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Seelenruhig - Roman

Andrea Vanoni

 

Verlag Diana Verlag, 2009

ISBN 9783641024697 , 480 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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7,99 EUR


 

Prolog
Stolz aufgerichtet, mit flatterndem Haar und im weißen langen Hemd steht sie auf dem Schinderkarren. Hoch zu Ross reitet ein Büttel mit blankem Schwert voraus. Raunend steckt das Publikum die Köpfe zusammen, gierig und atemlos gespannt, wie sich der Engel der Schmerzen verhalten wird.« Er wird mit seinen zwölf Jahren fast zum Poeten, wie er so vor sich hin wispert.
Es ist nicht die erste Hinrichtung, bei der er zuschaut, doch wieder spürt er Wildheit und Ehrfurcht zugleich. Ihre zarten Handgelenke stecken in Eisenfesseln, die mit Ketten an dem Karren befestigt sind. Ihre leuchtend blauen Augen sind zum Himmel gerichtet. Ob sie wohl Gott anruft?
Er imitiert eine aufgeregte Frauenstimme und presst hervor: »Zündet sie an!« Dabei bewegt er eine der Mädchenfiguren, die in vorderster Reihe stehen und dem Wagen ausweichen müssen.
»Nur Geduld, der Henker wird ihr mit seiner Fackel schon die Füße kitzeln!«, ruft er mit geröteten Wangen. Für einen kurzen Moment hält er die Hexe in die Flamme seines Feuerzeugs.
Dann schnappt er sich das Fischweib, das einen Korb unter dem Arm trägt, und raunzt: »Sie wird ins Feuer pieseln!« Er imitiert ein höhnisches Gelächter, eher ein Quaken. »Bei dem Fuder Holz ist ihr Angstwasser nur ein Tropfen in die heiße Hölle!«
Während er den Wagen weiter zum Hinrichtungsplatz schiebt, mit einem Bleistift vorsichtig die mittelalterliche Menge zurückdrängt und Pfaff und Henker in Position bringt, flüstert er erregt: »Mitleid? Nein! Eine Kirmes – da braucht man eine Hinrichtung.« Eine Trompete – tätätätät. Alle sehen zum Rathaus. Die feinen Herren auf dem Rundbalkon nicken träge dem Volke zu, dem sie heute eine Freude bereiten.
Aber den Gedanken hat er sofort wieder vergessen. Er springt im Geiste unter die mittelalterlichen Zuschauer ganz vorne in die erste Reihe. Ihm glüht das Gesicht, denn direkt vor ihm hält der Karren. Die Henkersknechte springen herbei und lösen die eisernen Fesseln der Jungfrau. Als ihr weißes Kleid verrutscht, kann er die Spuren der erlittenen Marter sehen – klaffende Wunden an den Beinen, braune, violette und rote Hautpartien. Das zerquetschte Gewebe und die geplatzten Adern zeugen von der Erbarmungslosigkeit der Inquisitoren. Doch auf ihren Lippen, die rot und geschwollen sind, liegt ein Lächeln. »Das Lächeln des Teufels«, murmelt er wie im Fieber. Er weiß, dass der Teufel die Tränen austrocknet, denn sie würden Gott erbarmen, und er würde der Qual ein Ende setzen. Daher befeuchten manche Hexen ihre Wangen mit Speichel, um ein Weinen vorzutäuschen.
Während er alles noch einmal in Ruhe betrachtet, greift seine Hand nach dem Wurstbrötchen auf dem Teller neben sich. Er beginnt langsam zu kauen und stellt ein paar Figuren vor den Scheiterhaufen – den Richter mit den Schöffen -, würdig und streng. In gebührender Distanz zu ihnen schiebt er die Figur des Scharfrichters vor die Leiter, über die die Verurteilte hinaufsteigen wird. Breitbeinig steht er da, mit verschränkten Armen, nackt und muskulös. »Die rote Kapuze und die blutbefleckte Lederschürze sind die Insignien aller Höllenschmerzen, die auf den weißen Menschenleib warten«, liest er sich laut aus der Beschreibung für die Figuren vor.
Ein Stück Wurst ist auf die Tischplatte gefallen. Er beugt sich herab und packt es wie ein Hund mit den Zähnen. Er schluckt und brüllt: »Hure! Metze! Du höllische Dirne! Teufelsbraten und Kinderverderberin!« Bei jedem Ausdruck wechselt er die Stimme, um die hasserfüllten Flüche eines aufgebrachten Volkes zu imitieren.
»Aber sie nimmt es kaum noch wahr. Am ganzen Leib zitternd, hängt sie mit gesenktem Haupt in den Armen ihrer Peiniger.« Er stellt die zum Tode Verurteilte auf den Scheiterhaufen und platziert einige Henkersknechte um sie herum. »Demut hat sich in ihr ausgebreitet. Aber jetzt hebt sie doch wieder ihr schönes Gesicht, das wie durch ein Wunder fast gänzlich unversehrt geblieben ist. Ihre Augen leuchten, und ein Lächeln voller Verachtung trifft die Umstehenden. Und dann geschieht es.« Er knipst ein paarmal die Stehlampe neben sich an und aus. »Ein Blitz zuckt herab vom Himmel, der Pöbel schreit auf, und in dem grell flammenden Licht sehe ich ihren Blick auf mich gerichtet. Heiß durchfährt es mich. Ich frage mich, ob der Blitz wirklich vom Himmel kommt oder ihren Augen entwichen ist, um mich zu bannen oder vielleicht sogar zu vernichten. Der Krüppel vor mir beginnt hysterisch zu zucken.« Mit zwei Fingern nimmt er die Figur eines Bettlers ohne Beine und schüttelt sie. Er packt auch noch andere und stößt kleine Schreie aus, die das Verbrennen der Hexe fordern.
Plötzlich springt er auf, rennt in die Küche und holt sich einen Schokokuss, den er gierig verschlingt. Er leckt seine Finger ab, reibt sie an einem Taschentuch sauber und packt das Mädchen im weißen Hemd, um sie zu quetschen, als käme sein Schluchzen aus ihrer Brust. Er beugt sich über die Szene und führt mit roten Ohren alles leise und angespannt zu Ende. Der Henker steigt die Leiter hinauf, nimmt einen Strick, den der Junge in einem kleinen Wassereimer mit echtem Wasser tränkt, und fesselt ihre Handgelenke. Er zieht fest zu und imitiert ihr schmerzvolles Aufstöhnen. Er reißt sie hoch und stellt sie mit dem Rücken an den Pfahl. Mit sicheren Griffen schlingt er den Strick um sie und zurrt ihn so fest es geht. Als der Henker vom Scheiterhaufen wieder herabgestiegen ist, nimmt er von einem seiner Knechte die Fackel. Er streckt sie siegessicher in den Himmel wie ein Feldherr vor der Schlacht sein Schwert.
Der Pöbel schreit auf, Rufe der schmutzigsten Art ertönen.
Ungerührt hält der Henker die Fackel an das Reisig. Das Feuer springt schnell auf die untere Lage Knüppelholz über. Gierig fressen sich die Flammen in das Innere des Haufens. Am Anfang sieht es aus, als ob sich das Feuer versteckt. Nur die schimmernde Glut und ein Flimmern in der Luft verraten es. Dennoch geben die winzigen, aus Birkenholz bestehenden Knüppel das Feuer an die Buchenscheite weiter. Er drückt auf die Stopptaste seines Rekorders, der vorfabrizierte Sound einer johlenden Menschenmenge verstummt. Es ist so still, dass er das Knistern des Feuers hören kann.
»Das Mädchen sieht mit dem Ausdruck eines zu Tode gehetzten Tieres auf die emporkletternden Flammen. Voller Entsetzen windet es seinen geschundenen Leib und wirft den Kopf von der einen zur anderen Seite. Die Haare schlagen über das Gesicht. Die aufsteigende Hitze bläst ihr unter das Hemd. Flatternd weht der bereits brennende Saum über ihre Schenkel. Sie trägt nichts weiter am Leibe, und die Flammen beleuchten ihren schönen schlanken Körper. Erste Flämmchen lecken an ihren Füßen. Sie verkrampft sich. Die Flammen steigen unaufhörlich, und schon steht sie bis zu den Knien im Feuer.« Er kann den Text auswendig, wenn er ihn auch jedes Mal ein wenig variiert.
Wegen der Hitze wirft die Farbe der Figur Blasen und beginnt abzublättern. Ihre bleiernen Unterschenkel schmelzen, und sie sackt zusammen.
Fasziniert betrachtet er das Herabtropfen des Bleis. »Vor Schmerzen hat sie ihre Zunge zerbissen und spuckt das Blut aus. Angeekelt kreischt die umstehende Menge auf und weicht zurück. Ich nicht, ich bleibe stehen.« Er taucht eine Fingerspitze in das flüssige Blei und schmiert es sich ins Gesicht. »Ich mache mir nicht einmal die Mühe, mir das Blut aus dem Gesicht zu wischen. Die Qualen der vor mir im Feuer stehenden Hexe stählen meine Muskeln. Ich spüre meine Kraft und heldenhafte Zuversicht. Nichts wird mich je verletzen können.« Mit einem Schraubenzieher schiebt er den Kopf und die Reste der Figur in das Feuer. »Wird sie noch lange durchhalten? Ihre verzweifelten Schreie überschlagen sich und gehen bereits in ein kraftloses Gurgeln über.« Er schreit und gurgelt. »Roter Schaum quillt ihr aus dem Mund. Doch ihr Leben kehrt zurück, und heftig schlägt sie mit dem Hinterkopf gegen den Pfahl, die gefesselten Hände ringend. Der inzwischen trockene Strick zieht sich fester. Lichterloh brennt das Hemd. Der Geruch von versengtem Fleisch steigt mir in die Nase.«
Knisternd bricht der kleine Scheiterhaufen in sich zusammen, und der Kopf fällt schmelzend hinein. Eine winzige Explosion schießt einen Schwall von Funken aus dem Pfahl, an den sie gefesselt war.
»Ein viehisches Brüllen tönt aus der Flamme. Es ist unfassbar, denn dort in der Feuersäule steht sie in der Hochzeit ihrer Schmerzen. Seht, der Satan holt sie!« Er imitiert den Schrei einer Hysterikerin. »Ja, wirklich, es sieht so aus, als würden sich zwei Gestalten in dem Feuer bewegen! Kämpfen sie? Mir wird unheimlich, obwohl ich mir sage, dass es nur eine Täuschung sein kann. Bewegung kommt unter die Leute, nicht wenige ergreifen die Flucht.« Mit einer schroffen Handbewegung schiebt er die Figuren fort, sodass sie weit über den Teppich purzeln.
Das Feuer auf dem großen Kupfertablett flammt noch einmal auf und fällt dann in sich zusammen.
»Jubel bricht aus, die Freude ist groß! Gott triumphiert, der Teufel ist vertrieben! Am Pfahl hängt ein verkohlter, zusammengekrümmter Leichnam. Der Mund ist wie im Schrei erstarrt, die Zähne stehen glänzend hervor, die Augen gleichen Bratäpfeln.« Er hebt den Kopf und schnuppert. »Unheilvoll schwebt eine dunkle Wolke über der Stadt. Es ist nur eine Frage der Zeit, wann die nächste der fünfunddreißig vom Teufel Besessenen den Holzstoß besteigen muss. Oder denket ihr Magas, dass ihr dem Urteil entrinnen werdet? – O nein, o nein, das wird euch nicht gelingen … denn Alles ist Eins, und Eins ist Alles.«
Er keucht, der brenzlige Rauch bringt ihn zum Husten, während er Rosenblätter auf die...