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Die unter den Gräbern hausen - Horrorgeschichten

Robert E. Howard

 

Verlag Festa Verlag, 2014

ISBN 9783865522399 , 416 Seiten

Format ePUB, OL

Kopierschutz frei

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7,99 EUR


 

EINS


Jims erster Hinweis darauf, dass er besser auf die nächste U-Bahn gewartet hätte, war der Totenkopf, der den Zug steuerte.

Aber nein, das stimmte nicht, oder? Weil es schon viel früher anfing. Und zwar, als Jim das Foto in Händen hielt. Als er das Bild von seinen beiden Mädels ansah und sich wünschte, nicht mit ihnen gestritten zu haben.

Maddie sah ihre Mutter an, sah Carolyn an, und beide lächelten, als hätten sie nicht die geringste Sorge, als gäbe es keine Krankheiten, keine Rechnungen und nicht einmal einen gelegentlichen Engpass beim Nachschub ihrer geliebten gezuckerten Frühstücksflocken. Nur sie. Nur Liebe.

Keine Familienstreitereien. Keine zornigen Worte. Keine Missverständnisse. Keine Gewissensbisse.

Dann roch Jim es. Er roch es, bevor er es sah.

Der Geruch kam ihm süßlich vor. Aber nicht angenehm. Süßigkeiten waren, wie einem jedes Kind mit Halloween-Erfahrung sagen konnte, bis zu einem gewissen Punkt ganz toll. Aber danach fand man sie widerlich. Und tatsächlich wurde Jim sofort übel, als ihm der überwältigende Geruch von Kaugummi, Lutschern, Fruchtbonbons, Jelly Bellys, M&Ms und Hunderten anderen Süßigkeiten, die er nicht genau definieren konnte, in die Nase stieg.

»Hübsch«, sagte die Stimme.

Jim wandte sich in ihre Richtung. Er spürte, wie er angesichts der widerlichen Süße die Nase rümpfte und die Mundwinkel verzog. Er versuchte, es zu verhindern, schaffte es aber nicht. Manche Kämpfe ließen sich nicht gewinnen, manche Gefühle nicht verbergen, nicht einmal von jemandem, der damit so viel Übung hatte wie er.

»Wie bitte?«, fragte er. Und sein Mund war immer noch verkniffen, und zwar so stark, dass es sich weniger anhörte, als wollte er sich dafür entschuldigen, den Mann nicht verstanden zu haben, sondern mehr wie eine Drohung. Als sei er drauf und dran, dem Sprecher eine zu verpassen.

Vielleicht stimmte das sogar.

Auf den Reisen durch sein Leben hatte Jim festgestellt, dass es nur wenige gab, ein paar ganz wenige Pechvögel, die bei anderen sofort an Hass grenzende Abscheu hervorriefen. Und der bucklige Mann neben ihm mit den Frettchenaugen und der Halbglatze übte genau diese Wirkung auf ihn aus. Er trug einen Trenchcoat, die Berufskleidung der Pädophilen und Exhibitionisten überall auf der Welt, und Jim nahm unwillkürlich die eigenartigen Flecken darauf zur Kenntnis. Sie ließen den Mantel an manchen Stellen eher braun als beige aussehen. Der unscheinbare Mann wirkte wie 35, obwohl er die typische Halbglatze mit dem nachlässig über die Stirn gekämmten Resthaar eines Mannes um die 50 hatte. Bei manchen Leuten ließ sich das Alter schwer schätzen.

»Ich sagte, sie ist hübsch«, erklärte der Mann. Er aß irgendeine knallbunte Süßigkeit und hielt einen violetten, halb aufgegessenen Lutscher in der klebrig wirkenden Hand.

Jesses, dachte Jim, dieser Kerl bettelt förmlich um Diabetes.

Dann merkte er, dass der Kerl immer noch auf sein Foto starrte. Auf seine Mädels. Auf Carolyn.

Auf Maddie.

Maddie war erst sieben und das Bild ziemlich winzig. Der Blickrichtung des Mannes ließ sich nicht entnehmen, wen von den beiden er anglotzte. Carolyn war ein Hingucker, keine Frage. Deshalb würden sich die meisten normalen Kerle an der Mutter auf dem Bild aufgeilen.

Aber nicht dieser Kerl. Nein. Jims Nackenhaare sträubten sich. Er hatte Erfahrung mit solchen Typen. Er wusste Bescheid. Er konnte es einfach erkennen.

Er zog das Bild langsam von dem Mann weg. Langsam. Als habe er gerade festgestellt, dass er nackt und mit einem blutigen Fleischstück in der Hand vor einem hungrigen Löwen stand.

Die Augen des Mannes folgten der Aufnahme hungrig. Er stopfte sich den Lutscher in den Mund. »Hübsch«, murmelte er an der Süßigkeit vorbei und lutschte dann schmatzend weiter, während Jim das Bild in das kleine Tagebuch legte, das er immer bei sich trug. Er schob es in die Tasche. Eng, aber es passte hinein.

»Danke«, antwortete Jim. Er versuchte es auf eine Weise zu sagen, die so etwas besagte wie: »Nehmen Sie’s nicht persönlich, aber lassen Sie mich verdammt noch mal in Ruhe.«

Sein neuer Freund schien es nicht zu kapieren. Der Mann grinste mit Lippen, auf denen der Lutscher kadaverblaue Flecken hinterlassen hatte, und streckte dann die Hand aus. »Fred«, sagte er. »Fred Piper, aber alle nennen mich einfach nur Fred – Freddy genau genommen.«

Die Luft, aufgrund des durchdringenden Gestanks nach Süßigkeiten ohnehin kaum noch atembar, schien beinahe giftig zu sein. Jim bekam das Gefühl, er müsse jeden Moment umkippen. Nur die Vorstellung, dass Fred-Piper-Fred-Freddy-genau-genommen seine Taschen durchwühlte, um das Bild aus dem Tagebuch zu holen, hielt ihn davon ab, vor lauter Übelkeit ohnmächtig zu werden.

Es gelang ihm, sich auf den Beinen zu halten, aber darüber hinaus wusste er nicht, was er machen sollte.

Jim sah sich um. Es war noch früh, also standen kaum andere Leute bei ihnen auf dem Bahnsteig.

Am dichtesten stand eine umwerfend gut aussehende Frau mit dunklen Haaren. Sie hielt einen Rucksack aus Leder in der Hand und trug teure Kleidung und 400-Dollar-Stiefel mit hohen Absätzen. Sie kam ihm vor wie eine dieser sündhaft teuren Anwältinnen aus Manhattan, die als Gegenleistung für ihr Recht, sich aufzuspielen, eine kleine Wohnung und die Hoffnung, eines Tages in die Kanzlei einzusteigen, zu den unmöglichsten Zeiten arbeiteten. Und natürlich für diese Stiefel. Total unpraktisch im Winter, aber sie stanken nach Geld. Jim wusste, dass das manchen Leuten wichtig war.

Ein Stück weiter stand ein Schwarzer mit Stiernacken, dessen dunkler Pullover und Winterjacke nicht ganz die Gang-Tattoos verbergen konnten, die sich an seinem Hals hochschlängelten, bevor sie unter der dicken Wollmütze verschwanden, die den größten Teil seines Kopfs bedeckte. Ganz zu schweigen von den vier schwarzen, direkt unter dem rechten Auge eintätowierten Tränen. Von der Arbeit wusste Jim, was sie zu bedeuten hatten: eine Träne für jeden bestätigten »Abschuss«: das Äquivalent für ein »X« auf der Seite eines Jagdflugzeugs im Zweiten Weltkrieg.

Allerdings war der Krieg, in dem dieser Mann gekämpft hatte – oder immer noch kämpfte –, ein düsterer Krieg mit weitaus weniger Regeln als bei dem, den seine eigene Generation damals ausgetragen hatte. Ein Krieg mit Schüssen aus vorbeifahrenden Autos und Überfällen in dunklen Gassen, mit Vergewaltigungen der Cousinen, Schwestern und Frauen von Rivalen und mit Molotowcocktails, die in baufällige Wohnhäuser geschleudert wurden, in die sich die Feuerwehr nicht reintraute.

Nicht weit hinter dem Gangster stand ein weiterer Mann, noch größer und, wie Jim fand, irgendwie noch gefährlicher: ein Weißer mit kahl rasiertem Schädel. Er sah aus wie Ende 40 oder Anfang 50 und obwohl er nur ein weißes Oberhemd und eine leichte Anzugjacke trug, schien er vollkommen immun gegen die spätherbstliche Kälte zu sein, die sogar den Weg unter die Erde auf den U-Bahnsteig gefunden hatte. Seine Stirn glich einem breiten Klotz, sah aus wie aus einem außergewöhnlich übellaunigen Granitblock gemeißelt. Die Nase war krumm und platt, mehr als einmal gebrochen. Seine Augen blickten starr geradeaus, aber Jim spürte irgendwie, dass der Mann nicht nur jede Person am Gleis registrierte, sondern auch sagen konnte, wo sich die Ausgänge, die Telefone und alles andere von taktischer Bedeutung befanden.

Jim wusste, dass er von keinem von ihnen Hilfe erwarten konnte.

New Yorker waren an sich nicht die Arschlöcher, als die sie viele Komiker und Fernsehshows hinstellten. Jim fand die meisten von ihnen freundlich und hilfsbereit. Doch es gab Ausnahmen und keiner von den Leuten auf dem Bahnsteig vermittelte ihm dieses »Du brauchst nur zu rufen, dann bin ich für dich da«-Gefühl. Eher schon ein »Du brauchst nur zu rufen, dann helfe ich jedem, der dich gerade ausraubt, dich festzuhalten, und hinterher teilen wir das Geld zwischen uns auf.«

All diese Beobachtungen dauerten nur einen Moment. Weniger. Einen Sekundenbruchteil. Trotzdem fing Freddy an zu bibbern, als plane der Typ im Trenchcoat, sich auf Jim zu werfen, weil er ihm nicht schnell genug geantwortet hatte. Er hatte seinen Namen genannt und es war klar, dass er jetzt erwartete, als Gegenleistung Jims Namen – seinen vollen Namen – zu erfahren. Ganz zu schweigen von einem Gespräch über das »hübsche« Mädchen auf dem Bild, das jetzt sicher im Tagebuch in Jims Tasche verwahrt wurde.

Doch darauf wollte Jim sich nicht einlassen. Er hatte nicht die Absicht, sich auf ein Gespräch über irgendwas mit diesem unheimlichen Kerl einzulassen, schon gar nicht auf ein Gespräch über Carolyn oder Maddie. Ganz besonders nicht über Maddie.

Aber was sollte er denn sagen?

Er schaute sich noch einmal um.

Und dann fuhr Freddy zusammen. Er jaulte auf. Einen Moment glaubte Jim, der verrückte Kerl wolle sich auf ihn stürzen, doch dann begriff er, dass es ein Schmerzenslaut gewesen war. Im gleichen Augenblick sprang der Wieselgesichtige, der beim Jaulen seinen halb aufgegessenen Lutscher gehalten hatte, ein Stück in die Höhe. Er zuckte krampfhaft und sein Lutscher wurde in seinem Mund nach oben gedrückt. Diesmal schrie er richtig, als sich die scharfen Kanten des Lutschers in seinen weichen Gaumen bohrten.

»Au!«, brüllte er. Er spuckte aus und Lutscherstücke und Blut kamen heraus. Jim hätte fast gelächelt. Fast. Aber er tat es nicht. Er war immer noch viel zu erschrocken. Und jetzt auch noch...