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Am Leben - Notarzt im Rettungshubschrauber

Tino Lorenz

 

Verlag Heller Verlag, 2016

ISBN 9783929403510 , 280 Seiten

2. Auflage

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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6,99 EUR


 

3. Grenzfälle

Auf dem Rückflug zur Basis hänge ich meinen Gedanken nach.

Dort unten, am Rand der Dresdener Heide, bin ich zu Hause, in einem kleinen gemütlichen Haus mit großem Garten, unweit der von uns häufig benutzten Flugroute von Dresden in Richtung Bautzen gelegen. Vor einigen Jahren haben wir das Leben in der Hektik der Großstadt Dresden aufgegeben, sind hierher aufs Land gezogen, dem ländlichen Flair, der Ruhe und nicht zuletzt meinen großelterlichen Wurzeln folgend.

Östlich, am Flughafen Dresden-Klotzsche entlang, hinweg über Langebrück, einen Waldstreifen kreuzend, liegt es, umringt von hohen Kiefern und Birken, deren Blätterdach den Blick aus der Luft zum Haus nur eingeschränkt freigibt. Das ziegelrote Dach leuchtet markant zwischen dem Grün der Blätter, die Sonne spiegelt sich in der wetterfesten, typisch silberfarbenen US-Mailbox an der Gartentür. Eigentlich sollen diese Art von Briefkästen, der Aufstellanleitung folgend, mindestens fünfzig Meter vor dem Haus platziert werden, um quasi das Gefühl zu haben, zur Mailbox über die halbe »Farm« laufen zu müssen. Mir bleibt, mich mit siebenunddreißig Metern zufriedenzugeben. Auch kann ich von hier oben nicht erkennen, ob die zum Kasten gehörende rote »Hallo-die-Post-war-da-und-hat-was-mitgebracht-Fahne« aufrecht steht und von angekommenen Briefen und Zeitschriften kündet.

Zunächst sich an den Dächern der Nachbarhäuser in der kleinen Siedlung orientierend, kann man erst direkt im Überflug einen Blick erhaschen, erkennen, ob jemand zu Hause ist. Manchmal, am Wochenende, grüßen uns die in den Gärten sitzenden Nachbarn, die meist wissen, dass der »Doktor« da gerade vorüberfliegt, wieder mal im Dienst ist.

Dieses Stückchen Land ist mein Refugium, mein Zuhause – der Ort, an dem Seele und Verstand, Kopf und Bauch vereint sind. Hier empfinde ich wie nirgendwo anders das Gefühl von Heimat, von Geborgenheit und Ruhe.

Nirgendwo sonst erscheinen mir die Wiesen so grün, die endlosen Sonnenblumenfelder so leuchtend. Nirgendwo sonst genieße ich die Urgemütlichkeit bei einem Glas Wein am knisternden Kamin.

Leider bin ich viel zu selten hier und wenn, dann meist viel zu müde, um noch im Wald zu spazieren oder die wild wachsenden Früchte von allerlei Beerensorten und Pilze im Garten zu ernten. Dies erledigen dann oft die Vögel. Heruntergefallene Äpfel werden spätestens im Winter von hungrigen Rehen vertilgt.

Wie gut, dass es sich um ein Waldgrundstück handelt. Die meist viel zu hohe Wiese, wuchernden Sträucher, schief wachsenden Bäume – im Garten eines standardgerechten »Häusle-Besitzers« hierzulande undenkbar – deklariere ich, eher zur Beruhigung einiger weniger »Wehe-es-liegt-ein-Blatt-auf-meinem-Golfrasen«-Nachbarn als zu meiner eigenen, als »naturbelassen-urwüchsig«.

Die berühmt-berüchtigten »Chirurgendienste« lassen mich fast die Hälfte der Tage des Jahres in der Klinik übernachten. So bleibt in einem Leben auf der Überholspur und meist am Limit also wenig Zeit, über die Rätsel des Lebens nachzudenken. Ich bin überzeugt, lösen kann man sie eh nicht, maximal vielleicht buchstabieren, bestenfalls hinterfragen.

Dieses Fleckchen Erde hier benötige ich aber auch zum Auftanken, körperlich und mental. Dabei ist mein persönliches Tai Chi, meine fünf Tibeter, die Quelle der Kraft schier endloses Laufen im Wald, das Genießen der Stille, der Natur. Am liebsten jogge ich dann quer durch die Dresdener Heide, etwa acht Kilometer bis hin zu einem kleinen Stausee, nicht viel größer als ein herkömmlicher Dorfteich und ebenso von Entengrütze überwuchert. Hier am Ufer habe ich in meiner Kindheit oft mit dem Großvater gesessen, seinen Geschichten gelauscht, die Ehrfurcht vor jeder kreuchenden und fleuchenden Kreatur erlernt. Die uns Kinder über alles liebenden und natürlich über alle Maßen verwöhnenden Großeltern wohnten damals in einem kleinen beschaulichen Dorf am anderen Ende des Waldgebietes.

Es liegt der Himmelsrichtung nach ungefähr gegenüber von Liegau-Augustusbad, meinem jetzigen Wohnort. Von den Großeltern habe ich eine ganze Menge von der Liebe und dem Verständnis für die Natur, den Wald, die Tiere mitbekommen, wurde bereits in frühester Jugend inspiriert – man kann schon sagen infiziert –, mich später irgendwann auch in der Nähe anzusiedeln.

Seit einiger Zeit lebe ich nun schon allein im Haus, seit jenen Tagen, als wir entschieden, getrennt zu leben, weil es besser für jeden von uns sei – eine Trennung auf Raten. Von heute auf morgen war aus der Drei-Personen-Kleinfamilie eine Ein-Mann-Wirtschaft geworden, mit dürftigen Erfahrungen in der Hauswirtschaft und Haushaltsführung.

Im Kühlschrank ein kleines Glas Pesto und ein Stück knochenharter Parmesan – im Bad nur noch eine Zahnbürste im Becher.

»Leben ist das, was dir passiert, während du dabei bist, andere Pläne zu schmieden« – John Lennons Erkenntnis hat nun auch mir ihren tieferen Sinn eröffnet. Ich hätte gern darauf verzichtet.

Anfangs waren viele Selbstzweifel. Anflüge von Optimismus beherrschten mich nur, weil mir keine andere Wahl blieb – viel später erst, weil sich Anlässe dafür boten. Und wenn ich zweihundert Jahre alt werden sollte, was nach dem, was wir über die Biologie des Menschen wissen, nicht sehr wahrscheinlich sein dürfte, wird es mir immer ein Rätsel bleiben, woher ich die Zuversicht nahm, diese Zeit zu meistern.

Mein Singlehaushalt wurde im Laufe der Zeit durch zwei Kater vervollständigt – der dickleibige, weil übergewichtige Herbert und Karl-Heinz fanden hier Unterschlupf und entgingen somit dem ihnen vorbestimmten Ertrinkungstod unmittelbar nach ihrer Geburt. Ich erinnere mich auch heute noch mit einem breiten Grinsen daran, wie ich mit einem meiner damaligen chirurgischen Kollegen die Kastration von Herbert plante, deren Verwirklichung an einem lauschigen Wochenende vollzogen werden sollte.

Wir hatten uns intensiv belesen, befreundete Tierärzte konsultiert, eine richtige kleine Operationseinheit hergerichtet. OP-Tücher, Einmalskalpelle, Nahtmaterial, Tupfer, Klemmen, Desinfektionsmittel – die Hobbywerkstatt im Keller war zum Emergency-Room mutiert, die errechnete Dosis des Narkosemittels schon auf zwei Spritzen aufgezogen, Herbert eingefangen und in der Katzenkiste, die ursprünglich mal ein alter Wäschekorb war, verstaut. Doch als er uns so unschuldig und treuherzig anblickte, erwachte jenes Verständnis in uns, welches sicherlich nur Männer aufbringen können, im Wissen um die Unumkehrbarkeit der »Verhältnisse« nach diesem kleinen und doch so bedeutungsvollen chirurgischen Eingriff.

Also ließen wir ihn wieder laufen und leerten stattdessen eine Flasche (oder zwei?) vom besten chilenischen Cabernet-Sauvignon, philosophierten über allerlei medizinische und paramedizinische Dinge, die Zufälligkeiten des Lebens, zumindest anfänglich.

Im Ergebnis wohnen in dem Haus da unten also nach wie vor drei richtige Männer!

Anfangs ging es ziemlich drunter und drüber, behaupten jedenfalls die Außenstehenden.

Haus und Garten bedurften der Hilfe, all derer sie nur habhaft werden konnten.

Die so erbarmungslose Entropie, die Zunahme der Unordnung von »Teilchen«, folgte ihren naturwissenschaftlichen Gesetzmäßigkeiten.

»Wie lange willst du das noch durchhalten, Junge?«

Eine besorgte Mutter kann manchmal auch anstrengend sein; nur gut, dass es so ist.

»Bis ich erwachsen bin.«

Eltern und Freunde waren gefordert, halfen beim Wäschewaschen – ich verfärbte ganze Waschmaschinenladungen und bald gab es keine weißen Socken mehr, nur gelbe oder hellblaue! – unterstützten mich beim Bügeln, beseitigten zur »Wollmausgröße« angewachsene Staubfussel. Mir fehlte damals einfach der mittlerweile stets geschärfte und unbestechliche »Hausmannsblick«.

Mein Vater entdeckte seine bisher unausgelebte Liebe zur Haustechnik, postulierte sie von nun an. Alle Nachbarn der Umgebung lernten dank seiner die Vorzüge eines Dampfreinigers kennen, nicht wenige legten sich selbst so ein »Wundergerät« zu und reihten sich von nun an in seine Gilde ein. An »seinen« verchromten Dampfreiniger lässt er bis heute keinen ran.

»Den kann nur so ein Fachmann wie ich richtig bedienen. Da ist so viel zu beachten!«, behauptet er und wir bestärken ihn natürlich in dieser Annahme. So be- und verdampft er vom Keller bis zum Dachgeschoss alles, was halbwegs wasserresistent ist und auch nur den Hauch einer Staubauflagerung aufweist, währenddessen meine Mutter in der Küche die köstlichsten Speisen zubereitet, große Teile davon für mich bevorratend einfrostet und zwischendurch ihre bis dato selten...