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Begabungen und Talente

Ulrich Trautwein, Marcus Hasselhorn

 

Verlag Hogrefe Verlag GmbH & Co. KG, 2017

ISBN 9783840928468 , 285 Seiten

Format PDF, OL

Kopierschutz Wasserzeichen

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35,99 EUR


 

Kapitel 2 Zur Bedeutung der schulischen Organisation und der Kompetenzen von Lehrkräften für die Talentidentifikation und -förderung (S. 17-18)

Anne Sliwka und Thuy Loan Nguyen

Zusammenfassung

Im Spitzensport und vielen Großunternehmen findet die Talentidentifikation und -förderung systematisch statt und wird als Katalysator zur Höchstleistung angesehen. Was im Sport und auch in Unternehmen mit tausenden von Mitarbeitern mittlerweile als Selbstverständlichkeit erachtet wird, steckt im Bildungsbereich noch in den Kinderschuhen. Jedoch ist die Talentidentifikation und -förderung auch im Bildungsbereich möglich, sofern ein Bewusstsein für ihre hohe Relevanz geschaffen wird, Lehrkräfte systematisch ausgebildet und die hierfür notwendigen schulischen Strukturen geschaffen werden. In diesem Beitrag wird darauf eingegangen, welche Bedingungsfaktoren zu einer qualitativ hochwertigen Talentidentifikation und -förderung notwendig sind. Beginnend mit einer historischen Betrachtung über die Begabten- und Hochbegabtenforschung wird sodann ihr aktueller Stand diskutiert. Schließlich werden die wichtigsten Eckpfeiler der Lehrerausbildung und der schulischen Organisationsstrukturen beleuchtet, die zur flächendeckenden Implementierung der Talentidentifikation und -förderung dienlich sind und ihre Implementation in den schulischen Alltag kritisch reflektiert.

2.1 Historische Betrachtung der Talentidentifikation und -förderung

Lange Zeit galt die systematische und zielgerichtete Identifikation und Förderung von Talenten zumindest im schulpädagogischen Diskurs nicht zu den Kernzielen deutschsprachiger Bildungssysteme. Der Auftrag der schulischen Bildung lag vielmehr in der Vermittlung eines allgemeinen, kulturell geprägten Kanons an Schlüsselkompetenzen und Wissensinhalten, wonach die schulinstitutionellen Rahmenbedingungen ausgerichtet wurden. Da weder die Ziele noch die Rahmenbedingungen des Schulsystems auf die Talentidentifikation und -förderung ausgerichtet waren, oblag es letztlich der individuellen Lehrkraft und damit einer gewissen Willkür, ob die Förderung von Talenten überhaupt als professionelle Aufgabe verstanden und umgesetzt wurde.

sich in Deutschland jedoch ein zunehmender Perspektivenwechsel zugunsten individualisierter Förderkonzepte ab. An den Universitäten im deutschsprachigen Raum wurden spezielle Forschungsschwerpunkte (meist im Kontext der Psychologie) für die Begabtenförderung eingerichtet. Gleichzeitig entstanden spezialisierte Beratungsstellen, Testzentren sowie schulische und außerschulische Förderprogramme für Kinder und Jugendliche, die in der Regel mit Hilfe von psychologisch-diagnostischen Verfahren (vor allem Intelligenz- und Entwicklungstests) als besonders begabt eingestuft wurden. Ausgewählte Schulen begannen besondere Förderangebote (wie zum Beispiel spezielle Klassen für Hochbegabte) einzurichten, einzelne Bundesländer gründeten Landesinternate zur Förderung hochbegabter Schüler, Akademien für Schüler boten Enrichment-Angebote außerhalb der Schule und in den Ferien an, und die Möglichkeit zum Frühstudium an Universitäten wurde systematisch ausgebaut.

Tatsächlich wurde in Deutschland erst mit dem Ende des 20. Jahrhunderts der bedeutende Wert der Talentidentifikation und -förderung für das gesellschaftliche Entwicklungs- und Innovationspotenzial flächendeckend in der Forschung anerkannt. Diese Entwicklung ist vornehmlich aufgrund der konvergierenden Forschungsergebnisse der empirischen Bildungsforschung einerseits und der pädagogisch- psychologischen Lehr-Lern-Forschung andererseits begründet. Erstens wuchs im Nachklang einflussreicher und methodisch aufwendiger international vergleichender Schulleistungsstudien wie TIMSS und PISA die Erkenntnis, dass das lange Zeit vorherrschende Paradigma der vergleichsweise homogenen Lerngruppe (Sliwka, 2010) verworfen werden musste. Insbesondere zeigen diese Studien, dass alleine schon aufgrund der unterschiedlichen Lernvoraussetzungen und diversen sozialen Verzerrungseffekte eine trennscharfe Auswahl der Schüler in homogene Leistungsgruppen nicht möglich ist. Folglich ist auch die praktische Implikation, die aus dem Paradigma der homogenen Lerngruppen folgt, namentlich dass dasselbe Lernprogramm und Lerntempo für alle Schüler einer Schulform und -stufe angemessen sei, nicht mehr haltbar. Zweitens betonten Vertreter der pädagogisch-psychologischen Lehr-Lern-Forschung, dass Schüler besser als Individuen und weniger als Mitglieder einer homogenen Gruppe angesehen werden sollten. Mit dem zunehmenden Verständnis von Lernen als (sozial) konstruktivistischen Prozess, der entscheidend von den inter- und intraindividuellen kognitiven, motivationalen sowie emotionalen Lernvoraussetzungen des Schülers beeinflusst wird (Boekaerts, 2010; Ritchotte, Suhr, Alfurayh & Graefe, 2015), hat die Talentidentifikation und -förderung schließlich einen festen Platz in der Schulpädagogik und der institutionellen Schul- und Schulsystementwicklung eingenommen.