dummies
 

Suchen und Finden

Titel

Autor/Verlag

Inhaltsverzeichnis

Nur ebooks mit Firmenlizenz anzeigen:

 

Schiffsmeldungen - Roman

Annie Proulx

 

Verlag btb, 2009

ISBN 9783641015213 , 608 Seiten

Format ePUB, OL

Kopierschutz Wasserzeichen

Geräte

9,99 EUR

  • Tödliche Absicht - Ein Jack-Reacher-Roman
    Die 7 Sünden - Women's Murder Club - - Thriller
    Sein letzter Fall - Roman
    Und Piccadilly Circus liegt nicht in Kumla - Roman
    Sniper - Ein Jack-Reacher-Roman
    Der Banknotenfälscher - Roman
    Im Namen der Toten - Inspector Rebus 16 - Kriminalroman
    Kein Sterbenswort - Roman
  • Der Tod wird euch finden - Al-Qaida und der Weg zum 11. September - Ein SPIEGEL-Buch
    So soll er sterben - Inspector Rebus 15 - Kriminalroman
    Die Schwalbe, die Katze, die Rose und der Tod - Roman

     

     

     

     

     

     

 

 

1
Quoyle
Quoyle: Taurolle
»Eine Flämische Scheibe ist eine spiralige Rolle in einer einzigen Ebene. Sie wird in dieser Art auf Deck gemacht, so daß man, wenn nötig, drüber gehen kann.«
 
DAS ASHLEY-BUCH DER KNOTEN
Im folgenden ein Bericht über einige Jahre im Leben von Quoyle, geboren in Brooklyn und aufgewachsen in einem Sammelsurium öder Städte im Norden des Staates New York.
Übersät mit Quaddeln, die Eingeweide in Aufruhr vor Gasen und Krämpfen, überlebte er die Kindheit; an der Universität überspielte er, die Hand vorm Kinn, Qualen mit Lächeln und Schweigen. Stolperte durch seine Zwanziger in die Dreißiger, lernte seine Gefühle von seinem Leben zu trennen, rechnete auf nichts. Er aß ungeheuer viel, mochte Eisbein, Butterkartoffeln.
Seine Tätigkeiten: Auffüller von Süßigkeitenautomaten, Nachtverkäufer in einem rund um die Uhr geöffneten Laden, drittklassiger Reporter. Mit sechsunddreißig, verwitwet, voll Kummer und glückloser Liebe, steuerte Quoyle davon nach Neufundland, zu dem Felsen, der seine Vorfahren gezeugt hatte, an einen Ort, wo er nie gewesen war noch jemals hatte sein wollen.
Ein Ort am Wasser. Quoyle hatte Angst vor Wasser, konnte nicht schwimmen. Immer wieder hatte sein Vater seinen Klammergriff gelöst und ihn in Becken, Bäche, Seen und Gischt geworfen. Quoyle kannte den Geschmack von Brackwasser und Wasserpest.
In der Unfähigkeit seines jüngsten Sohnes, schwimmen zu lernen, sah der Vater anderweitige Unfähigkeiten sich ausbreiten wie eine Explosion ansteckender Zellen – Unfähigkeit, deutlich zu sprechen, Unfähigkeit, gerade zu sitzen, Unfähigkeit, morgens aufzustehen, Unfähigkeit, sich durchzusetzen, Unfähigkeit, Ehrgeiz und Talent zu entwickeln, ja zu allem. Seine eigene Unfähigkeit.
Quoyle schlurfte, war einen Kopf größer als die Kinder um ihn herum, war weich. Er wußte es. »Ach, du Trampel«, sagte der Vater. Aber selber kein Pygmäe. Und Bruder Dick, Vaters Liebling, tat, als würde er sich erbrechen, wenn Quoyle ins Zimmer kam, zischte: »Speckarsch, Rotzgesicht, Ekelschwein, Warzensau, Blödian, Stinkbombe, Furztrog, Fettsack«, boxte und trat ihn, bis Quoyle sich, Hände über dem Kopf, schniefend, auf dem Linoleum krümmte. Alles kam von Quoyles schlimmster Unfähigkeit, der Unfähigkeit, normal auszusehen.
Ein großer feuchter Laib von Leib. Mit sechs wog er siebzig Pfund. Mit sechzehn war er unter einem Gehäuse aus Fleisch begraben. Der Kopf wie eine Melone, kein Hals, rötliche, nach hinten gewellte Haare. Gesichtszüge so verkniffen wie sich berührende Fingerspitzen einer Hand. Augen wie Plexiglas. Das monströse Kinn, ein grotesker Vorsprung, der aus der unteren Gesichtshälfte ragte.
Im Augenblick seiner Zeugung hatte irgendein anomales Gen gezündet, wie manchmal ein einzelner Funke aus mit Asche belegten Kohlen sprüht, hatte ihm das Kinn eines Riesen mitgegeben. Als Kind erfand er Strategien, um starrende Blicke abzulenken; ein Lächeln, gesenkter Blick, die rechte Hand schoß nach oben, um das Kinn zuzudecken.
Sein frühester Eindruck von sich selbst war eine ferne Gestalt: Dort im Vordergrund stand seine Familie; hier an der äußersten Sichtgrenze stand er. Bis vierzehn hegte er die Vorstellung, daß er in der falschen Familie gelandet war, daß sich irgendwo seine echten Verwandten, mit dem Wechselbalg der Quoyles geschlagen, nach ihm sehnten. Dann, als er in einer Schachtel mit Schnappschüssen von einem Ausflug wühlte, fand er Fotos von seinem Vater neben seinen Geschwistern an einer Reling. Ein Mädchen, etwas abseits von den anderen, schaute aufs Meer hinaus, die Augen zusammengekniffen, als könnte sie tausend Meilen im Süden den Bestimmungshafen sehen. Quoyle erkannte sich in Haaren, Armen und Beinen aller wieder. Dieser verschlagen aussehende Klotz im eingelaufenen Pullover, die Hand am Schritt – sein Vater. Mit blauem Stift auf die Rückseite gekritzelt: »Abschied von Zuhause, 1946«.
Auf der Universität besuchte er Seminare, die er nicht begriff, schleppte sich hin und wieder fort, ohne mit jemandem zu reden, fuhr am Wochenende zu Spott und Kritik nach Hause. Schließlich ging er von der Universität ab und suchte sich Arbeit, behielt die Hand über dem Kinn.
Nichts war dem einsamen Quoyle klar. Seine Gedanken stampften wie das unförmige Ding, das die alten Seeleute, wenn sie ins Halblicht der Arktis trieben, Seelunge nannten; wogendes Treibeis unter Nebel, wo Luft und Wasser verschwammen, wo Flüssiges fest war, wo Festes sich auflöste, wo der Himmel gefror und Licht und Dunkel ineinander-quollen.
 
Ins Zeitungsgewerbe verschlug es ihn, als er gemütlich bei einem fettigen Würstchen und einem Stück Brot saß. Das Brot war gut, ohne Hefe hergestellt, nur aus Sauerteig gegangen und in Partridges im Freien stehenden Ofen gebacken. Partridges Hof roch nach verbranntem Maismehl, gemähtem Gras, Brotdampf.
Das Würstchen, das Brot, der Wein, Partridges Gequassel. Deswegen verpaßte er die Gelegenheit, eine Stelle zu bekommen, die seinen Mund vielleicht an die stramme Brust der Bürokratie gelegt hätte. Sein Vater, der sich aus eigener Kraft zum Gipfel des Einkaufsleiters einer Supermarktkette hoch-gestrampelt hatte, hielt ihm eine mit seiner eigenen Geschichte bebilderte Predigt: »Als ich hier ankam, hab’ ich Schubkarren voll Sand für den Maurer rumfahren müssen.« Und so weiter. Der Vater bewunderte die Geheimnisse der Geschäftswelt – Männer, die Papiere unterschrieben, welche sie mit ihrem linken Arm abschirmten, Konferenzen hinter undurchsichtigem Glas, verschlossene Aktenkoffer.
Aber Partridge, Öl sabbernd, meinte: »Ach, scheiß drauf.« Schnitt dunkelrote Tomaten auf. Wechselte das Thema zu Schilderungen von Orten, an denen er gewesen war: Strabane, South Amboy, Clark Fork. In Clark Fork hatte er mit einem Mann mit verkrümmter Nasenscheidewand Pool gespielt. Der trug Känguruhlederhandschuhe. Quoyle auf dem Gartenstuhl hörte zu, deckte sein Kinn mit der Hand zu. Auf seinem Anzug für das Vorstellungsgespräch war Olivenöl, auf seiner karierten Krawatte ein Tomatenkern.
 
Quoyle und Partridge lernten sich in einem Waschsalon in Mockingburg, New York, kennen. Quoyle war über seine Zeitung gebeugt und umkringelte Stellenanzeigen unter »Aushilfe gesucht«, während sich seine Hemden in Übergröße drehten. Partridge bemerkte, der Stellenmarkt sei dicht. Ja, meinte Quoyle, das sei er. Partridge gab eine Meinung über die Dürre von sich, Quoyle nickte. Partridge brachte das Gespräch auf die Schließung der Sauerkrautfabrik. Quoyle zerrte seine Hemden aus dem Trockner; mit einem Regen aus heißen Münzen und Kugelschreibern fielen sie zu Boden. Die Hemden waren voller Tintenflecken.
»Im Eimer«, sagte Quoyle.
»Nöö«, meinte Partridge. »Reiben Sie die Tinte mit heißer Salzlösung und Talkumpuder ein. Dann waschen Sie die Hemden noch mal, schütten einen Becher Bleichmittel dazu.«
Quoyle sagte, er wolle es versuchen. Seine Stimme zitterte. Partridge war erstaunt, die farblosen Augen des schwergewichtigen Mannes groß vor Tränen zu sehen. Denn Quoyle war unfähig zum Einsamsein, sehnte sich nach Geselligkeit, nach der Erfahrung, daß seine Gesellschaft für andere ein Vergnügen war.
Die Trockner ächzten.
»Hey, kommen Sie doch abends mal vorbei«, sagte Partridge und schrieb seine Adresse und Telefonnummer schräg auf die Rückseite eines verknitterten Kassenzettels. Auch er hatte nicht viele Freunde.
Am nächsten Abend war Quoyle da, Papiertüten unter dem Arm. Die Fassade von Partridges Haus, die leere Straße lagen in bernsteinfarbenes Licht getaucht. Eine goldene Stunde. In den Tüten eine Packung importierter schwedischer Cracker, Rot-, Rosé- und Weißwein, in Folie verpackte Dreiecke ausländischer Käsesorten. Auf der anderen Seite von Partridges Tür irgendeine heiße, hüpfende Musik, die Quoyle erregte.
 
Sie waren eine Zeitlang Freunde – Quoyle, Partridge und Mercalia. Die Unterschiede: Partridge, schwarz, klein, ein ruheloser Wanderer über dem Abhang des Lebens, redete die ganze Nacht; Mercalia, Partridges zweite Frau und von der Farbe einer braunen Feder auf dunklem Wasser, scharfer Verstand; Quoyle, beleibt, weiß, stolperte herum, ziellos.
Partridge blickte über die Gegenwart hinaus, hatte flüchtige Eingebungen über zukünftige Ereignisse, als würden lose Gehirndrähte kurzgeschlossen. Er war mit einer Glückshaube auf die Welt gekommen; sah mit drei einen Kugelblitz eine Feuerleiter hinunterhüpfen; träumte in der Nacht, bevor sein Bruder von Hornissen gestochen wurde, von Gurken. Er war sich seines Glücks gewiß. Er konnte perfekte Rauchringe blasen. Die Seidenschwänze machten auf...