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Uns gehört die Nacht

Uns gehört die Nacht

Jardine Libaire

 

Verlag Diogenes, 2018

ISBN 9783257609189 , 464 Seiten

2. Auflage

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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9,99 EUR


 

{11}Januar 1986


Alles fängt in Connecticut an.

Elise sitzt auf der Couch und lauscht dem Abendlied der Stadt, Kirchenglocken und Polizeisirenen. Sie neigt ein wenig den schönen schmalen Schädel.

Winter in New Haven: herb, spröde, grau wie Eis, das sich auf Milch bildet.

Robbies Wohnung – und ihre Wohnung, sagt Robbie – ist leer wie ein besetztes Haus, in den Schlafzimmern Matratzen mit dünnen Decken. Die Vorhänge sind rauchvergilbt. An der Kühlschranktür schichten sich Sticker von Radiosendern, Hardcore-Bands und Obst-Aufkleber. Ein einzelnes aufgequollenes Cornf‌lake liegt in der Spüle.

Wo bei anderen Leuten ein Kruzifix an der Wand hängt, klebt in Elises Zimmer eine ausgerissene Seite aus dem Rolling Stone: Prince in einem dunstigen lavendelfarbenen Paradies.

Elise wohnt seit drei Monaten hier, seit Robbie sie im unverriegelten Pontiac seines Lovers schnarchend auf der Rückbank fand, sie zitterte unter einem struppigen weißen Pelz.

Zuerst dachten sie, sie wäre ein Hund.

»Oh! Euer Auto?«, fragte sie mit einem schiefen Lächeln, die Augen klar, keine Drogen.

Als sie ausstieg, war sie größer als die Jungs, einen {12}Rucksack in der Hand wie ein Pendel, und man sah ihr die Angst an. Eine auf elegante Art traurige Ausreißerin in weißen Turnschuhen und mit goldenen Bambusohrringen.

Die Männer entspannten die Fäuste wieder.

Robbie nahm Elise auf, und seitdem sind die beiden wie zwei ungleiche Tiere in einer Fabel – die Giraffe, die der Biene hilft, der Hase, der dem Elefanten das Leben rettet, kleine Abenteuer auf jeder Buchseite.

Die neuen Hausgenossen wurden Freunde, als sie zusammen Makkaroni kochten, in Socken und Schlafanzug zu Michael Jackson tanzten, Limo tranken und nachts im Fernsehen offene Kanäle sahen. Keiner von beiden hatte einen verdammten Schimmer, was sie mit dem Leben machen sollten, außer leben.

***

Sie sieht aus dem Wohnzimmerfenster. Das Haus ist eine Bruchbude, verrottet bis zur Traufe, die Etagen in billige Wohneinheiten zerteilt. Doch es erträgt seinen Verfall gefasst, beinahe vergnügt, wie ein Grinsen mit Zahnlücke.

Nebenan steht ein weißes Townhouse, in dem zwei Yale-Studenten wohnen. Ein Kronleuchter fängt dort drüben das letzte Licht des Tages ein, wenn alles andere schon im Dunklen liegt. Hier haben reiche Leute gelebt, bevor die Gegend den Bach runterging, und das Haus wirkt fehl am Platz wie eine höhere Tochter, die im Supermarkt an der Kasse sitzt.

Zufällig stehen die Jungs auf der Veranda und rauchen.

Jetzt tut sie es, beschließt Elise, bevor sie es sich anders überlegt. Sie ist immer noch wütend.

{13}Sie zieht den Reißverschluss ihres weißen Kaninchenfellmantels hoch, der knielang ist und einen Vinylgürtel hat, der Name Esther ist mit lila Garn in das fadenscheinige Taftfutter gestickt. (Den Mantel hat sie in einem Greyhound-Bus gegen eine Dose Pringles getauscht, an einem ungewöhnlich warmen Abend im Herbst, während draußen die Fabriken von Elizabeth, New Jersey, in der Dämmerung vorbeiglitten. Die junge Schwarze, der er gehört hat, war zugedröhnt und zufrieden mit dem Tausch, weil sie nicht fror und anscheinend dachte, sie würde nie mehr frieren. Ich hab aber schon ein paar Chips gegessen, witzelte Elise, als sie ihr die Dose gab und den Pelz bekam. Macht nichts, Kleines, hatte die Frau gemurmelt. Alles cool.)

Elise verlässt die Wohnung. Sekunden später kriecht ihr die Nachtluft unter den Saum.

Blicke kreuzen sich. Elise hebt die Hand.

»Hallo, Nachbarin«, sagt einer der Studenten zum ersten Mal, seit sie hier wohnt.

»Hallo«, antwortet sie.

»Wohin des Wegs?«, fragt er, offensichtlich angetrunken.

Sie zieht die Nase hoch und sieht weg. »Bier holen.«

Ihr Akzent ist deutlicher, als die Jungs erwartet haben.

»Wir haben Bier.«

»Welche Sorte?« Elise kneift die Augen zusammen.

»Die Sorte«, sagt er, »für die du nicht durch die Kälte laufen musst.«

Die drei schlendern ins Haus, als wäre es das Normalste der Welt, als wäre keiner von ihnen neugierig. Matt holt drei Flaschen Heineken aus dem Kühlschrank.

{14}Elises Herz ist eine kaputte Maschine, es scheppert und stampft.

»Wie heißt du noch mal?«, fragt er, obwohl sie sich nicht vorgestellt hat.

»Elise.«

Ist sie gefährlich? Ist sie hübsch? Die Jungs blinzeln, als würde Elise vor ihren Augen schillern und wabern, als wüssten sie nicht, was sie von ihr halten sollen.

Elise hat langgestreckte Glieder und runde feste Brüste. Jungshüften. Ein Windhund, aerodynamisch, geprügelt, schnell wie der Teufel, zum Rennen gemacht, zum Verlieren geboren. Ihr Gesicht ist markant, von dunklen Zöpfchen gerahmt, die Züge reduziert, um den Luftwiderstand zu verringern, wie um noch größerer Geschwindigkeit willen. Die Kopfhaut – bleich. Haut und Haar glänzen leicht, aber die grauen Augen in der schwarzen Kajal-Umrandung sind sanft. Eine Kerbe am Wangenknochen, vielleicht von den Windpocken.

»Ich bin Matt«, sagt der, der das Gespräch führt, sein Blick abschätzig, lieblos. In seinen Augen passiert nichts bis auf ein schales Bitzeln, wie abgestandenes Root Beer.

»Ich bin Jamey«, sagt der mit dem Grübchen am Kinn. Er sieht aus wie ein Stummfilmstar, den man unter Drogen gesetzt hat, wächsern, die Augen gleichzeitig lustverhangen und chorknabenkeusch.

Jamey.

Gleichzeitig Stricher und Kunde, eine Möbiusschleife von angeborenem Luxus und seiner eigenen Ausbeutung.

»Schicke Hütte«, sagt sie.

Ein Kamelhaarmantel auf einem Stuhl. Auf dem {15}Couchtisch Interview und das Wall Street Journal, Zigarettenpäckchen, gefaltete Zwanziger und Münzen, Perrier-Flaschen.

In ihren Stiefeln und dem schmuddeligen Pelz wandert sie herum wie eine Inspektorin.

»Bist du in Yale?«, fragt Matt mit unbewegter Miene, obwohl sie genau wissen, dass Elise nicht studiert.

»Nee.«

Jamey fragt: »Bist du aus New Haven?«

»Aus Connecticut. Seid ihr von hier?«

»Wir sind aus New York.« Matt beantwortet die absurde Frage mit höflichem Ton und zündet sich eine Kippe an.

»Brüder?«, fragt Elise.

»Nein.« Matt schüttelt das Streichholz aus. »Nur wie Brüder.«

»Zusammen aufgewachsen«, erklärt Jamey.

Elise hat die beiden beobachtet, seit sie vor ein paar Monaten nebenan eingezogen ist, aber bisher konnte sie sie kaum auseinanderhalten. Jetzt ist klar, dass sie Gegensätze sind. Sie hatte sie durch beschlagene Scheiben beim Rasieren gesehen, weißes Handtuch um die Hüften. Wenn sie ihre langen Mäntel zuknöpften, in ihre Autos stiegen, mit klobigen Autotelefonen telefonierten.

Jamey steht auf, um sich noch ein Bier zu holen.

»Bringst du mir auch eins mit?«, sagt Matt.

»Mir auch«, ruft Elise hinterher.

Matt wirft Jamey einen Blick zu, doch der grinst nur, zuckt die Schultern und kommt mit drei Flaschen zurück.

Sie sitzen im Wohnzimmer und trinken. Elise müsste längst gehen, aber sie steht nicht auf.

{16}Spät in der Nacht hat Elise gesehen, wie die Jungs Mädchen in Abendkleidern mit nach Hause brachten. Totes Laub mitschleifend, Smokingjacken um die Schultern. An goldenen Nachmittagen kommt manchmal ein Mädchen im Faltenrock vorbei, lehnt das Fahrrad ans Verandageländer und huscht ins Haus. Morgens gehen die beiden früh zur Uni, Haare nass und gekämmt, wenn die Welt noch müde und mürrisch ist. Sie grüßen den alten Vermieter, der auf dem Gehweg Schnee schippt.

»Na dann«, sagt Matt nachdrücklich. »Ich muss ins Bett.«

Aber sie hat auch gesehen, wie Matt Robbie auf dem Gehsteig nachgeäfft hat, zur Belustigung seiner Kumpel mit den Ray Bans und Shetlandpullovern, ohne dass Robbie es mitbekam (der sie im Vorbeigehen sogar zögernd gegrüßt hatte), wie Matt ihn mit abgewinkelter Hand und einer tuntigen Grimasse imitiert hat.

»Ich schätze, wir sehen uns«, sagt Matt noch einmal.

»Ja, kann sein.« Elise zündet sich eine Newport King an. Dann steht sie auf und bläst ihm den Rauch ins Gesicht. »Und falls ich noch einmal mitkriege, dass du meinen Freund Robbie verarschst, dann fackle ich euch eure beschissene Bude ab.«

Der blaue Rauch hängt wartend in der Luft, und sie starrt Matt mit halbgeschlossenen Augen an, die plötzlich rot und stumpf wirken. Ein winziges Grinsen huscht über ihre Lippen.

»Wie bitte?«, fragt Matt schrill.

»Du hast schon verstanden«, sagt sie, Mission erfüllt, aber jetzt muss sie das Zittern in ihrer Stimme verbergen.

»Du kommst in mein Haus und machst mir {17}Vorschriften?« Matt gibt Elise einen Stoß, um zu sehen, was passierte.

Sie starrt ihre Schultern an, wo er sie berührt hat, dann hebt sie den Kopf und erwidert seinen Blick.

»Okay, Matt. Ich glaube, das reicht jetzt.« Jamey stellt sich zwischen die beiden.

»Sie soll verschwinden«, sagt Matt in den Raum.

»Da kannst du Gift drauf nehmen«, knurrt Elise.

Matt zeigt zur Tür. »Dann hau endlich ab.«

»Ich gehe, wann ich will.«

Sie dreht sich noch einmal um und findet Jameys Blick, der ihr – mit einem verblüfften kleinen Lächeln – hinterhersieht.

***

Elise liegt in ihrem dunklen Zimmer und ascht in eine Dr-Pepper-Dose, die neben der Matratze steht.

Sie gehört zu den wenigen Babys, die sich selbst beruhigen können, wenn sie allein in der Wiege liegen, und stundenlang an die Decke starren. Die meisten Menschen...