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Dahmer ist nicht tot - Thriller

Edward Lee, Elizabeth Steffen

 

Verlag Festa Verlag, 2017

ISBN 9783865525673 , 270 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz frei

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4,99 EUR


 

1

STRAFVOLLZUGSANSTALT COLUMBUS COUNTY,

PORTAGE, WISCONSIN

28. NOVEMBER 1994, 7:50 UHR

»Na los, J. D., bequem dich da raus, ja? Du auch, Rosser!« Detention Officer Wells wünschte sich eine Zigarette und eine Tasse Kaffee. Er musste Perkins finden, um sich von ihm die Ergebnisse von gestern zu holen, die er wegen eines lächerlichen Streits mit seiner Frau verpasst hatte. Er scheuchte Dahmer, Vander und Rosser in den Freizeitbereich von Block C. Der zusammengewürfelte Haufen der drei Insassen schlurfte mit Eimern und Wischmopps voran, alle in dunkelgrünen Gefängnis-Overalls. Vander war ein weißer Rechtsextremer, hatte Wells gehört, und Mitglied in irgendeinem KKK-ähnlichen Verein voller dämlicher Nazi-Hohlköpfe. Er hatte seine Frau umgebracht und behauptet, zwei Schwarze hätten es getan. Rosser, ein Schwarzer, war 1,90 groß, eine muskelbepackte Hiobsbotschaft und spielte den Anstaltspsychologen zufolge ein Psychospiel. Ein Furcht einflößender Anblick – Mord und Wahnsinn auf zwei Beinen. Die Seiten seines Kopfes waren seit der neuen Regel für Häftlinge, die Haare so zu tragen, wie sie es wollten, rasiert. »Eine Verletzung des menschlichen Grundrechts auf Selbstentfaltung«, hatte irgendein Anwalt der ACLU, der Amerikanischen Bürgerrechtsunion, beharrlich vorgebracht. Prima. Sollten sie sich den Kopf rasieren und lackieren, Wells war das egal. Rosser hatte sich die Seiten rasiert, sodass oben ein fettes Büschel Haare übrig blieb. Vor ein paar Monaten hatte ein neuer DO den Fehler gemacht, einen persönlichen Kommentar dazu abzuliefern. »Werd diesen schwarzen Klecks Popcorn-Scheiße auf deiner Rübe los, du Arschloch«, hatte er zu Rosser gesagt. Der DO war noch am gleichen Tag wegen rassischer Diffamierung gefeuert worden, obwohl der DO selbst schwarz war. Aber auch das war prima, soweit es Wells betraf. Im Knast nahm er weder die Rasse noch den Verurteilten mit seiner menschlichen Vorgeschichte wahr. Sie sitzen alle in einem Boot, also hätten ihnen DOs, die ihnen bloß wegen ihrer Hautfarbe aufs Dach steigen, gerade noch gefehlt. Rosser hatte 1990 einem Kerl bei einem Raubüberfall viermal in den Kopf geschossen und würde frühestens 2042 begnadigt werden. Seine Psychose hatte mit Gott zu tun, was nicht ungewöhnlich war.

Und dann war da noch Dahmer – »J. D.«, wie er von fast allen im Block genannt wurde. Er konnte frühestens 2927 begnadigt werden. Du lieber Gott, dachte Wells im Scherz bei sich. Ich frage mich, ob er es wohl schafft … Dahmer war eine Art stiller, trauriger Sack, was jeden DO in diesem Rock Ramada mit seinen 676 Gästen überraschte. Wenn ein Kerl 17 Leute erwürgt und zerstückelt und auch noch ein paar von ihnen isst, erwartet man ein gewisses Aussehen, eine gewisse Aura. Doch Dahmer hatte nichts von alldem. Er sah aus wie ein Pudding, nachdem er seit seiner Ankunft im Februar 1992 30 Pfund zugelegt hatte. Die meiste Zeit saß er in Zelle 648, rauchte Zigaretten und hörte sich religiöse Musik an. Das Komische war, er hatte um Standardunterbringung gebeten, was Wells ziemlich dämlich fand. Jeder schwarze Insasse in diesem Laden wollte Dahmer ans Leder, und trotzdem hatte der Kerl seinen Anwalt dazu gebracht, sich beim Direktor für eine gewöhnliche Zelle einzusetzen. Im letzten Juli hatte irgendein Penner versucht, Dahmer während einer Messe die Kehle durchzuschneiden, es aber vermasselt, weil ihm die Klinge aus dem improvisierten Messer gefallen war. Trotzdem. Dahmer wusste, dass Leute hinter ihm her waren, und dennoch bestand er darauf, mitten unter der allgemeinen Knastbevölkerung zu leben. »Ich will die Welt sehen«, hatte er zu Wells gesagt. Das hier ist keine Welt, du Blödhammel, hatte Wells gedacht. Es ist ein Scheiß-County-Gefängnis voller Mörder, und die Hälfte davon will dich ermorden. Das war dem Kerl aber egal. Fast schien es, als bettelte er darum. Also gab ihm der Direktor TE – therapeutische Einzelhaft – und ließ ihn für 70 Cent die Stunde im Reinemach-Trupp arbeiten. Da malochte Dahmer vier Stunden pro Tag, und jeden Morgen ging er zur Messe in die Kapelle.

»Dahmer! Ey, Dahmer«, stichelte Rosser. »Wie schmeckt Menschenfleisch denn so?«

»Halt die Klappe, Rosser!«, befahl Wells. Dahmer blieb stumm und schlurfte weiter neben Vander her. Vanders kahler Kopf glänzte im Licht der vergitterten Lampen. »Achte nicht auf den, J. D.«, sagte Vander von der Seite. »Das is’n Arschloch.«

»Dahmer! Ey, Dahmer …«

»Gottverdammt, Rosser, ich sagte: Halt die Klappe!«, wiederholte Wells. »Wenn nicht, sperr ich deinen fetten, gemeinen Arsch gleich wieder in Einzelhaft, wo du dreiundzwanzigeinhalb Stunden am Tag die Mauersteine zählen kannst.«

»Es gibt keine Zelle auf der Welt, die Gottes Sohn festhalten kann«, flüsterte Rosser. »Sie sind die Zahl des Tiers und Ihre Zahl ist 666.«

»Hör mit dieser Psychosenscheiße auf. Du machst dich damit nur zum Arschloch.«

»Sie nennen Gottes Sohn ein Arschloch?«

Wells musste unwillkürlich lachen. Er folgte ihnen nach oben in die Fitnessräume und wies ihnen dann ihre Aufgaben zu. »Vander, J. D., ihr zwei übernehmt den Gewichteraum und die Nische mit den Laufbändern, und Rosser, du wischst die Latrine. Alles klar, Leute?«

Dahmer und Vander nickten. Und Rosser? – Auf keinen Fall. Er musste immer wegen irgendwas die Klappe aufreißen. »Ach, Mann«, beklagte er sich. »Sie lassen Gottes Sohn die Latrine wischen, Mann?«

»Ganz recht.«

»Aber … aber ich bin der Millionen Jahre alte Sohn Gottes!«

»Super«, sagte Wells. »Und du machst die Latrine so sauber, dass Gott persönlich seine Freude daran hätte, sein Ei in unsere Schüsseln zu legen. Also, sag das deinem Dad. Ich bin draußen, aber ich behalte euch alle im Auge. Erledigt eure Arbeit und trödelt nicht rum.«

Die drei Insassen verteilten sich mit ihren Eimern und Wischmopps. Wells ging nach draußen in den Hauptkorridor und drückte eine Zigarette aus.

Von Perk keine Spur. Mein Gott, wie hoch die Redskins gestern wohl verloren haben? Wells hatte einen Fünfer auf einen knappen Spielausgang gewettet, aber Shuler hatte top in Form ausgesehen.

Am frühen Morgen wirkte der Hauptkorridor immer seltsam still, wie ein Zombiedorf aus dahinschlurfenden Männern, die alle die gleiche schlammgrüne Gefängniskleidung trugen und die gleiche ausgelaugte Miene aufgesetzt hatten. Gruppen von jeweils vier bis sechs Männern wurden zum oder aus dem Speisesaal geführt. Wells fand es komisch: An diesem Morgen hatte Dahmer nur ein hart gekochtes Ei – er aß nur das Eiweiß und ließ das feste Eigelb übrig – und ein paar Cornflakes ohne Milch gegessen. Er hatte gesagt, er sei auf Diät … ausgerechnet. Für wen musst du denn gut aussehen?, dachte Wells. Für die Wände?

Wells rauchte trübsinnig eine halbe Zigarette, dann drückte er den Rest im roten Aschenbecher aus. Perkins musste wohl Fahrdienst haben und Insassen zu Gerichtsterminen in die Innenstadt von Portage und zurück bringen.

Ungefähr zehn Minuten später, um genau 8:10 Uhr, wollte sich DO Wells wieder auf seinen Beaufsichtigungsposten begeben, kam aber nicht einmal bis zur Ecke, bevor der Sicherheitsalarm losging und wie eine Luftschutzsirene durch das Gefängnis jaulte – so laut, dass sogar die massiven Blockwände bei jedem Aufheulen zu pulsieren schienen. Das Gefängnis hatte einen Herzanfall.

Das Albtraumgesicht schwebte so dicht vor ihr, dass sie es riechen konnte. Doch es roch nicht real, es roch nicht menschlich. Wie Lehm roch es, wie feuchte Erde von einem Bachufer. Das Gesicht sah in dem Traum grau aus, als seien seine Züge krude in einen Klumpen tatsächlichen Lehms gedrückt worden. Ein Schlitz für den Mund, ein Schlitz für die Nase. Zwei Schlitze für die Augen. Doch wessen Gesicht war es?

Helft mir, helft mir!, kreischte sie im Tumult ihres REM-Schlafs. Holt es weg von mir!

Es war das undeutliche Gesicht der Angst eines Cops, das Gesicht des symbolischen Todes, der hinter jeder Ecke lauerte.

»Helen? Helen?«

Das Rütteln fühlte sich erdbebenartig an. Die Wände ihres Traums machten Geräusche wie bei einem echobildenden Abriss. Die Hand aus einer anderen Welt fuhr fort, sie zu rütteln.

»Helen?«

Ihre Augen öffneten sich. Jetzt schwebte ein anderes Gesicht über ihr – ebenso obskur, ebenso blass und ebenso unmenschlich seiner Züge beraubt. Ihr Bewusstsein schien mit dem ungebetenen Öffnen ihrer Augen zu gleiten. Dann wurde die reale Welt klarer, ebenso wie die Gesichtszüge vor ihr. Natürlich war es Tom.

Sofort fing sie sich und rieb das silberne Medaillon zwischen ihren Fingern. Es war ein wuchtiges Medaillon, so groß wie ein 200-Jahr-Feier-Dollar, und dick. Innen war das Bild ihres Vaters. An einer Vielzahl von Ketten hing es seit annähernd drei Jahrzehnten um Helen Closs’ Hals, ein Geschenk ihres Vaters zu ihrem 13. Geburtstag. »Jetzt bist du ein Teenager!«, hatte er sie beglückwünscht. Am nächsten Tag war er in seinem Maklerbüro an einem massiven Herzinfarkt gestorben.

»Schatz, ist alles in Ordnung mit dir?«, fragte Tom.

Warum sollte nicht alles in Ordnung mit mir sein?, beeilte sich ihr erster Gedanke. Wenn nicht alles in Ordnung ist, dann nur deshalb, weil du mich geweckt hast.

»Du schläfst seit acht Uhr...