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Die Hebamme - Roman

Kerstin Cantz

 

Verlag Diana Verlag, 2009

ISBN 9783641012748 , 416 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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4,99 EUR


 

Zwei
FRÜHLINGSMOND
Als Elgin das Bett verließ, spürte sie die Bewegung ihrer gelösten Haare auf der bloßen Haut, bis hinunter zu den Hüften.
Die Kerzen waren längst heruntergebrannt, und sie musste mit dem verblassenden Mondlicht auskommen. Sie setzte die Füße vorsichtig auf, obwohl sie wusste, dass die dicken Eichendielen ihre Schritte schlucken würden.
Dunkle Möbel umgaben sie wie ein Kreis alter Freunde, wobei zu bemerken war, dass es in ihrem Leben kaum Menschen gab, deren Nähe sie zuließ. Das Haus in der Hofstatt war die Hinterlassenschaft ihrer Mutter, mit der sich fortsetzte, was durch die ungewöhnliche Erziehung ihres Vater geprägt worden war: ein Leben, das sich von keinem anderen abhängig machen musste. Als Elgin das kleine Haus vor Jahren übernahm, hatte sie es nur mit dem Nötigsten versehen. Der einzige Luxus, den sie sich gestattete, waren Vorhänge aus weißem Musselin. Wenn sie sich – anders als heute – nachts bei geöffneten Fenstern aufbauschten, konnte es ihr scheinen, als wäre jemand mit ihr wach.
In den Nächten, die sie nicht am Bett einer Frau verbrachte, hätte sie nackte Fenster empfunden wie blicklose Augen, die etwas von ihr fortnahmen und im Nichts verschwinden ließen. Diese dunkle Leere bot verzagten Gedanken Platz, mit denen sich zu befassen Elgin als Zeitverschwendung betrachtete.
Aus einem ähnlichen Grund hatte sie einen wuchtigen Spiegel entfernen lassen, den sie bei ihrem Einzug in diesem Zimmer vorfand. Sie ersetzte ihn durch einen Tisch, an dem sie ihre Bücher ausbreiten konnte.
Das letzte Mal, dass Elgin sich eingehend in einem Spiegel betrachtet hatte, lag daher Jahre zurück. Ihre Brüste waren weder groß noch klein, eine Taille konnte sie kaum vorweisen, und insgesamt hatten die Konturen ihres Körpers etwas Sachliches. Es war lange her, dass Elgin meinte konstatieren zu müssen, nicht besonders hübsch zu sein. Frei von Kummer hatte sie es bei diesem Urteil belassen. Die Mutter war zu früh aus ihrem Leben verschwunden, als dass sie ihrer Tochter zu einem gnädigeren Umgang mit sich selbst hätte raten können.
Die Kacheln des Ofens waren noch heiß. Obwohl Elgin zum Schlafen frische Luft bevorzugte, ließ sie in Nächten wie dieser Marthe noch einmal Holz nachlegen und einen Topf mit heißem Wasser hinter die obere Tür des Ofens stellen, bevor sie sie schlafen schickte.
In wenigen Wochen würde es warm werden, der Ofen in ihrem Zimmer unbeheizt bleiben, und sie musste sich etwas anderes einfallen lassen, um in tiefer Nacht an heißes Wasser zu kommen.
Ob Marthe sich jemals Gedanken machte, wenn diese Anordnungen kamen? Ihr war nichts anzumerken, das schätzte Elgin an ihrer alten Magd. Sie hatte ihr die Führung des Haushalts von Anbeginn bereitwillig überlassen, und Marthe dankte es ihr mit Verschwiegenheit.
Auf dem Schemel neben dem Ofen stand die Waschschüssel bereit, in die Elgin ein Leinensäckchen mit einer Mischung aus Efeublättern, Benediktinenkraut und Haselwurz legte. Sie hatte sich angewöhnt, eine kleine Anzahl dieser Säckchen vorzubereiten und sie in einem Schrank zwischen ihrer Wäsche aufzubewahren. Hier in ihrem Zimmer, wo sie schlief, las und seit einem der letzten warmen Oktobertage des vergangenen Jahres zuweilen auch andere Dinge tat. Dinge, die ihr mehr Vergnügen bereiteten, als sie es erwartet hätte, und die ihr gefährlich werden konnten.
Mit einem Tuch ergriff sie den Topf, zog ihn aus dem Ofen und ließ das Wasser vorsichtig in die Schüssel fließen. Sie spreizte die Beine über dem Schemel, ihr Geschlecht empfing den heißen Dampf, und als sie die Augen schloss, kamen die Zweifel. Sie musste sich immer wieder selbst überprüfen. Sie hatte in wissenschaftlichen Schriften gelesen, in jahrhundertealten Kräuterbüchern nach Antworten gesucht. Sie war auf das Buch der Siegemundin gestoßen, Chur-Brandenburgische Hofwehemutter, eine der wenigen Hebammen, die schriftliche Zeugnisse hinterlassen hatten. Es hatte Elgin angeregt und einen Wunsch geweckt.
Dass in dem Werk der Wehemutter bestimmte Dinge nicht zur Sprache kamen, hatte sie dagegen kaum gewundert. Eine Hebamme war angewiesen, sich in aller Ausschließlichkeit exakt mit dem Gegenteil von dem zu beschäftigen, über das sie, Elgin, etwas herauszufinden gedachte: wie eine Empfängnis zu verhindern war. Im Allgemeinen also wurde es als eine Sünde betrachtet, was sie tat.
Doch hinsichtlich dieses besonderen Vorgangs so wenig zu wissen, war ihr unerträglich. Es konnte sie nicht einmal der Gedanke besänftigen, dass selbst den Gelehrten, den Anatomen und Naturwissenschaftlern, die genauen Vorgänge der Empfängnis bislang noch immer ein Rätsel waren.
Sie prüfte die Temperatur des Wassers und wusch sich mit der üblichen Gründlichkeit und stillen Bewegungen. Nachdem sie sich abgetrocknet hatte, tastete sie auf dem Boden der Schüssel nach dem Kräutersäckchen und drückte es aus. Sie öffnete den Riegel des Ofentürchens und warf es in die Glut. Es gab ein Zischen von sich, und wie immer in diesem Moment schaute Elgin zum Bett hinüber. Wie immer regte sich nichts hinter den Vorhängen.
Der Tiefschlaf war das Berechenbarste an ihm. Sein Kuss, mit dem er den Schweiß in ihrem Nacken aufsammelte, war stets die Verabschiedung in einen kurzen, todesähnlichen Schlaf. Ihr war sehr daran gelegen, denn sie wusste diese Zeit zu nutzen.
Elgin griff nach ihrem Nachtmantel, der neben dem Ofen bereitlag, und schlang ihn um sich. Er war so grün, wie sie sich das Meer vorstellte, und in seiner Tasche berührten ihre Finger das Mittel, dem sie die entscheidende Wirkung zusprach: Wurzeln von Malve, Myrrhe und Poleiminze, die für ihr monatliches Geblüt sorgen würden.
Sie öffnete eine kleine Flasche mit Lilienöl, eine Kostbarkeit, die Bertram Fessler in seiner Apotheke eigens für sie und eine vollkommen andere Verwendung hatte herstellen lassen.
Sie vermisste diesen Mann schmerzlich, und zuweilen hatte sie ein schlechtes Gewissen. Er war ein großmütiger Mensch, doch vermutlich hätte es selbst ihm höchstes Unbehagen bereitet, wenn er gewusst hätte, was nur wenige Wochen vor seinem Tod begann. Einem schnellen Tod, den niemand ahnen konnte und den seine Witwe ihm vorwarf. Den Typhus hatte Bertram Fessler mit all seinem Wissen und auch mithilfe der Ärzte, von denen in der Universitätsstadt hinreichend zur Verfügung standen, nicht besiegen können. Elgin hoffte inständig, es würde die ewige Ruhe des Apothekers nicht stören, dass sie seinen Sohn in ihr Bett ließ.
Inzwischen hatte das Öl die zusammengebundenen Pflanzenwurzeln getränkt, und Elgin stellte ihren rechten Fuß auf dem Schemel ab. Die Rezeptur des kleinen Gegenstands, der mühelos in ihren Körper glitt und den sie erst am Abend des kommenden Tages wieder entfernen würde, stammte aus dem Mittelalter. Bis jetzt hatte sie keinen Grund, an seiner Zuverlässigkeit zu zweifeln. Mitunter ließ es sie sogar vergessen, dass sie sich zum Gegenstand eines gefährlichen Experiments machte.
Elgin drehte die Öllampe auf und ließ sich an ihrem Arbeitstisch nieder, auf dem es keinen freien Platz mehr gab. Im unruhig flackernden Licht griff sie nach dem Tintenfässchen und brachte es in Sicherheit, bevor es mit der nächsten Bewegung hinunterfallen würde, wie es schon oft genug geschehen war. Dunkle Flecken auf dem Holzboden zeugten davon. Sie griff nach der Feder und überflog ihre letzten Notizen.
Die natürliche Geburt ist eine Austreibung des reifen Fötus durch Zusammenziehungen des Uterus. Was aber ist die Ursache für seine unwillkürliche Tätigkeit? Sind es die starken Bewegungen des Kindes, das den Ort verlassen will, in dem es eingeschlossen ist? Oder versetzt die bloße Berührung der äußeren Mündung durch die Membranen das Organ in Aufregung?
Sie unterbrach sich. Ihr Blick wanderte hinüber zum Bett.
Nie hatte sie es für möglich gehalten – nein, sie hatte sich niemals auch nur Gedanken darüber gemacht -, dass sie für das geschaffen sein könnte, was dieser Mann, der dort drüben lag, bei ihr auslöste. In welch Gegensatz die jungenhaften Gesichtszüge, die er im Schlaf nicht verbergen konnte, zu seinem kundigen Körper standen.
Die hellbraunen Locken, die sonst auf seine Schultern fielen oder aber über ihre geschlossenen Augen strichen, lagen jetzt feucht und strähnig über Stirn und Wangen. Sein Mund war leicht geöffnet. Er schien kaum zu atmen.
Es hatte sie beeindruckt, wie sicher seine Hände waren, als er sie das erste Mal berührte. Dass er es wagte. Erstaunt hatte sie es zugelassen.
Natürlich waren ihr seine Blicke nicht verborgen geblieben, wenn sie in der Apotheke ihre Besorgungen machte. Es hatte sie amüsiert. Sie hatte es schon einige Male erlebt, dass Männer es sehr verstören konnte, sobald sie begriffen, dass sie über Gelehrtenwissen verfügte. Sie brüstete sich niemals damit, aber sie hielt es auch nicht zurück.
Anders also hatte sie seine Blicke nicht gedeutet. Sie war nicht einmal misstrauisch geworden, als er sich in ihr Haus Eintritt verschaffte unter dem Vorwand, ihr ein Buch persönlich übergeben zu wollen, das der alte Fessler aus seiner Bibliothek für sie herausgesucht hatte.
Ohne Umschweife hatte er sich ihr erklärt. Sie hatte gelacht. Keinesfalls, um ihn zu verletzen, derlei war ihr vollkommen fremd. Das Lachen allerdings war ihr sofort vergangen, als er um ihre Mitte griff und eine seiner Hände auf ihren Rücken legte. Es ging eine unglaubliche Hitze von ihm aus und ein sanfter Druck, mit dem er sie an sich zog. Er umfasste ihren Nacken und küsste sie.
Sie hatte ihn nicht von sich...