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Spuk in Hill House

Shirley Jackson

 

Verlag Festa Verlag, 2019

ISBN 9783865527080 , 100 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz frei

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5,99 EUR


 

4

Es war der erste wirklich schöne Tag im Sommer. Diese Jahreszeit weckte in Eleanor immer schmerzliche Erinnerungen an ihre frühe Kindheit, als es immer Sommer zu sein schien. Sie konnte sich an keinen Winter erinnern, bis zum Tod ihres Vaters an einem kalten regnerischen Tag. In letzter Zeit fragte sie sich oft, womit sie während dieser schnell aufgezählten Jahre all diese Sommertage vergeudet hatte. Wie hatte sie nur so leichtfertig damit umgehen können? Wie dumm von mir, sagte sie sich immer zu Beginn des Sommers, ich bin so dumm. Ich bin doch jetzt erwachsen und weiß um den Wert der Dinge. Alles hat seinen Sinn, redete sie sich gut zu, auch die Kindheit. Und danach wehte Jahr für Jahr wieder an einem Sommermorgen der warme Wind durch die Straße, durch die sie lief, und sie wurde von dem kalten Gedanken erwischt: Ich habe schon wieder nutzlos Zeit verstreichen lassen. Doch an diesem Morgen im kleinen Wagen, der ihr und ihrer Schwester gemeinsam gehörte, und sich sorgend, dass sie bald merken würden, dass sie ihn einfach genommen hatte, fuhr sie brav die Straße entlang, befolgte die Verkehrsregeln, hielt an, wenn es geboten war, und bog ab, wo sie abbiegen durfte, da lächelte sie ins schräg verlaufende Sonnenlicht und dachte, ich fahre weg, ich fahre weg, endlich bin ich den Schritt gegangen.

Immer wenn sie bisher mit Erlaubnis ihrer Schwester den kleinen Wagen fuhr, bewegte sie sich nur mit äußerster Vorsicht voran, um selbst die leichtesten Kratzer oder die kleinste Beule zu vermeiden, die ihre Schwester stören könnten. Heute hingegen mit dem Karton auf dem Rücksitz, dem Koffer auf dem Boden, ihren Handschuhen, der Handtasche und einem leichten Mantel auf dem Beifahrersitz gehörte der Wagen ganz und gar ihr, ihre eigene kleine, in sich geschlossene Welt. Ich fahre wirklich weg, dachte sie.

An der letzten Ampel, bevor sie aus der Stadt hinaus auf die Fernstraße einbog, hielt sie an, wartete und zog Dr. Montagues Brief aus der Tasche. Ich werde nicht einmal eine Landkarte brauchen, dachte sie. Er muss ein sehr gewissenhafter Mann sein.

»… Route 39 nach Ashton«, stand im Brief, »dann links abbiegen auf die Route 5 nach Westen. Wenn Sie auf dieser Route weiterfahren, kommen Sie nach knapp 30 Meilen in das kleine Dorf Hillsdale. Fahren Sie durch Hillsdale hindurch bis zu einer Kreuzung, an der links eine Tankstelle und rechts eine Kirche ist, und biegen Sie dort links in eine recht schmale Landstraße ab. Sie führt in die Hügel hinauf, und die Fahrbahn ist in schlechtem Zustand. Folgen Sie dieser Straße, und nach etwa sechs Meilen gelangen Sie an die Pforte von Hill House. Ich beschreibe den Weg so detailliert, weil es nicht ratsam ist, in Hillsdale anzuhalten und nach dem Weg zu fragen. Die Leute dort sind Fremden gegenüber sehr unhöflich und werden geradezu feindselig, wenn man sich nach Hill House erkundigt. Ich freue mich sehr, dass Sie mit uns in Hill House sein werden, und es wird mir ein großes Vergnügen sein, am Donnerstag, dem 21. Juni Ihre Bekanntschaft zu machen …«

Die Ampel schaltete um auf Grün. Sie bog auf die Fernstraße und ließ die Stadt hinter sich. Niemand kann mich jetzt noch einfangen, dachte sie. Die wissen ja nicht einmal, wohin ich fahre.

Sie war noch nie allein so weit gefahren. Der Gedanke, die schöne Reise nach Meilen und Stunden einzuteilen, war dumm. Während sie den Wagen genau in der Mitte zwischen der weißen Linie auf der Straße und den Bäumen am Straßenrand anhielt, sah sie alles als eine Folge vorbeiziehender Momente, von denen ein jeder neu war und sie auf einen Weg von unglaublicher Neuheit zu einem ganz neuen Ort mitnahm. Die Reise selbst war für sie ein Akt der Befreiung. Das Ziel war unklar, sie konnte es sich nicht vorstellen, vielleicht existierte es gar nicht. Sie wollte jede Kurve auf ihrer Fahrt genießen, liebte die Straße und die Bäume, die Häuser und die hässlichen kleinen Ortschaften und spielte mit dem Gedanken, einfach irgendwo anzuhalten und dort für immer zu bleiben. Sie könnte am Straßenrand anhalten – obwohl das nicht erlaubt war, sagte sie sich. Sie würde bestraft werden, wenn sie das wirklich täte – und könnte den Wagen stehen lassen und einfach an den Bäumen vorbei ins freundliche, verheißungsvolle Land dahinter wandern. Sie könnte bis zur Erschöpfung gehen, Schmetterlingen nachjagen oder dem Lauf eines Baches folgen und dann bei Einbruch der Dunkelheit zur Hütte eines armen Holzfällers gelangen, der ihr Unterschlupf bieten würde. Sie könnte East Barrington oder Desmond oder das eingemeindete Dorf Berk für immer zu ihrem neuen Zuhause machen. Sie könnte auch nie wieder die Straße verlassen, sondern einfach immer weiterfahren, bis die Reifen ihres Wagens verschlissen wären und sie das Ende der Welt erreichen würde.

Und, dachte sie, ich könnte ebenso gut bis nach Hill House weiterfahren, wo man mich erwartet und mich aufnimmt, wo ich Kost und Logis und ein kleines symbolisches Honorar erhalte in Anbetracht der Tatsache, dass ich andere Tätigkeiten und Verpflichtungen in der Stadt aufgegeben habe, und dafür, dass ich nicht fortlaufe, um die Welt zu sehen. Ich bin neugierig auf Dr. Montague. Ich bin neugierig auf Hill House. Ich bin neugierig darauf, wer sonst noch da sein wird.

Sie war nun schon fern von der Stadt und hielt nach der Abzweigung zur Route 39 Ausschau, nach dem Zauberfaden, den Dr. Montague für sie ausgelegt hatte, ausgewählt aus allen Straßen der Welt, der sie sicher zu ihm und nach Hill House führen würde. Keine andere Straße konnte sie von dort, wo sie sich befand, dorthin bringen, wo sie hinwollte. Dr. Montague wurde bestätigt, er schien unfehlbar zu sein. Unter dem Schild, das auf die Abzweigung zur Route 39 hinwies, war ein weiteres Schild, auf dem stand: ASHTON, 121 MEILEN.

Die Straße, inzwischen ein guter Vertrauter, bog und neigte sich, vollzog Kurven, hinter denen Überraschungen auf sie warteten – einmal eine Kuh, die sie über einen Zaun anblickte, einmal ein gelangweilter Hund –, führte in Talkessel hinab, in denen kleine Ortschaften lagen, vorbei an Feldern und Obstgärten. An der Hauptstraße eines Dorfes kam sie an einem riesigen Haus vorbei, mit Säulen verziert und von Mauern umgeben, mit geschlossenen Fensterläden und zwei steinernen Löwen, die vor der Treppe wachten. Sie stellte sich vor, wie es wäre, hier zu wohnen, jeden Morgen die Löwen abzustauben und ihnen jeden Abend vor dem Zubettgehen über die Köpfe zu streichen.

Heute, an diesem Morgen im Juni, beginnt eine neue Zeitrechnung, redete sie sich selbst ein, aber es ist eine Zeit, die seltsam neu und für sich bleibt. In diesen wenigen Sekunden habe ich ein ganzes Leben in einem Haus verbracht, vor dem zwei Löwen stehen. Jeden Morgen habe ich die Veranda gekehrt und die Löwen abgestaubt, und jeden Abend habe ich ihre Köpfe gestreichelt, und einmal die Woche habe ich ihnen Gesicht, Mähne und Pranken mit warmem Sodawasser gewaschen und die Fugen zwischen ihren Zähnen mit einer Bürste gereinigt. Drinnen im Haus waren die Räume hoch und hell mit glänzenden Fußböden und sauberen Fenstern. Eine zierliche alte Dame kümmerte sich um mich, bewegte sich steif mit einem silbernen Teeservice auf dem Tablett und brachte mir jeden Abend zum Wohle meiner Gesundheit ein Glas Holunderwein. Ich nahm das Abendessen an dem weiß gedeckten Tisch im langen stillen Esszimmer allein ein, während zwischen den hohen Fenstern die weiße Täfelung der Wände im Kerzenschein erstrahlte. Ich verspeiste Geflügel, Radieschen aus dem Garten und selbst gemachtes Pflaumenkompott. Ich schlief unter einem Baldachin aus weißem Organdy, und ein Nachtlicht von der Diele her beschützte mich. Die Leute verbeugten sich vor mir auf der Straße, denn alle waren sehr stolz auf meine Löwen. Als ich starb …

Inzwischen hatte sie die Stadt weit hinter sich gelassen und fuhr an schmutzigen, geschlossenen Imbissbuden und an zerrissenen Plakaten vorüber. Früher musste es hier in der Nähe einen Jahrmarkt gegeben haben mit Motorradrennen. Den Plakaten waren noch Wortfetzen zu entnehmen. Auf dem einen stand KERL und auf einem anderen TEUFEL, und sie musste darüber lachen, dass sie überall nach irgendwelchen Omen suchte. Das Wort heißt TEUFELSKERL, Eleanor, das ist ein tollkühner Fahrer, und sie bremste etwas ab, denn sie fuhr tatsächlich zu schnell und würde so vermutlich zu früh in Hill House ankommen.

An einer Stelle hielt sie tatsächlich neben der Straße an und traute ihren Augen kaum. Über etwa eine Viertelmeile hinweg hatte die Straße an einer Reihe gut gepflegter Oleanderbäume entlanggeführt, die in gleichmäßigen Abständen in Rosa und Weiß blühten. Jetzt war sie an die Toreinfahrt gekommen, die die Bäumchen umgaben, und hinter der Einfahrt setzte sich die Baumreihe fort. Das Tor bestand lediglich aus zwei verfallenen Steinsäulen, zwischen denen eine Straße hinaus in die leeren Felder führte. Sie konnte sehen, dass die Oleanderbäume von der Straße wegführten und zu jeder Seite ein großes Quadrat bildeten, und sie konnte bis ans andere Ende des Quadrats sehen, wo eine Reihe von Oleanderbäumen anscheinend den Lauf eines kleinen Flusses begleitete. Im Innern des Oleandervierecks war nichts, kein Haus oder sonst ein Gebäude, nur die Straße, die geradewegs hindurchführte und an dem kleinen Fluss endete.

Was ist einst hier gewesen, fragte sie sich, was ist hier gewesen und nun verschwunden? Oder was sollte hier mal gebaut werden und ist nie geschehen? Sollte es ein Haus, ein Garten oder eine Obstplantage werden? Wurden die Leute für immer vertrieben, oder werden sie zurückkehren? Oleander sind giftig, erinnerte sie sich. Konnte es sein, dass die Bäume...