ab. Sie musste sich konzentrieren. Die linke Hand hielt die rechte fest, bis die Nadel auf der Platte auftraf.
Rauschen.
Die Ouvertüre.
Es war Viertel nach neun.
Sie griff nach dem Stock, ging hinüber zu dem Ledersessel und setzte sich. Das Holz im Kamin glühte nur noch. Als sie ein neues Scheit in die Glut warf, schoss eine kleine Flamme nach oben, griff jedoch nicht auf das Holz über. Ungeduldig stocherte sie mit dem Schürhaken in der Glut, bis es endlich Feuer fing. Eine Weile schaute sie zu, dann erhob sie sich nervös, um zu prüfen, ob die Terrassentür wirklich verschlossen war.
Durch die Scheibe sah Henriette den Vollmond, den Sieger über eine sternklare Nacht. Noch vor wenigen Tagen hatten der Nebel und die Regenfälle an den November erinnert. Jetzt kam verspätet der Frost. Das Außenthermometer zeigte bereits zwölf Grad unter null. Die Arme verschränkt, starrte sie auf den dunklen Garten. Wenn die Vorhersagen eintrafen, würden die Temperaturen weiter fallen. Auf minus achtzehn Grad.
Sie konnte froh sein, dass Denise Oliver geheiratet hatte, ohne den die Firma verloren wäre. Und es war gut, dass er den Namen Winkler angenommen hatte. Wenigstens noch einer in der Familie hatte Mut und Visionen für das Große. Er würde die Firma in das 21. Jahrhundert führen. Für seinen Sohn und ihren Urenkel Frederik.
Etwas riss Henriette aus den Gedanken.
Wie lange stand sie schon hier?
Hatte sie schon vorher gespürt, dass etwas anders war? Bevor sie das Geräusch hörte? War es überhaupt ein Geräusch gewesen? Oder etwas anderes? Hatte etwas anderes sie aus den Gedanken gerissen als Schritte im Kies?
Nein, bei dieser Kälte trieben sich keine Tiere im Garten herum.
Henriette wandte sich um, ging zum Flügel, holte die Brille und kehrte zur Terrassentür zurück.
Das Mondlicht war weiß. Wie gefroren. Sie konnte zunächst nichts erkennen. Ihre Hand griff zum Rollo. Doch bevor sie es herunterließ, bemerkte sie wieder etwas.
Eine Bewegung.
Dort hinten am Gartenhaus. Jemand stand davor. Nicht mehr als ein Schatten.
Nein, sie täuschte sich nicht. Jemand stand vor dem Gartenhaus und schaute zu ihr herüber.