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Rohstoff Elements

Jörg Fauser

 

Verlag Diogenes, 2019

ISBN 9783257609455 , 320 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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20,99 EUR


 

Nirwana im Norden


Ein Script der Siebziger Jahre

»Time to move into first place«

(W.S.B.)

GALAERÖFFNUNG. Die Szene ist überall, und es ist überall dieselbe Szene. Man sitzt sich in irgendeinem Wohnklo gegenüber, im Spülstein der Abwasch vom letzten Karneval, der Hund schlappt am Bier, auf dem Plattenteller John Coltranes »Equinox«, nämlich »Sonnenfinsternis«, die Demolierungstrupps machen Mittagspause, man füttert seinen Affen mit Cuba Libre und stellt die Totenscheine aus:

»Diese Suizid-Welle«, sagt Dimi, während er in der »Baltischen Adelszeitung« blättert, »allein in Schwabing 23 …«

Keine Ahnung, warum wir es sind die überleben.

»Den Weg der Maschinenfabrik Shanghai gehen«, fordert der Mann von der RAF im Gerichtssaal. Time for a change!, jubelt der Weather-Man, als er sich mit seiner Bombenküche in die Luft jagt. Doktor Junk konfiszierte auf andere Art: Überdosis im Gülhane Hilton, Überdosis im Berliner Zimmer, Überdosis Zeit & Zero im grünen Badezimmer am Ende der Welt, Frankie Machine alias Hermes der den Kopf in die Schlinge legt und den Stuhl wegkickt1.

Der Marxist in der Beletage mixt sich noch einen Mao Tonic: »Für Cut-up-Reaktionäre und Beat-Dekadente gibt es kein Papier auf Bezugsscheine, Herr Gelb.«

Ixca der Amokläufer, Fred Smack, Trichlor-Terry, Jojo, Tiki der Koma-Kid massieren ihre steifen Venen im Letzten Onkel Max am Ende aller Straßen2 … »Schätze es fällt wieder ’ne Menge Schnee auf die Irren in Bakirköy, Ede3« … »Aber wir hams schön warm« … kalte Kuddeln in Saloniki, der Alte Bange schaffte es nicht mehr, Abgang über dem verbogenen Löffel vom Café Europa, 23mal die kalte Hand von Doktor Junk:

»Was ihr draußen seht ist bloß das was ihr schon vorher hingestellt habt. Zeit zurückzukehrn ins Vorher, Jungs.«

Eine Retrospektive aus der Asche westlicher Alpträume.

 

MAINLINE-TANGO. Vestibül im Finas Palas Hotel in Cholera City. Verstaubte Palmwedel, fetter syrischer Patron mit Zahnstocher im Mund, Klappern von Gebetsschnüren und Tabla-Würfeln, manchmal der lustlose Schrei einer Hure die mit dem Messer angegeilt wird. Und vom Hafen rüber das Tuten der Frachtkähne und das Heulen der Nebelhörner. Ab und zu eine MG-Salve in den Armenvierteln. Es gibt keinen Impfstoff mehr. Und es gibt kein Heroin mehr. Dafür gibt es Leichen.

Das Finas ist eine Absteige für armenische Existenzialisten, kirgisische Doppelagenten ohne Spesenkonto, drittklassige ausrangierte Filmschauspieler mit angeklebtem Douglas-Fairbank-Lächeln, und die üblichen Sex- und Crime-Süchtigen aus den Selbstmordzonen der europäischen Metropolen.

Ich fuhr zusammen. Der Mann mit der Financial Times hatte mich angesprochen:

»Kennen Sie den Mainline-Tango?«

Ich folgte ihm in die Bar. Auf der Tanzfläche drehten sich ein paar pockennarbige Transvestiten in Nostalgie-Kleidern aus der Vogue der 30er Jahre. Nach jeder Drehung imitierten sie mit schmutzigen Gummispritzen die alten tristen Fixer-Bewegungen.

»Unglaublich, nicht? Ich heiße Christopher. Nehmen Sie auch einen Pink Gin?«

»Danke. Trinke nicht im Dienst, Mr Isherwood.«

Der Mann drückte seine Fatima aus und verzog sich.

An der Jukebox dünner blonder Junge konzentriertes Gesicht des Junkies nach dem Fix. Tiki. Er lächelte mir zu.

»Que tal, amigo?«

Er zuckt die Achseln … 20 Jahre Knast Cold-turkey Klapsmühle Paranoia in Para-City4 und immer das dünne Lächeln bis sie ihm die Zähne einzeln rausbrechen und seine Lippen zerfetzen aber das Lächeln bleibt genau dort wo es immer war manche nennen es das Chinesische Lächeln er drückt zwei Münzen in den Schlitz –

»Coke?« –

»Claro« –

dieses Lächeln ist Junk.

Blick auf Hochspannungsmaste, Rangiergleise, Stellwerke, Busdepots, Flohmärkte, baufällige Krankenhäuser, abbruchreife Irrenhäuser, Schlachthöfe, Stahlbrücken, Wellblechsiedlungen und drüben die tanzenden Lichter von Üsküdar. Die ganze Nacht fällt Schnee. Mainline-Tango von Radio Cholera. Der Junge in dem zerschlissenen Sessel schläft mit offenem Mund, Junk lächelt sein Nicht-Lächeln im Schlaf.

 

TIKI WAS HERE. Stehbierkneipe DOLLE LOLA in Schwabing. Ranzige Pommes frites kalte Pizza Schlagzeile einer Boulevardzeitung BADER-MEINHOF: DER SPUK IST VORBEI. Jugoslawischer Kellner mit Boxer-Nase unterhält sich leise mit einem Landsmann die Ustascha kassiert ab. An der Musikbox zwei Schulmädchen in rosa Maximänteln, die nach Beatles-Platten suchen.

Kamera fährt langsam auf den Flipper neben der Toilettentür zu. Totale. Tiki der Junge aus dem Hotel GILDA flippert ohne sich um die Kugeln zu kümmern Augen starr auf die Kamera gerichtet. Er trägt eine abgewetzte Wildlederjacke blau-grau gemustertes Flanellhemd dunkelblauen Seidenschal weiße schmutzige Jeans und halbhohe Lederstiefel. Auf einem Hocker neben ihm halbleere Tasse Kaffee Rauch einer Zigarette Marke Player’s die Beatles steigen ein in A HARD DAYS NIGHT Tiki wischt mit dem Schal Schweiß vom Gesicht.

Kameraschwenk auf Schulmädchen die sich an einen Tisch in Tikis Nähe gesetzt haben. Die Blonde dreht kichernd an einem billigen Türkisring die Schwarze mit dem Rücken zu Tiki kramt in ihrer Umhängetasche. Sie öffnet eine Kompakt-Kassette und beobachtet Tiki in deren Spiegel. Tiki wendet den Blick von der Kamera und starrt die Mädchen an bis SIE NICHT MEHR DA sind … ein undeutlicher Schatten der sich auflöst wie Zigarettenrauch … Tiki wirft zwei Münzen in den Flipper. Kameraschwenk zur Tür. Die CONNECTION kommt.

 

IXCA UND WASHBURN. Ixca und Washburn nahmen sich den graumelierten Kommissar vor und puderten ihm im Badezimmer eins über.

»Immer schön langsam, Ixca, der Saftsack soll erst mal was ausspucken.«

»Ja, aber nachher geb ich ihm seine Klöten zu fressen!«

Ein Zustand Totaler Retrograder Amnesie … Sie zünden sich eine Zigarette an und pfut! wachen dreißig Jahre früher als Darling Doll im Café Nirwana auf, während zwei senegalesische Literaturpreisträger es ihnen mit dem Schneebesen verpassen.

»Wie bin ich nur hierhergekommen?«

Ixca zerschlägt die Einrichtung, Washburn kackt die Perserteppiche voll und wischt sich mit der Erstausgabe von Cocteaus OPIUM den Hintern ab.

»Keine Bange, Gide, du kommst auch noch dran! DEBOUT TOULOUSE-LAUTREC

Der Himmel pisst marinierte Hamburger Marys, vor der Ahmadya-Moschee versammelt sich eine riesige Menschenmenge.

»Wen hats denn da erwischt?«

»Alle.«

»Hörst du, Washburn: ALLE! Die Letzten Koraner haben sich im Großen Grünen Rausch die Schwänze abgesäbelt!«

»Wow … der ALLAH-Fick!«

Ixca spielt auf seinem Kassettenrecorder eine Aufnahme türkischer Derwische, die sich in Ekstase kreischen, Washburn antwortet mit einer Nummer der SINGAPUR DOLLS, einer chinesischen Transvestitenoperette die in den 20er Jahren halb Nirwana in Wahnsinn versetzte. Wüstes Geheul, dann wälzen sich ein paar nackte makrobiotische Pakistanis mit Schaum vorm Mund aus der Moschee, die Sekunden später mit einem fast lautlosen Pfnunk! zu Staub zerfällt.

»Saubere Arbeit, Jungs!«

Die Pakistanis klopfen den Dreck von ihren Hodensäcken, ziehen ihre Klamotten an und strecken die Hand aus: »Bakschisch, Sahib! A little Opium, please!«

»You f‌ilthy junkie faggots, drop dead!«

Ixca zerstreut die Menge mit einem Kanister MACE-Tränengas.

»Weiß gar nicht warum die sich verdünnisieren, es geht doch nichts über den guten alten MACE-High: eine Stunde auf Knien rutschen, während dir die Augen verbrennen und du vergeblich nach Luft schnappst … ach ja, das MACEDELIKA von 68 …«

»Werd nicht sentimental, Bimbo!«

Fat City wälzt sich vorbei, Schwänze aus Blei und Permanganat spritzen radioaktiven Saft auf den Needle Park5, wo wir alle vor die Hunde gehen.

 

DIE HARRY GELB RETROSPEKTIVE. Im Frühjahr 70 hatte sich Harry in der Nähe von Kraut City aufs Land geflüchtet. Es kamen einige verschlüsselte Mitteilungen aus denen niemand schlau wurde. Er lebte angeblich mit einer philippinischen Anthropologin (in anderer Auslegung hieß das: indianische Wahrsagerin aus dem Stamm der Auca) die ihm das Leben zur Hölle machte.

Kalter grauer Juniabend in Kraut City. Gelb holte mich vom Bahnhof ab. Langer zerfranster Regenmantel blaue Schirmmütze eine Players zwischen seinen braunen Junkie-Zahnstummeln.

»Ich gebe hier den englischen Schriftsteller ab. Aber sie halten mich trotzdem alle für einen Rauschgifthändler.«

Sein Gesicht war aufgedunsen blutunterlaufene Augen zitternde Hände.

»Du siehst aus wie der Dorfdipsomane aus einem Fallada von 1936

»Ich kannte Fallada damals: ein vierschrötiger Bienenzüchter der über einem Glas gegorenen Obstsaft die Beherrschung verlor. Aber als Junkie konnte man nur von ihm lernen.«

Gelb konnte sich...