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Was man von hier aus sehen kann - Roman

Mariana Leky

 

Verlag DuMont Buchverlag , 2017

ISBN 9783832189624 , 322 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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9,99 EUR


 

Weide, Weide

Als Selma sagte, sie habe in der Nacht von einem Okapi geträumt, waren wir sicher, dass einer von uns sterben musste, und zwar innerhalb der nächsten vierundzwanzig Stunden. Das stimmte beinahe. Es waren neunundzwanzig Stunden. Der Tod trat etwas verspätet ein, und das buchstäblich: Er kam durch die Tür. Vielleicht verspätete er sich, weil er lange gezögert hatte, über den letzten Augenblick hinaus.

Selma hatte in ihrem Leben dreimal von einem Okapi geträumt, und jedes Mal war danach jemand gestorben, deshalb waren wir überzeugt, dass der Traum von einem Okapi und der Tod unbedingt miteinander verbunden waren. Unser Verstand funktioniert so. Er kann innerhalb kürzester Zeit dafür sorgen, dass die einander abwegigsten Dinge fest zusammengehören. Kaffeekannen und Schnürsenkel beispielsweise, oder Pfandflaschen und Tannenbäume.

Der Verstand des Optikers war besonders gut darin. Man sagte dem Optiker zwei Sachen, die nicht im Geringsten zusammengehörten, und er stellte aus dem Stand eine enge Verwandtschaft her. Und jetzt war es ausgerechnet der Optiker, der behauptete, dass der neuerliche Traum vom Okapi ganz gewiss niemandem den Tod brächte, dass der Tod und Selmas Traum vollkommen zusammenhangslos seien. Aber wir wussten, dass der Optiker es eigentlich auch glaubte. Vor allem der Optiker.

Auch mein Vater sagte, dass das hanebüchener Unfug sei und unser Irrglaube vor allem daher käme, dass wir zu wenig Welt in unsere Leben hereinließen. Das sagte er immer: »Ihr müsst mehr Welt hereinlassen.«

Er sagte es entschieden und vor allem zu Selma, im Vorhinein.

Im Nachhinein sagte er das nur noch selten.

Das Okapi ist ein abwegiges Tier, viel abwegiger als der Tod, und es sieht vollkommen zusammenhangslos aus mit seinen Zebraunterschenkeln, seinen Tapirhüften, seinem giraffenhaft geformten rostroten Leib, seinen Rehaugen und Mausohren. Ein Okapi ist absolut unglaubwürdig, in der Wirklichkeit nicht weniger als in den unheilvollen Träumen einer Westerwälderin.

Es war überhaupt erst zweiundachtzig Jahre her, dass das Okapi offiziell in Afrika entdeckt worden war. Es ist das letzte große Säugetier, das der Mensch entdeckt hat; das glaubt er jedenfalls. Vermutlich stimmt das auch, denn nach einem Okapi kann eigentlich nichts mehr kommen. Wahrscheinlich hat schon sehr viel früher einmal jemand ein Okapi inoffiziell entdeckt, aber vielleicht hat er beim Anblick des Okapis geglaubt, er träume oder habe den Verstand verloren, weil ein Okapi, besonders ein plötzliches und unerwartetes, absolut zusammengeträumt wirkt.

Das Okapi wirkt alles andere als unheilvoll. Es kann überhaupt nicht unheilvoll wirken, selbst wenn es sich anstrengen würde, was es, soweit man weiß, selten tut. Selbst wenn es in Selmas Traum sich das Haupt von Krähen und Käuzchen hätte umflattern lassen, die ja die Unheilfülle gepachtet haben, hätte es immer noch einen sehr sanftmütigen Eindruck gemacht.

In Selmas Traum stand das Okapi auf einer Wiese, nahe am Wald, in einer Gruppe von Feldern und Wiesen, die insgesamt »Uhlheck« heißen. Uhlheck bedeutet »Eulenwald«. Die Westerwälder sagen vieles anders und kürzer, als es eigentlich ist, weil sie das Sprechen gerne schnell hinter sich bringen. Das Okapi sah exakt so aus wie in Wirklichkeit, und auch Selma sah exakt so aus wie in Wirklichkeit, nämlich wie Rudi Carrell.

Die absolute Ähnlichkeit zwischen Selma und Rudi Carrell fiel uns erstaunlicherweise nicht auf; es musste erst, Jahre später, jemand von außen kommen und uns darauf hinweisen. Dann aber traf uns die Ähnlichkeit mit all ihrer angemessenen Wucht. Selmas langer, dünner Körper, ihre Haltung, ihre Augen, ihre Nase, ihr Mund, die Haare: Selma sah von oben bis unten so sehr aus wie Rudi Carrell, dass er ab dann in unseren Augen nicht mehr war als eine mangelhafte Kopie von Selma.

Selma und das Okapi standen im Traum auf der Uhlheck ganz still. Das Okapi hatte den Kopf nach rechts gewendet, zum Wald hin. Selma stand einige Schritte abseits. Sie trug das Nachthemd, in dem sie in Wirklichkeit gerade schlief; mal ein grünes, mal ein blaues oder weißes, immer knöchellang, immer geblümt. Sie hatte den Kopf gesenkt, sie blickte auf ihre alten Zehen im Gras, krumm und lang wie im echten Leben. Sie sah das Okapi nur ab und zu aus den Augenwinkeln an, von unten her, so, wie man jemanden anschaut, den man um einiges mehr liebt, als man preisgeben möchte.

Keiner bewegte sich, keiner gab einen Laut von sich, es ging nicht mal der Wind, der auf der Uhlheck in Wirklichkeit immer geht. Dann, am Schluss des Traumes, hob Selma den Kopf, das Okapi wandte seinen um, zu Selma, und jetzt schauten sie sich direkt an. Das Okapi blickte sehr sanft, sehr schwarz, sehr nass und sehr groß. Es schaute freundlich und so, als wolle es Selma etwas fragen, als bedaure es, dass Okapis auch im Traum keine Fragen stellen dürfen. Dieses Bild stand lange still: das Bild von Selma und dem Okapi, wie sie sich in die Augen schauten.

Dann zog sich das Bild zurück, Selma erwachte, und aus war er, der Traum, und aus war es bald mit irgendeinem nahen Leben.

Am Morgen danach, es war der 18. April 1983, wollte Selma ihren Traum vom Okapi überspielen und tat ausgesprochen fröhlich. Sie war im Vortäuschen von Fröhlichkeit ungefähr so gewieft wie ein Okapi, und sie glaubte, Ausgelassenheit demonstriere man am glaubwürdigsten durch Herumschlackern. So kam Selma nach ihrem Traum schief lächelnd in die Küche geschlackert, und mir fiel nicht auf, dass sie aussah wie Rudi Carrell, wenn er am Anfang von Rudis Tagesshow aus einem übermannshohen Globus trat, einem Globus mit hellblauen Ozeanen, goldenen Ländern und Schiebetüren.

Meine Mutter schlief noch, in unserer Wohnung über Selmas, mein Vater war bereits in seiner Praxis. Ich war müde. Gestern war ich nicht gut eingeschlafen, Selma hatte lang an meinem Bett gesessen. Vielleicht hatte etwas in mir geahnt, was Selma träumen würde, und sie deshalb besonders lange aufhalten wollen.

Wenn ich unten bei Selma schlief, erzählte sie mir am Bettrand Geschichten mit guten Enden. Als ich kleiner war, hatte ich nach den Geschichten immer ihr Handgelenk umfasst, meinen Daumen auf ihren Puls gelegt und mir vorgestellt, dass die ganze Welt alles im Rhythmus von Selmas Herzschlag tat. Ich stellte mir vor, wie der Optiker Linsen schliff, Martin ein Gewicht stemmte, Elsbeth ihre Hecke schnitt, wie der Einzelhändler Safttüten einräumte, meine Mutter Tannenzweige aufeinanderschichtete, mein Vater Rezepte stempelte, und alle taten das genau in Selmas Herzrhythmus. Darüber war ich immer verlässlich eingeschlafen, aber jetzt, mit zehn Jahren, fand Selma, sei ich zu alt dafür.

Als Selma hereingeschlackert kam, war ich am Küchentisch gerade dabei, meine fertigen Erdkundehausaufgaben in Martins Heft zu übertragen. Ich wunderte mich, dass Selma, statt mich zu beschimpfen, weil ich schon wieder Martins Hausaufgaben machte, »Hallöchen« sagte und mich lustig in die Seite knuffte. Selma hatte noch nie »Hallöchen« gesagt, und sie hatte auch noch nie irgendjemanden lustig geknufft.

»Was ist denn?«, fragte ich.

»Nichts«, flötete Selma, öffnete den Kühlschrank, holte ein Paket Schnittkäse und eine Leberwurst heraus und schwenkte beides durch die Luft. »Was darf’s denn heute aufs Schulbrot sein?«, flötete sie. »Mäuselchen«, flötete sie noch hinterher, und Flöten und Mäuselchen waren nun wirklich alarmierend.

»Käse, bitte«, sagte ich, »was hast du denn?«

»Nichts«, flötete Selma, »hab ich doch gesagt.« Sie strich Butter auf eine Scheibe Brot, und weil sie immer noch herumschlackerte, schubste sie dabei den Käse mit dem Handgelenk von der Anrichte.

Selma hielt jetzt still und schaute hinab auf die Käsepackung, als sei sie etwas Kostbares, das in tausend Teile zersprungen war.

Ich ging zu ihr und hob den Käse auf. Ich sah ihr in die Augen, von weit unten. Selma war noch größer als die meisten anderen Erwachsenen, und sie war damals um die sechzig; aus meiner Perspektive also turmhoch und steinalt. Sie schien mir so hoch, dass ich glaubte, man könne von ihrem Kopf aus bis weit über das nächste Dorf hinaussehen, und so steinalt, dass ich glaubte, sie habe die Welt mit erfunden.

Sogar von hier unten, meterweit entfernt von Selmas Augen, konnte ich sehen, dass sich in der Nacht hinter ihren Lidern etwas Unheilvolles abgespielt hatte.

Selma räusperte sich. »Erzähl es niemandem weiter«, sagte sie leise, »aber ich fürchte, ich habe von einem Okapi geträumt.«

Jetzt war ich hellwach. »Bist du ganz sicher, dass es wirklich ein Okapi war?«

»Was soll es denn sonst gewesen sein«, sagte Selma, und dass man ein Okapi ja nur schwerlich mit einem anderen Tier verwechseln könne. »Doch«, sagte ich, es könne ja auch ein verwachsenes Rind gewesen sein, eine falsch zusammengesetzte Giraffe, eine Laune der Natur, und die Streifen und das Rostrote, das könne man doch alles nicht so genau erkennen in der Nacht, da sei schließlich alles sehr verschwommen.

»Das ist doch Quatsch«, sagte Selma und rieb sich die Stirn, »das ist doch leider Quatsch, Luise.«

Sie legte eine Scheibe Käse auf das Brot, klappte es zusammen und legte es in meine Butterbrotdose.

»Weißt du, wann genau du das geträumt hast?«

»Gegen drei Uhr«, sagte Selma. Sie war hochgeschreckt, nachdem das Bild vom Okapi sich zurückgezogen hatte, aufrecht im Bett sitzend war sie aufgewacht und hatte auf ihr Nachthemd gestarrt, in dem sie eben noch im Traum auf der Uhlheck gestanden hatte, und dann auf den Wecker. Drei Uhr.

»Wir sollten das wahrscheinlich nicht so ernst nehmen«, sagte Selma, aber...