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Der Fluch von Carrow House

Darcy Coates

 

Verlag Festa Verlag, 2019

ISBN 9783865527776 , 416 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz frei

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4,99 EUR


 

2

Seine kalten Augen

Carrow House den staunenden Blicken ihrer Gäste zu präsentieren, gehörte zu Remys Lieblingsmomenten auf ihren Führungen. Das Gebäude war die perfekte Mischung aus Dekadenz und Verfall. Remy ließ der Gruppe ein paar Minuten Zeit, um den mit Spinnweben überzogenen Kronleuchter hoch über ihnen zu bewundern, die prächtige geschwungene Doppeltreppe, die sich im hinteren Bereich der Halle in den Schatten versteckte, die aufgeschlitzten Porträts an den Wänden und die Mahagoni-Lehnstühle, die noch die Spuren von Axthieben aufwiesen.

Remy winkte den Gästen, weiter hereinzukommen. »Carrow House wurde im Jahre 1901 von John Carrow und seiner Frau Maria erbaut. John war ein hoch angesehener Arzt, wenn auch vielleicht nicht gerade der begnadetste Geschäftsmann, den die Welt je gesehen hat. Er errichtete das Gebäude als Kurzentrum in der Überzeugung, dass die salzige Meeresluft die Heilung zahlreicher Krankheiten unterstützen würde. Kurzentren waren damals seit fast einem Jahrzehnt in den höheren Gesellschaftsschichten äußerst beliebt, aber leider flaute diese Modeerscheinung bereits wieder ab, als John das Cliffside Kurzentrum und Sanatorium eröffnete.«

Sie führte die Besucher zu einer Reihe gerahmter Schwarz-Weiß-Fotos an der Wand neben der Tür und ließ ihnen einen Moment, um die Bilder zu betrachten. Sie zeigten ein Gebäude, das sich nicht allzu sehr vom modernen Carrow House unterschied – ein ausladendes steinernes Herrenhaus mit Dutzenden von hohen, dunklen Fenstern. Gruppen von Patienten saßen in einem gepflegteren und jüngeren Garten, einige in Decken gehüllt, andere in Korbrollstühlen, umgeben von Krankenschwestern. »Diejenigen, die sich die exorbitanten Preise des Sanatoriums leisten konnten, waren nicht sehr von den strikten Regeln des Hauses angetan. John Carrow erlegte den Patienten eine strenge Nachtruhe ab halb acht auf, bestand darauf, dass sie zweimal täglich im eiskalten Meer badeten, und strich jede Form von Zucker, Fett und Alkohol aus ihren Diäten. Das Sanatorium hatte von Anfang an mit finanziellen Problemen zu kämpfen.«

Remy ging langsam rückwärts und führte die Gäste dabei zu einer Sammlung verkohlter antiker Gegenstände, die auf einem Tisch in einer Ecke der Eingangshalle ausgestellt waren. »1906, kaum fünf Jahre nach dem Bau des Hauses, brach in einem der Salons ein Feuer aus und verbreitete sich rasend schnell im ganzen Haus. Der untere Teil des Westflügels und die oberen Stockwerke erlitten schwere Schäden. Auch wenn der Brand letztlich als Unglücksfall eingestuft wurde, verdächtigten viele Leute John oder seine Frau Maria, das Feuer gelegt zu haben in dem Versuch, dieses Fass ohne Boden loszuwerden. Falls das tatsächlich ihr Plan war, so hatten sie damit Erfolg. Sie kassierten eine beträchtliche Summe von ihrer Versicherung und verwendeten das Geld, um das Gebäude umzugestalten.«

Remy zeigte auf die Fotos mit den Korbrollstühlen, gefliesten Badewannen und uniformierten Krankenschwestern und machte dann eine ausladende Geste, die die opulente Eingangshalle umfasste. »Sie wandelten das Sanatorium in ein Luxushotel um und nannten es Carrow Hotel. Statt Salzbädern gab es jetzt Seidenbettwäsche, statt Kräutertees Cocktails. Das medizinische Personal wurde gefeuert und durch Hausmädchen, Butler und eine Truppe Entertainer ersetzt. Innerhalb von drei Wochen verwandelte sich Carrow Hotel von einem überholten, langweiligen Gesundheitstempel in einen angesagten Treffpunkt der feineren Gesellschaft, und das trotz seiner abgeschiedenen Lage. Und so blieb es für sechs friedliche Jahre.«

Sie hob vielsagend die Augenbrauen, dann drehte sie sich zu den Lehnsesseln vor dem prachtvollen Kamin um, der die gegenüberliegende Seite der Eingangshalle zierte. »In ihrem Eifer, das Hotel neu zu beleben, hatten John und Maria Carrow es versäumt, gründlich die Vergangenheit ihrer Angestellten zu überprüfen. Hätten sie es getan, dann hätten sie entdeckt, dass ihr Gärtner, Edgar Porter, erst vier Jahre zuvor wegen Mordes angeklagt worden war. Ihm wurde vorgeworfen, seine Frau getötet zu haben, aber er wurde aus Mangel an Beweisen freigesprochen. Man fragt sich, ob die Geschworenen wohl zu einem anderen Urteil gelangt wären, wenn sie gewusst hätten, dass das Opfer seine dritte Frau war und die beiden vorherigen innerhalb eines Jahres nach ihrer Hochzeit auf Nimmerwiedersehen verschwanden.«

Ein Murmeln lief durch die Gruppe. Eine der jüngeren Frauen hielt sich die Hand vor den Mund, um ein nervöses Lachen zu unterdrücken.

Remy – immer wieder über die Reaktionen erfreut, die ihre Geschichte hervorrief – senkte den Kopf, sodass ihre Gesichtszüge von dunklen Schatten konturiert wurden. »Am Abend des 10. November 1912 brach in der Küche ein Feuer aus. Obwohl es schnell gelöscht wurde und nur geringen Schaden anrichtete, ließen John und Maria das Gebäude räumen. Als das Personal am nächsten Morgen zurückkehrte, waren die Türen verschlossen und eine Mitteilung war an das Holz genagelt worden, die verkündete, dass Carrow Hotel geschlossen bleiben würde, bis das Gebäude renoviert war. Wie man sich vorstellen kann, brodelte die Gerüchteküche. Zwei Brände in sechs Jahren? Entweder wurde das Haus extrem vom Pech verfolgt oder es steckte mehr dahinter.

Carrow Hotel blieb fast vier Monate geschlossen. Als es wieder öffnete, stand John allein in der Tür. Seine Frau sei verstorben, behauptete er mit gesenktem Kopf, eine Hand auf sein Herz gelegt. Der Kummer, ihr Hotel zum zweiten Mal in Flammen aufgehen zu sehen, sei zu viel für sie gewesen und habe sie dahingerafft.« Remy ahmte die Geste nach; sie legte eine Hand auf die Brust und senkte ihren Kopf. Dann blickte sie wieder auf. »Die Hotelgäste machten die Trauer für die Veränderung von Johns Aussehen verantwortlich.«

»Oooh.« Eine der älteren Damen, die begriff, was Remy andeuten wollte, klammerte sich fester an den Arm ihrer Begleiterin.

»Nach allem, was wir heute wissen, hat wohl Edgar Porter, der Gärtner, das Feuer gelegt. Er versteckte sich im Haus, während Gäste und Angestellte evakuiert wurden, dann ermordete er John und Maria, sobald sie allein waren. Er hatte fast sechs Jahre in ihrer unmittelbaren Nähe gelebt und während dieser Zeit Johns Sprechweise, seine Eigenheiten und sein Lachen studiert. Einige Leute behaupteten, es hätte ohnehin bereits eine gewisse Ähnlichkeit zwischen den beiden Männern gegeben, die noch verstärkt wurde, als Edgar die Kleidung seines früheren Arbeitgebers anzog. Für die Neueröffnung des Hotels wurde ganz neues Personal eingestellt, und keinem der Gäste fiel auf, dass der Mann, der sie willkommen hieß, ein paar Zentimeter größer und ein kleines bisschen hagerer war als ihr alter Gastgeber.«

Remy drehte sich wieder zum Kamin um und zeigte auf ein prächtiges Ölporträt, das darüber hing. Ein dünner Mann mit eingefallenen Wangen, stahlgrauem Haar und stechenden Augen blickte auf die Besucher herab. »Edgar ließ dieses Porträt sechs Wochen, nachdem er Carrow Hotel übernommen hatte, anfertigen, vielleicht um seinen Anspruch auf das Gebäude zu untermauern.«

»Er sieht verschlagen aus«, meinte der rundliche Brillenträger. Er schob seine Brille mit dem Finger hoch und wippte auf den Fußballen. »Als wäre sein Kopf voller kranker Gedanken.«

»Vielleicht war es so. Es ist hauptsächlich ihm zu verdanken, dass Carrow House als das berüchtigtste Spukhaus des Bundesstaates gilt.« Remy ließ ihren Blick eine Sekunde auf dem vertrauten Gemälde ruhen. Es war meisterhaft ausgeführt, und die grauen Augen schienen Remy überallhin zu verfolgen. Ein Kribbeln kroch über ihre Haut. Sie wandte dem Bild den Rücken zu und grinste ihre Besucher an. »Gehen wir nach oben.«

Sie führte die Gäste über einen staubigen, verschlissenen Teppich zur Treppe am hinteren Ende der Halle. Die Holzstufen knarrten, als sie hinaufgingen, und Remy sah, dass die beiden älteren Freundinnen sich am Geländer festklammerten, als hätten sie Angst, die Treppe könnte unter ihnen einstürzen.

Der Brillenträger lief ein paar Stufen hinauf, um Remy einzuholen. »Wohnt heute noch jemand in diesem Haus?«

»Nein, seit fast 20 Jahren nicht mehr.« Die Treppe machte eine Wendung, deshalb blieb Remy auf dem Absatz stehen, damit die anderen Gäste sie ebenfalls hören konnten. »Sie werden verstehen, warum, wenn ich Ihnen mehr von der Geschichte des Hauses erzähle. In den Achtzigern gab es Überlegungen, das Haus abzureißen und an seiner Stelle etwas weniger Düsteres zu bauen, aber das Grundstück ist nicht besonders viel wert und es ist zu weit weg von der Stadt, um von großem Nutzen zu sein. Die aktuellen Besitzer haben seinen Ruf als Spukhaus akzeptiert und mir freundlicherweise gestattet, diese Führungen zu veranstalten.«

Von diesem Punkt, den halben Weg die Treppe hinauf, hatten sie einen ausgezeichneten Blick auf die Eingangshalle. Remy zeigte auf die Stühle, den vom Alter zerfressenen Teppich, die kunstvoll geschnitzten Türen. »Die meisten dieser Möbel stammen aus Edgars Zeit. Sie waren eine Zeit lang eingelagert, wurden aber wieder aufgestellt, als das Hotel endgültig geschlossen wurde. In den Gästezimmern werden Sie außerdem einige der Originalbetten und -schränke sehen.«

Sie ging weiter die Treppe hinauf und hob ihre Stimme, damit alle sie hören konnten. »Carrow House hat 22 Gästezimmer, dazu Freizeiträume im Erdgeschoss und Personalwohnungen auf dem Dachboden. Der Hausbesitzer – erst John, dann Edgar – wohnte immer in dem Zimmer mit dem besten Blick aufs Meer. Wir werden es später noch besuchen, aber erst...