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Der verlorene Ursprung

Matilde Asensi

 

Verlag beTHRILLED, 2018

ISBN 9783732549221 , 661 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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6,99 EUR

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ZWEI


Zu unserer Bestürzung und zur Verwunderung der Ärzte besserte sich Daniels Zustand in den darauf folgenden zwei Tagen keineswegs. Diego, alias Dr. Hernández, und Dr. Miquel Llor waren von der Wirkungslosigkeit der Medikamente so beunruhigt, dass sie am Freitag noch kurz vor Dienstschluss die Behandlung umstellten. Trotzdem gestand Miquel meiner Mutter, dass er angesichts des unveränderten Krankheitsbildes Zweifel an der schnellen und vollständigen Heilung meines Bruders hegte. Nun hieß es, man könne allenfalls auf eine leichte Besserung bis Ende der nächsten oder Anfang der übernächsten Woche hoffen. Vielleicht wollte er vermeiden, dass wir uns eine falsche Vorstellung machten, und übertrieb seine Skepsis, um uns auf alle Eventualitäten vorzubereiten. Wir waren jedenfalls am Boden zerstört, insbesondere Clifford, der innerhalb weniger Minuten um zehn Jahre alterte.

Die Anwesenheit meiner Großmutter allerdings vermochte den auf der Familie lastenden Druck um einiges zu vermindern. Gleich nach ihrer Ankunft hatte sie unsere Schichten so organisiert, dass wir fast wieder ein normales Leben führen konnten – von einer kleineren Ausnahme abgesehen. Doch da es darum ging, bei Daniel zu sein, störte das niemanden. Meine Großmutter war eine starke Frau, die mit beiden Beinen fest auf dem Boden der Tatsachen stand. Sie hatte bewundernswerte Managementfähigkeiten und war sehr viel klarer strukturiert als etwa meine Mutter, die von ihr schnell zur Räson gebracht wurde, wann immer sie in Großmutters Gegenwart aus dem Ruder lief. Meine Großmutter übernahm umgehend die Nachtschicht und schickte Ona und mich nach Hause, damit wir zu einer vernünftigen Zeit ins Bett kamen. Ich konnte mir den Gedanken nicht verkneifen, dass sie innerhalb kürzester Zeit einen Haufen Freundinnen und Bekannte in der Cafeteria haben würde und dort zu Hause wäre wie auf der Plaza de Vic sonntags vormittags nach der Messe.

Ich hatte um eins einen Termin bei Marta Torrent in der Universität. Es war ebenjener Samstag, der erste Juni, an dem die Barcelona Dragons gegen die Rhein Fire aus Düsseldorf spielten. Das strahlende Wetter an diesem leuchtenden Morgen lud zu einem Bummel ein unter dem Vorwand, ein gutes Buch oder eine schöne CD zu kaufen. Während ich im Auto, die Sonnenbrille auf der Nase, durch die Tunnel von Vallvidrera in Richtung Universität fuhr, grübelte ich weiter über meine Suche nach dem Code zur Entzifferung der Hieroglyphen auf dem Notizzettel im Büro meines Bruders. Ich hegte insgeheim die Hoffnung, dass mir die Doctora helfen würde, ihn zu knacken. Denn inzwischen war meine Verwirrung eher noch größer.

Am Tag nach meinem Gespräch mit Proxi und Jabba war ich, bepackt mit den Büchern und Dokumenten, in die Calle Xiprer zurückgekehrt. Ich war bereit, so viel Zeit wie nötig zu investieren, um zu verstehen, in was zum Teufel Daniel sich da hineingeritten hatte. Nachdem ich Schubladen, Regale, Aktenordner und alles, was mir sonst in die Hände fiel, durchsucht hatte, begann ich zu sortieren. Ich legte verschiedene Stapel an, unterteilt nach Inka und Aymara, und innerhalb dieser Haufen wiederum getrennt nach Geschichte einerseits und Sprache und Schrift andererseits. Alles, was ich nicht zuordnen konnte, legte ich auf einen weiteren Stapel, der mit der Zeit allerdings so umfangreich wurde, dass ich ihn weiter unterteilen musste in Texte und Bilder, denn es gab eine Menge Diagramme, Karten, Fotos, Kopien von Fotos und Skizzen, die mein Bruder eigenhändig angefertigt hatte. Diese Ordnung war aus akademischer Sicht bestimmt verwegen, orientierte sich aber an den Kriterien, die mir zu diesem Zeitpunkt zur Verfügung standen.

Das erste, was mir auffiel, war das Bild eines länglichen Schädels, aus dessen Augenhöhlen mir die eingetrockneten Reste der Augen entgegenstarrten. Mehr als dieser leicht gruselige Blick verwirrte mich jedoch die Form des Schädels: Statt der normalen Rundung von der Stirn bis in den Nacken verlängerte er sich nach oben wie die Spitzkappe eines Nazareners, wirkte überdimensioniert und unnatürlich konisch. Einige ähnliche Bilder deuteten darauf hin, dass das Thema Daniel beschäftigt haben musste. Im selben Ordner fand ich außerdem das Foto einer Steinmauer, aus der lauter steinerne Köpfe ragten, die bereits verwittert waren, sowie die unscharfe, digitale Vergrößerung eines merkwürdigen, körperlosen Männchens. Es bestand nur aus einem Kopf, aus dem wie Froschschenkel dünne Ärmchen und Beinchen ragten, und trug einen dichten schwarzen Bart und eine riesige rote Mütze. Köpfe über Köpfe ... Ein weiteres ungelöstes Rätsel. Um dem Ganzen die Krone aufzusetzen, entdeckte ich die zusammengefaltete Vergrößerung eines mächtigen, steinernen Quadratgesichts mit riesigen, runden schwarzen Augen. Ich hätte schwören können, es bereits tausendmal gesehen zu haben – nur dass ich nicht mehr wusste, wo. Zweifellos stammte es von den Inka. Da mein Bruder es nicht beschriftet hatte, hätte es jedoch genauso gut ein Markenlogo sein können, etwa eine eingemeißelte Sonne – aus dem Gesicht wuchsen Strahlen – auf irgendeiner Wand in Cuzco, Machu Picchu, Tiahuanaco, Vilcabamba oder einem der anderen zahlreichen Ruinenfelder, die über das alte Inkareich verstreut und mir inzwischen durchaus bekannt waren.

Außerdem fand sich in Daniels Unterlagen die von ihm mit rotem Filzstift angefertigte Zeichnung einer dreistufigen Pyramide. In ihrem Inneren wuchsen aus einer Art quadratischem Gefäß vier lange Hälse mit Katzenköpfen empor, aus den Seiten und dem Sockel sechs weitere mit Vogelköpfen, und in dem Gefäß selbst schlängelte sich eine kleine, gehörnte Schlange. Mein Bruder hatte ›Kammer‹ darunter geschrieben und das Wort mehrmals dick unterstrichen.

Ein anderes Thema, das Daniel fasziniert zu haben schien, waren die Inka-Stoffe. Ich entdeckte in einem Ordner Dutzende Abbildungen von Stoffen in beeindruckenden Farben, die mit winzigen Quadraten und Rechtecken verziert waren. Jede dieser kleinen geometrischen Formen sah anders aus, und daraus ergab sich ein Gewimmel zahlloser aufgereihter und gestapelter Kästchen. Die Stoffe waren recht unterschiedlich, trotz eines vorherrschenden Stils, den ich auch auf sechs, sieben Fotos von Keramikgegenständen (Vasen und Krügen) wiedererkannte, die in einem anderen Ordner aufbewahrt waren. Auch hier gab es nicht den geringsten schriftlichen Hinweis darauf, was die Abbildungen darstellten, so dass ich nicht schlauer war als zuvor.

Aus dieser Flut nicht wirklich aussagekräftiger Informationen hoben sich zwei großformatige Fotokopien ab. Sie lagen gefaltet in einer unbeschrifteten Mappe. Es waren Reproduktionen alter, verschlissener, rätselhafter Karten. Auf der ersten konnte ich nach einiger Anstrengung rechts die Form der Iberischen Halbinsel und die Westküste Afrikas erkennen. Beide waren mit einer Vielzahl nahezu nicht unterscheidbarer Menschen- und Tierfiguren übersät, über denen sich Linien kreuzten, die von mehreren verschieden großen Windrosen ausgingen. Nachdem ich durchschaut hatte, welche Weltgegend vermutlich abgebildet war, schloss ich, dass es sich auf der linken Seite um die amerikanische Küste handeln musste. Da waren Haupt- und Nebenflüsse, von denen viele in den Anden entsprangen, die den Rand der Zeichnung bildeten. Die Küstenlinie des Pazifiks fehlte ganz. An ihre Stelle war ein Textblock aus winzigen arabischen Buchstaben getreten. Die zweite Karte, gemalt auf eine Art Laken mit ausgefransten Rändern, zeigte einen großen See. Er war von Zeichen umgeben, die wie Ameisenspuren aussahen. Am Südufer des Sees war in groben Zügen eine Stadt eingezeichnet, unter der etwas in Altspanisch geschrieben stand, das ich mit einiger Anstrengung entziffern konnte: ›Weg der Yatiri-Indianer‹, und darunter: ›Zwei Monate über Land‹, und darunter in kleinerer Schrift: ›Dies bezeuge ich, Pedro Sarmiento de Gamboa, in der Stadt der Könige am zweiundzwanzigsten Februar fünfzehnhundertfünfundsiebzig.‹

Endlich fügten sich erste Puzzleteile zusammen: Das Wort Yatiri kannte ich, und mein Bruder verwendete es in seinem Delirium häufig. Also, überlegte ich, musste ich mehr über die Yatiri herausfinden. Sie schienen in der Geschichte eine zentrale Rolle zu spielen und außerdem, wie dieser spanische Edelmann Pedro Sarmiento de Gamboa bezeugte, über einen eigenen Weg zu verfügen, der nach zwei Monaten Gott weiß wo endete.

Daniels Bibliothek bestand größtenteils aus Büchern über Anthropologie und Geschichte sowie diversen Grammatiken. In den Regalen links und rechts von seinem Schreibtisch hatte er die Bände über die Inka und einen Haufen Wörterbücher deponiert, darunter zwei historische Wörterbücher der Aymara-Sprache: das 1612 vom Jesuiten Ludovico Bertonio veröffentlichte Vocabulario de la lengua aymara und Arte de la lengua aymara von Diego Torres Rubio aus dem Jahr 1616. Der Moment war gekommen herauszufinden, was zum Teufel lawt’ata bedeutete. Nachdem mich die Suche fast in den Wahnsinn getrieben hatte (da ich zugegebenermaßen keine Ahnung von der Schreibweise hatte), entdeckte ich den Ausdruck, indem ich die mit ›1‹ beginnenden...