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Die Strafe

Meg Gardiner

 

Verlag Heyne, 2009

ISBN 9783641027711 , 496 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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8,99 EUR


 

KAPITEL I
Später erinnerte sich Seth an kalte Luft und flammende Streifen am westlichen Himmel, an Musik in seinen Ohren und sein heftiges Atmen. Später verstand er, und dieses Verständnis steckte wie ein Stachel in seinem Gedächtnis. Er hatte sie nicht einmal kommen hören.
Der Weg durch den Golden Gate Park war von tiefen Furchen durchzogen, und er hatte beim Fahren die Kopfhörer aufgesetzt und die Lautstärke hochgedreht. Die Gitarre war im Rucksack über die Schultern geschnallt. Durch die Eukalyptusbäume flackerte tiefrot der Sonnenuntergang. Am Kennedy Drive hüpfte er mit dem Fahrrad über den Randstein, raste über die Straße und nahm die Abkürzung durch den Wald. Nur noch einen halben Kilometer bis nach Hause.
Er war spät dran. Aber wenn er Gas gab, schaffte er es vielleicht trotzdem vor seiner Mom nach Hause. Sein Atem dampfte durch die Luft. In seinen Ohren dröhnte die Musik. Fast hätte er Whiskeys Bellen überhört.
Er warf einen Blick über die Schulter. Fünfzig Meter hinter ihm stand der Hund stocksteif auf dem Weg. Schlitternd stoppte Seth. Er schob die Brille hoch, aber der Pfad lag im Schatten, und er konnte nicht erkennen, warum Whiskey bellte.
Er piff und winkte. »Hey, jetzt komm schon.«
Whiskey war ein großer Hund, zum Teil Irish Setter, zum Teil Golden Retriever. Und zum Teil Sofakissen. Dazu so lieb, dass es schon fast wehtat. Aber jetzt war sein Nackenfell gesträubt.
Wenn ihm Whiskey davonlief, brauchte er bestimmt ewig, um ihn wieder einzufangen. Dann kam er richtig zu spät. Doch Seth war fünfzehn – erst in einem Monat, na schön – und für Whiskey verantwortlich.
Wieder pfiff er. Whiskeys Blick huschte nur kurz zu ihm herüber. Der Hund war eindeutig beunruhigt.
Seth zupfte die Ohrstöpsel heraus. »Whiskey, jetzt komm endlich.«
Der Hund rührte sich nicht. Hinter dem Park auf der Fulton Street rauschte der Verkehr. In den Bäumen sangen Vögel, oben donnerte ein Flugzeug. Und er hörte Whiskey knurren.
Seth fuhr zu ihm zurück. Vielleicht ein Waschbär; Waschbären konnten selbst in San Francisco Tollwut haben.
Neben dem Hund stoppte er. »Hey, Junge, ganz ruhig.« Hinten auf dem Kennedy Drive wurde eine Autotür zugeschlagen. Das Knirschen von Stiefeln auf Blättern und Kiefernnadeln. Whiskey legte die Ohren an. Seth packte ihn am Halsband. Der Hund zitterte vor Anspannung.
Der Vogelgesang war verstummt.
»Bei Fuß.« Seth drehte sich um.
Zehn Schritt von ihm entfernt im Halbdunkel stand ein Mann. Die Überraschung prickelte hoch bis in Seths Haarspitzen.
Der kahlgeschorene Schädel des Mannes ging ohne Unterbrechung direkt in die Schultern über. Die Arme hingen an den Seiten herunter. Er sah aus wie eine Frankfurter, die den ganzen Tag gekocht worden war.
Er deutete mit dem Kinn auf Whiskey. »Ein echter Prachtkerl. Wie heißt er?«
Die Sonne war fast untergegangen. Warum trug der Typ eine Sonnenbrille?
Der Kerl schnippte mit den Fingern. »Komm zu mir, Hund.«
Seth hielt Whiskey am Halsband fest. Das Prickeln war jetzt überall, und hinter den Augen spürte er ein helles Klopfen. Was wollte der Typ?
Der Kerl neigte den Kopf. »Ich hab dich gefragt, wie er heißt, Seth.«
Hinter Seths Augen hämmerte es jetzt laut. Seth war schlaksig und hatte kupferfarbenes Haar, das abstand wie Stroh, und blassblaue Augen, die ideal waren für den strafenden Ausdruck, den seine Mutter als Tausendmeterblick bezeichnete. »Du siehst mich schon genauso an wie dein Vater«, sagte sie manchmal. »Warum immer ich?«
Seth umklammerte Whiskeys Halsband. Warum immer er? Warum, warum – o Scheiße, das hier hatte was mit seinem Dad zu tun.
Was wollte der Typ? Und wieso von ihm?
Los! Er hackte in die Pedale und zischte ab wie ein Windhund, im Neunziggradwinkel weg von dem Typen, direkt in den Wald.
»Whiskey, Fuß«, brüllte er.
Es gab keinen Pfad, nur holperigen Boden, der mit braunem Gras und Laub bedeckt war. Seine Hände krallten sich um den Lenker, und er strampelte mit einer Heftigkeit, die er seinen Beinen nicht zugetraut hätte. Seine Brille hüpfte auf der Nase. Die Ohrstöpsel flogen nach unten und prallten gegen den Rahmen. Blecherne Klänge waberten heraus.
Hinter ihm bellte Whiskey. Seth wagte es nicht, sich umzuschauen.
Der Kerl war nicht der Einzige. Whiskey hatte in Richtung Kennedy Drive geknurrt, und Seth hatte eine Autotür und Schritte auf dem Weg gehört. Er hatte das Gefühl, als hätte ihm jemand einen Apfel in die Kehle gerammt. Zwei Typen, die hinter ihm her waren.
Er musste Mom warnen.
Das Handy steckte in der Jeanstasche, aber solange er dahinraste wie ein Bekloppter, konnte er es nicht rausholen. Ein Wimmern stieg in ihm hoch. Er würgte es ab. Bloß nicht heulen. Die Bäume hatten sich verdunkelt, sie waren nicht mehr grün, sondern schwarz. Hundert Meter weiter vorn erspähte er durch die Zweige vorüberziehende Scheinwerfer auf der Fulton Street.
Er musste es nach Hause schaffen. Seine Mom – o Gott, wollten diese Typen vielleicht auch was von ihr?
Noch neunzig Meter bis zur Fulton. Weiße Lichter harkten durch die Bäume. Seine Hände krampften sich um die Griffe, die Beine brannten. Im Rucksack schaukelte die Gitarre auf und ab. Das Fahrrad ratterte über eine Wurzel. Seth hielt das Gleichgewicht, korrigierte und jagte weiter. Auf der Fulton waren bestimmt Leute. Die Scheinwerfer kamen näher.
Hinter ihm jaulte Whiskey.
Er blickte über die Schulter. Sein Hund hetzte ihm durchs Unterholz nach, der Kerl direkt hinter ihm.
»Whiskey, schnell!«, schrie Seth.
Obwohl seine Beine schon zitterten, keuchte er weiter auf die Straße zu, vorbei an einer alten Eiche.
Hinter der Eiche lauerte der zweite Mann.
Als Seth auf gleicher Höhe mit ihm war, fuhr er den Arm aus und packte die Gitarre am Hals. Seth wurde vom Fahrrad gerissen und flog mit ausgebreiteten Armen nach hinten. Krachend landete er auf dem Boden, die Gitarre unter sich. Die Saiten machten sproing, und der Korpus zerbrach. Seth japste nach Luft.
Der Kerl packte ihn. Er hatte eine graue Igelfrisur und war rechteckig wie ein Betonziegel. Alt, aber voller Pickel. Der Typ zerrte Seth auf die Füße.
Seth wand sich. Ein Kreischen brach aus ihm heraus: »Lass mich los!« Er fuchtelte mit der Faust und trat nach den Knien des Kerls.
»Beruhig dich.« Der Mann drehte Seth den Arm auf den Rücken.
Ein scharfer Schmerz schoss durch seinen Ellbogen. Der Typ stieß ihn in die Büsche.
Plötzlich war Whiskey da, ein knurrendes Paket aus Muskeln und Fell. Der Hund sprang den Typen an und bohrte ihm die Zähne ins Handgelenk. Der Kerl torkelte und ließ Seth los.
Die Brille schief auf der Nase, stolperte Seth durch die Bäume Richtung Fulton Street. Hinter sich hörte er wildes Bellen. Ein Schrei. Dann ein furchtbares Jaulen von Whiskey.
Noch vierzig Meter bis zur Straße. Whiskeys Heulen ging in leises Winseln über. Seth rannte weiter. Noch zwanzig Meter. Im Kopf hörte er seinen Dad: Ein Tier ist kein Grund zum Ausweichen. Wenn es auf der Straße um dich oder einen Hund geht, bist du derjenige, der überleben muss.
Das hier passierte wegen Dad, und er musste hier rauskommen, sonst wartete eine Welt voller Schmerzen und Angst auf ihn und seine Mutter.
Fünfzehn Meter. Er konnte die Straße sehen, Autos, den Gehsteig, die Querstraße von der Fulton weg. Seine Straße – sein Haus war einen Block weiter oben. Angestrengt versuchte er zu erkennen, ob der Wagen seiner Mom dort parkte.
Tatsächlich – in der Auffahrt stand jemand. Eine Frau – blasse Beine unter einem Rock. Langes, hellbraunes Haar.
Neue Energie schoss ihm in die Glieder. »Mom!«
Whiskey jaulte.
Seth zögerte. Whiskey hatte ihn gerettet. Er konnte den Hund nicht im Stich lassen. Er bückte sich nach einem Stein und wirbelte herum.
Der Glatzkopf rollte heran wie ein Expresszug. Bevor Seth zum Wurf ausholen konnte, duckte sich der Mann im Laufen und sprang ihn an.
Seth knallte so heftig auf den Boden, dass die Brille wegflog, aber den Stein ließ er nicht los. Er drosch ihn dem Typen auf den Kopf. »Scheiße, lass mich los!«
Der Glatzkopf packte Seths Hand und drückte sie zu Boden. Dann kam auch schon der andere Kerl angerannt; er schleifte Whiskey am Halsband hinter sich her. »Wie der Vater, echt.« Er drehte den Arm und inspizierte eine blutige Bisswunde. »Mistköter.«
Seth riss den Kopf zurück und brüllte. »Mom!«
Der Glatzkopf griff ihm ins Gesicht und versuchte, ihm mit Gewalt den Mund aufzudrücken und ihm ein Taschentuch als Knebel hineinzustopfen. Er blutete an der Stirn, wo ihn der Stein getroffen hatte. Seth presste eisern die Zähne aufeinander. Whiskey rappelte sich auf und bemühte sich, zu ihm zu gelangen. Der Typ kniff Seth brutal in die...