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Wen die Erinnerung trügt - Roman

Deborah Crombie

 

Verlag Goldmann, 2009

ISBN 9783641027568 , 384 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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9,99 EUR


 

Oktober 1945

Erika Rosenthal erwachte mit einem Ruck. Der dumpfe Einschlag der Bombe ließ sie zusammenfahren, und vor ihren geschlossenen Lidern zuckte der Lichtblitz des Feuersturms. Sie schlug die kratzende Wolldecke zurück und hatte schon die Hand nach David ausgestreckt, um ihn wachzurütteln, als ihr auffiel, dass die Nacht vollkommen still war. Keine Sirenen, kein grollender Geschützdonner. Sie rieb sich die vom Schlaf getrübten Augen und sah, dass das Licht der Straßenlaterne durch den Spalt zwischen den Schlafzimmervorhängen fiel und ein Muster auf die Bettdecke malte, schimmernd wie Mondschein. Es musste dieser Lichtglanz gewesen sein, der sich in ihr Unterbewusstsein eingeschlichen hatte, oder vielleicht die Spiegelung der Lichter eines vorbeifahrenden Autos. Sie musste sich erst noch an die nicht abgedeckten Scheinwerfer gewöhnen. Selbst in ihren wachen Stunden ließ ihr grelles Licht sie jedes Mal zusammenzucken.
Mit schmerzhaft pochendem Herzen sank sie auf das Kissen zurück und schimpfte über ihre eigene Torheit. Es war vorbei - der Krieg war schon seit Monaten zu Ende, und in London herrschte eine geradezu übernatürliche Stille. Ihr Verstand wusste es, aber nicht ihr Körper, und auch ihre Träume wussten es nicht.
David lag auf dem Rücken, reglos wie eine Marmorstatue, und nicht einmal im Licht, das durch die Vorhänge ins Zimmer drang, war das Heben und Senken seines Brustkorbs zu erkennen. Wiedergab ihr diese irrationale Angst einen Stich ins Herz. Sie legte die Finger ganz leicht auf die empfindliche Haut an der Innenseite seines Handgelenks und tastete nach dem beruhigenden Pochen seines Pulses. Das war eine Gewohnheit aus den Tagen der deutschen Luftangriffe, als sie im Rettungstrupp ihres Viertels Notting Hill gearbeitet hatte - das zwanghafte, unwiderstehliche Bedürfnis, sich zu vergewissern, dass ein Leben nicht so ohne weiteres ausgelöscht werden konnte.
Der Rhythmus von Davids Atem wurde plötzlich hörbar, und unter ihren Fingerspitzen spürte sie, wie sich sein Körper beim Erwachen anspannte.
'Es tut mir leid, Schatz', sagte sie. 'Ich wollte dich nicht wecken.' Sie hörte das mühsam unterdrückte Zittern des Verlangens in ihrer Stimme, doch statt einer Antwort zog David nur seine Hand von ihrer zurück und drehte sich weg.

Die gewaltigen Stuckpaläste der Kensington Park Road und der angrenzenden Straßen waren schon vor langer Zeit in separate Wohnungen aufgeteilt worden, in denen der stetig anschwellende Strom von Flüchtlingen aus allen Teilen der einst zivilisierten Welt eine notdürftige Unterkunft fand, ähnlich den Höhlenbewohnern des finsteren Mittelalters, die in den Galerien und Logen des Kolosseums Unterschlupf suchten.
Sir Osbert Lancaster, All Done from Memory, 1963

Es war ein absolut scheußlicher Tag für Anfang Mai, selbst in Anbetracht der bekannten Launenhaftigkeit des englischen Wetters. Kurz vor vier Uhr nachmittags war es schon düster wie zur Dämmerstunde, und der Regen prasselte unbarmherzig herab. Die Windböen hatten Henri Durrells Schirm immer wieder umgestülpt, bis er es schließlich aufgegeben hatte und nun mit gesenktem Kopf und hochgezogenen Schultern die Old Brompton Road hinunterstapfte, den Sturzbächen trotzend, die vom Himmel fielen. Während er den Wasserfontänen der vorbeifahrenden Autos auswich, musste er aufpassen, dass ihm nicht einer der mit stabileren Schirmen bewaffneten Passanten ein Auge ausstach.
Ein jäher Schmerz schoss ihm in die Hüfte, und er verlangsamte seinen Schritt. Er ging auf die achtzig zu, und das feuchte Wetter setzte seinen Gelenken ganz gemein zu, auch ohne die Belastung eines ungewohnten Dauerlaufs.

Was hatte er sich bloß dabei gedacht? Wäre er nur im Victoria and Albert geblieben, bis das Museum schloss, dann wäre das schlimmste Unwetter vielleicht schon vorüber gewesen. Er hatte sich mit einem Bekannten im Museumscafe zum Samstagnachmittags-Tee getroffen - immer eine nette Abwechslung -, doch er hatte es nicht lange ausgehalten, getrieben von dem Wunsch, so bald wie möglich wieder in seiner Wohnung in Roland Gardens zu sein, mit ihren verlockenden Annehmlichkeiten: seinem Buch, einem kräftigen Whisky, der wohligen Wärme des Gaskaminofens - und Matilde, seiner Katze.
Als ein vorüberhastender Passant Henri anrempelte, musste er stehen bleiben, um das Gleichgewicht wiederzuerlangen, und fand sich vor dem Schaufenster des Auktionshauses Harrowby's wieder. Ein Plakat warb für eine Versteigerung von Art-deco-Schmuck. Normalerweise war Henri als begeisterter Sammler auf diesem Gebiet stets auf dem Laufenden, doch er war gerade erst von einem Frühjahrsurlaub in seiner Heimat Burgund zurückgekehrt - wo Gott sei Dank die Sonne geschienen hatte - und hatte die Ankündigung dieser Auktion daher verpasst.
Sie sollte am kommenden Mittwoch stattfinden, wie er zu seiner Erleichterung sah. Er könnte sich immer noch einen Katalog kaufen und ihn in Ruhe studieren - falls es nicht schon nach vier war und das Auktionshaus geschlossen hatte. Rasch warf er einen Blick auf seine Armbanduhr: genau eine Minute vor vier. Henri schüttelte seinen nassen Schirm aus, wobei er sich selbst eine unfreiwillige Dusche verpasste, und schlüpfte rasch durch die noch offene Eingangstür von Harrowby's.
Wenige Minuten später kam er wieder heraus, aufgeheitert durch seine Errungenschaft und einen netten Plausch mit der Empfangsdame. Der Rest seines Heimwegs kam ihm weniger beschwerlich vor, obwohl der Regen nicht nachgelassen hatte. Zu Hause trocknete er sich ab, zog frische Socken an und schlüpfte in seine Pantoffeln, ein nicht ganz einfaches Unterfangen mit Matilde, die um seine Knöchel strich und ihn mit dem Kopf anstieß. Er entschied sich für Tee statt Whisky, um einer Erkältung vorzubeugen, und als dieser fertig gezogen hatte, schaltete er den Gasofen ein und machte es sich in seinem Lieblingssessel bequem, den Katalog auf den Knien balancierend. Er war exquisit gestaltet, wie es die Kataloge von Harrowby's immer waren - das Haus war noch nie durch einen Mangel an Stil aufgefallen -, und Henri schlug ihn mit einem Seufzer der Befriedigung auf. Nachdem er für die hartnäckige Katze Platz gemacht hatte, begann er die Broschüre durchzublättern, und die Schönheit der Stücke verschlug ihm schier den Atem. Er hatte Kunstgeschichte gelehrt, bis er vor kurzem in Pension gegangen war, und die klaren, innovativen Formen der Werke aus jener Periode sprachen ihn ganz besonders an.
Hier waren die großen Meister allesamt vertreten: ein Diamant-Saphir-Anhänger von Georges Fouquet, ein diamantener Cocktailring von Rene Boivin ...
Und dann erstarrte seine Hand in der Bewegung.