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Der Mann mit dem Fagott - Roman

Udo Jürgens, Michaela Moritz

 

Verlag Limes, 2009

ISBN 9783641026387 , 736 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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9,99 EUR


 

PROLOG
Bremen, Weihnachten 1891

Der Mann mit dem Fagott


Ein dumpfer Aufprall. Ein Schneeball zerspringt dicht vor Heinrich Bockelmanns Kopf an einer Hauswand. Kinderlachen, sich schnell entfernende Schritte. Wieder Stille, nur das Knirschen des Schnees unter seinen Füßen und in der Ferne leise die geheimnisvollen Klänge des Weihnachtsmarktes.
Die frühe Dunkelheit und das Glitzern der Festbeleuchtung im seltsam kalten Winter geben der Stadt ein fremdes, verzaubertes Gesicht. Vielleicht ist es der in dieser Stadt so seltene Schnee, der alles verändert. Oder vielleicht ist es auch nur Heinrichs Blick, der bereits fremd geworden ist, die Stadt wie zum ersten Mal betrachtet mit Augen, die das Besondere suchen, das Bleibende, Bilder, an denen die Erinnerung sich festhalten kann in der Fremde.
Jedes Haus, jeder Baum, jedes Licht, jeder Blick ein Abschiedsgruß. Er hatte es sich nicht so schwer vorgestellt. Mit 21 hatte man erwachsen zu sein, ein zielstrebiger junger Mann, der seinen Weg ging. Er mußte sich an diese Rolle erst herantasten, an den festen, zuversichtlichen Schritt in seine Zukunft.
»Halte die Augen und Ohren offen, sei dir sicher, wer du bist, und sei bereit zu lernen, dann wirst du deinen Weg finden«, hatte sein Vater zum Abschied gesagt und war wieder fortgereist, auf seinem Passagierschiff »Henriette«, mit dem Kapitän Bockelmann die Route Bremen – New York befuhr. Wie meistens würde sein Vater an Weihnachten nicht zu Hause sein. Heinrich kannte es nicht anders, und doch wäre es schön gewesen, den Vater noch ein wenig länger hier zu haben, diesmal … Der Rat des in der Fremde und im Leben so erfahrenen Vaters hätte ihm in diesen Tagen viel bedeutet. Solche Gespräche waren selten gewesen in Heinrichs Leben. Monatelang war der Vater fort, unterwegs auf den Weltmeeren. Kam er zurück, war er ein Fremder. Und kaum war die Fremdheit gewichen, war er schon wieder auf See, existierte nur noch in den wenigen Briefen und bunten Postkarten aus aller Welt, um die Heinrichs Spielkameraden ihn immer beneidet hatten.
Nun trieb es auch ihn fort, so stark die Stimme der Ungewißheit im Moment in ihm auch war und ihn zu halten suchte. Er wird gehen. In wenigen Tagen. Nur wohin, das weiß er noch nicht.
Die goldene Taschenuhr des Vaters, sein Abschiedsgeschenk, fühlt sich schwer an, fremd. Noch berührt er sie ein wenig distanziert, voll Respekt vor ihrem unschätzbaren Wert – und vor dem Gefühl, sie sich erst noch verdienen zu müssen. Noch öffnet er ein wenig verstohlen den Deckel, wie früher, als er heimlich mit ihr spielte. Manchmal ertappte sein Vater ihn damals dabei, lächelte, nahm ihm die Uhr aus der Hand, sagte: »Das ist eine Zauberuhr! Wenn dir die Zauberkräfte hold sind, kannst du sie mit deinem Atem öffnen.« Er ging in die Hocke, um mit Heinrich auf Augenhöhe zu sein, hielt sie ihm vor sein ungläubig-gespanntes Gesicht. »Puste!« Heinrich gab sich Mühe. »Das kannst du aber besser! Fester!« Heinrich pustete mit all seiner Kraft. »Noch mal!« Da sprang wie von Zauberhand der Deckel auf, und die Uhr machte summend und bimmelnd und klingend die Zeit hörbar. Zauberkraft … die könnte er jetzt wirklich brauchen. Heinrich lächelt, schließt den Deckel wieder, steckt die Uhr in seine Tasche. Die Zeit bis zu seiner Abreise möchte er gar nicht ermessen.
Duft nach Zimt und Mandeln aus jedem Haus. Schnaubende Pferde, knirschendes Zaumzeug. Ein zugerufener Gruß. Menschen auf dem Weg in die Stadt. Der Schnee dämpft die Geräusche der Straße, macht sie weicher, sanfter. Alles Alltägliche erscheint Heinrich heute besonders, festhaltenswert. Seit Kindertagen zieht es ihn in die Ferne. Stundenlang hatte er schon als kleiner Junge den Globus im Arbeitszimmer des Vaters studiert, sich die wohlklingenden Namen ferner Länder, fremder Städte eingeprägt, sich vorgestellt, sie später einmal alle zu bereisen.
Nun war der Zeitpunkt gekommen, wegzugehen, sich irgendwo in der Welt einen Platz zu suchen. Nur wo, das zu entscheiden, fällt ihm schwer. Beim letzten Besuch seines Vaters hatte er ihn um Rat gefragt. Man hatte in großer Runde mit Freunden und deren Familien zusammengesessen. Von Amerika hatte der Vater ihm abgeraten. Natürlich könne er mitfahren auf der »Henriette«, auf der Überfahrt arbeiten und sich damit die Kosten für die Reise verdienen. Natürlich sei das eine Möglichkeit, und sehenswert sei das Land allemal, aber zum Leben? Eher nicht. Es sei auf einem unheilvollen Weg. Unruhen, Aufstände, Streiks, die Stimmung gereizt, nervös. Es wimmle von gescheiterten Existenzen, Kriminellen, ein undurchschaubarer Sumpf, und die Wirtschaft sei auch nicht gerade stabil. Schwierig schon für die Etablierten, aber bestimmt kein gutes Pflaster für einen jungen Mann, der seinen Weg machen wolle. Und dann die Entfernung zu Europa, der unvergleichlichen europäischen Kultur … Der ganze Atlantik dazwischen … Diese Weite beeindrucke sogar ihn selbst noch. Nach all den Jahren, die er diese Strecke nun schon befuhr … Die Freunde des Vaters waren seiner Meinung.
Aber Rußland, das sei eine Überlegung wert. Ein junger Maat auf seinem Schiff stamme aus Sankt Petersburg. Was der so erzähle! Es müsse ein unvergleichlich glanzvolles Land sein und vor allem offen, das Land der Starken, so sagte man, das Land, in dem man mit einer Idee und harter Arbeit alles erreichen konnte. Besonders als Deutscher. Die vielen deutschen Einwanderer dort hatten großes Ansehen, Einfluß und Macht erlangt. In ihrem Kreis konnte man sich etablieren. Das wäre vielleicht das richtige für Heinrich. Die Knoops, Freunde des Vaters, hatten begeistert zugestimmt. Man habe Verwandte in Moskau. Die könnten Heinrich bestimmt Adressen für eine Stellung vermitteln. Rußland sei wundervoll! Man sei selbst schon dagewesen! Herrlich! Der Glanz des Zarenhauses, die Kultur, die Weltoffenheit … Dort sei wirklich alles möglich.
Also Rußland? Heinrich zögert noch. Er muß sich bald entscheiden. Mit Jahresbeginn möchte er sein neues Leben beginnen, so hatte er sich vorgenommen, und was man sich vornahm, das hielt man auch ein.
Vielleicht könnte er ja auch in eine andere der europäischen Metropolen gehen? Adressen hatte er sich von überallher besorgt. Die Freunde seines Vaters hatten Kontakte in aller Herren Länder. Vielleicht sollte er sich mit einem etwas kleineren Schritt begnügen?
Rußland war sicher die exotischste der Möglichkeiten. Dort wäre ihm der größte Aufstieg möglich, aber auch das größte Versagen. Es würde alles in seiner Hand liegen. Also eigentlich genau das, was er suchte, auch wenn er manchmal sogar mit dem Gedanken an ein ganz normales Leben spielte: Er könnte sich einfach in Bremen eine Stelle suchen, vielleicht in einiger Zeit sogar um Katharinas Hand anhalten …
Ja, Katharina. Bei dem Gedanken an ihre warme, weiche Stimme, ihr feines, fröhliches Gesicht, ihre langen blonden Haare, wurde ihm gleichzeitig heiß und kalt. Diese Gefühle kamen zur falschen Zeit. Zu spät. Oder auch zu früh. Er kannte sie noch nicht lange genug, um ihretwegen seine Pläne zu ändern und hierzubleiben. Es wäre wie das Eingeständnis eines Versagens gewesen. Er konnte sie aber auch nicht bitten, auf ihn zu warten. Er hatte daran gedacht, doch zu ungewiß war seine Zukunft, zu wenig klar umrissen die Zeit, die er brauchen würde, um sich zu etablieren, um ihr dort, wohin er ging, ein angemessenes Heim bieten zu können. Die Ungewißheit seines Lebens konnte er ihr nicht zumuten, das war ihm in den letzten Wochen des Kampfes mit sich selbst klargeworden. Damit mußte er fertig werden. Es fiel ihm schwer.
Er wirft eine Münze von der Brücke aus in einen der romantischen Kanäle der Weser. Ein kleines Ritual, wie immer, wenn es im Leben für ihn darauf ankam. Es sollte ja bekanntlich Glück bringen, und Glück konnte er brauchen.
Plötzlich aus der Ferne leise ein ganz besonderer, seltsam anrührender Klang, der ihn merkwürdig berührt. Er lauscht, folgt seiner Richtung, verliert ihn wieder, hält den Atem an.
Da ist er wieder, leise und doch deutlich hörbar, abgesetzt von den Alltagsgeräuschen und den Klängen des Weihnachtsmarktes, eine ganz eigene Stimme im Chor der Töne, allem anderen unterlegt, als wäre er mit seiner sonderbar melancholisch-fröhlichen Melodie das Fundament für alle anderen Klänge und Farben dieses Tages.
Unbewußt versucht Heinrich die Richtung auszumachen, aus der er erklingt und folgt ihm wie selbstverständlich, ohne daß er es beschlossen, sich aus einer Laune heraus oder aus Langeweile dazu entschieden hat. Es war zwingender. Er hatte in diesem Augenblick keine Wahl.
Es kommt aus der Richtung des Marktplatzes, da ist Heinrich sich mittlerweile sicher. Es klingt tiefer als eine Oboe und erhabener als eine Klarinette. Es ist weicher als eine Posaune und rauher als eine Flöte. Heinrich lauscht. Es ist kein Instrument, das man Tag für Tag hört. Vielleicht ist es ja ein Musiker, der zu Hause übt, bei geöffnetem Fenster, aber das ist unwahrscheinlich. Dazu ist der Klang zu präsent, nicht gedämpft durch Mauern und Fenster. Es schweigt, einen Augenblick nur, dann setzt es wieder ein. Er muß jetzt ganz nah sein.
Heinrich tritt aus dem Dunkel der Arkaden und bleibt erstaunt stehen. Der Mann steht etwas abseits des Weihnachtsmarktes. Er trägt eine merkwürdige, prächtig-bunte Verkleidung, einen dunkelblauen Gehrock mit rot umfaßten goldenen Knöpfen, eine dunkle Hose und auf dem Kopf einen schwarzen, zerknitterten Zylinder. Seine Haltung leicht nach vorn gebeugt. Und er spielt auf einem Fagott.
Das war kein Instrument für einen...