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Hesmats Flucht - Eine wahre Geschichte aus Afghanistan

Wolfgang Böhmer

 

Verlag cbt Jugendbücher, 2009

ISBN 9783641023331 , 296 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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6,99 EUR


 

DER LANGE WEG ÜBER DEN HINDUKUSCH
Die Frau hatte ihren Mann bekniet, dem fremden Jungen aus Mazar zu helfen, und er war in die Stadt gegangen und hatte sich für Hesmat umgehört. Zwei Tage später hatte Hesmat sich von ihnen verabschiedet. Am Tag zuvor war er noch mit dem Mann in der Stadt gewesen und hatte sich das Nötigste besorgt. Der Mann kaufte ihm einen vernünftigen Beutel, den er sich quer um den Körper hängen konnte, und stopfte ihn mit getrocknetem Fleisch und ein paar russischen Lebensmitteldosen voll. Auf dem Markt fanden sie zwei alte Plastikflaschen, die der Mann lange und genau prüfte. Immer wieder schwenkte er die mit Wasser gefüllten Flaschen und fingerte an den Drehverschlüssen herum. Dann fanden sie noch einen alten Pullover und feste gebrauchte Schuhe.
»Mit deinen Sandalen kannst du unmöglich in die Berge«, erklärte er dem Jungen.
Schließlich kaufte er Hesmat noch eine Taschenlampe, Streichhölzer und ein Feuerzeug.
»Pass gut darauf auf«, sagte er. »Die Wärme kann dir das Leben retten.«
Die beiden Alten besaßen kaum mehr als die Kleidung, die sie trugen, doch sie wollten Hesmat nicht mit leerem Bauch ziehen lassen. Sie tranken Goor, eine süßliche Essenz aus Zuckerrohr, dazu gab es am Abend vor dem Abschied Reis mit Schaffleisch und frisches Brot.
»Iss«, sagte die Frau. »Du wirst es brauchen.«
Am nächsten Morgen stellte der Alte Hesmat dem Führer vor. »Er ist ein guter Mann«, sagte er, als er Hesmat zum Treffpunkt am Stadtrand begleitete. »Befolge, was er sagt, und du wirst wohlbehalten ankommen.«
Er schüttelte Hesmat die Hand und steckte ihm noch ein Päckchen mit den Essensresten vom Vorabend in den Umhang. Als sie losgingen, drehte sich Hesmat noch einmal um. Der Mann war wortlos verschwunden. Hesmat hatte nicht einmal nach seinem Namen gefragt. Vier Tage hatte er in ihrem Haus gelebt, jetzt wusste er nicht einmal, wie das Paar hieß, das ihm Mut und seine Freundschaft geschenkt hatte.
Sie waren knapp dreißig Leute. Händler, vertriebene Familien und einige Flüchtlinge wie er selbst. Die Esel waren bis über den Kopf hinaus vollgepackt, die Männer, Frauen und die zwei Kinder, die sie mitnahmen, trotteten im Gleichschritt mit den Tieren. Sie waren nicht die Einzigen. Immer wieder sahen sie andere Gruppen, die denselben Weg eingeschlagen hatten.
Sie hielten sich auf einem schmalen Weg, einem schmalen Streifen, auf dem sie sicher waren. Östlich von ihnen standen die Taliban, während westlich von ihnen, auf der rechten Seite, das Gebiet der Mudschaheddin begann. Jederzeit konnte sich die Linie verschieben, der unausgehandelte Waffenstillstand gebrochen werden. Der Führer trieb sie an, und immer wieder überholten sie größere Gruppen, die langsamer als sie waren. Immer wieder sahen sie Menschen, die alleine am Wegrand saßen und um Hilfe bettelten.
»Weiter«, schrie der Führer, »wir haben keine Zeit!«
Wer zurückblieb, war auf sich allein gestellt. Niemand konnte es sich leisten, sich um andere zu kümmern. Jeder war damit beschäftigt, selbst zu überleben. Wer sich zu lange in diesem Gebiet aufhielt, war tot. Sie hatten keine Zeit, um auf Nachzügler zu warten. Wer das Tempo nicht halten konnte, war verloren. Tuffon hatte ihm alles beschrieben, auch sein Vater hatte immer wieder von den Pfaden über die Berge gesprochen.
»Es gibt keine Hilfe für die Schwachen«, hatte er erzählt. »Wer sein Wasser nicht einteilen kann, muss verdursten oder für Horrorpreise einen Schluck Wasser kaufen.«
In der Nacht belauerten sie sich gegenseitig. In den Bergen gab es kein Gesetz, erst recht keine Ehre und keinen Stolz.
»Nur wer seine Ehre in die Schluchten wirft, kann überleben«, hatte sein Vater gesagt, wenn er von seinen Reisen als Schmuggler erzählte. Sein Vater hatte nach dem Abzug der Russen plötzlich seine Arbeit verloren. Er hatte gehofft, die Russen würden Afghanistan den ersehnten Frieden bringen, und hatte für sie gearbeitet. Doch dann hatten sie das Land verlassen. Um Geld zu verdienen, versuchte er wie viele andere, als Schmuggler zu überleben. Aus dem Krieg kannte er die geheimen Pfade über die Grenze und wusste, was die Menschen in der Stadt brauchten. Er kannte die, die noch genug Geld besaßen, um sich einen bescheidenen Luxus leisten zu können. Vor allem aber kannte er die Schmuggler in Pakistan. Er hatte sich Geld geliehen, um damit Waren in Pakistan zu kaufen, sie über die Grenze zu schmuggeln und zu Hause teurer an Apotheken zu verkaufen.
»Bald haben wir wieder genug Geld im Haus«, hatte er versichert, »niemand von uns hat bisher hungern müssen und das wird auch so bleiben. Habt keine Angst. Ich weiß, auf wen ich mich verlassen kann.«
Hesmat kannte die Schmuggler. Sie organisierten alles, was man im Land nicht mehr kaufen konnte: Fernsehgeräte, Satellitenschüsseln oder auch Waschmaschinen. Genau wie Autos und Medikamente. Sie verdienten am Krieg, an den Waffen, an Drogen, am Elend der Menschen. Er wusste auch, wie gefährlich ihre Arbeit war. Er kannte die Geschichten von den Überfällen und Festnahmen, von denen, die ihre Arbeit mit dem Leben bezahlt hatten.
Jetzt war Hesmat selbst auf diesen alten Schmugglerrouten unterwegs, und die Geschichten, die sein Vater über den Tod in den Bergen erzählt hatte, machten ihm Angst.
In der ersten Nacht suchte er sich einen Platz abseits der Gruppe. Als die Angst zu groß wurde, schlich er wieder zurück zu den anderen. Wenn sie ihn ausrauben wollten, hatte er so oder so keine Chance, und er wusste, dass er das erste Opfer sein würde, wenn sie nichts mehr zu essen hätten.
In den wenigen Stunden, die er schlief, träumte er von den Toten, die sie täglich sahen, oder davon, vom Weg abzustürzen. Manchmal träumte er vom Klicken einer Mine unter seinen Füßen. Nach jedem Traum erwachte er schweißgebadet und fand sich in der feuchten Kälte wieder, die von der Erde durch die Decke und den Pullover drang. Die Kälte drang in jede Pore, und vergeblich versuchte er, mit klappernden Zähnen wieder einzuschlafen. Den Nächten folgten Tage, die jedem Albtraum Konkurrenz machten.
Es war so, wie es die Kämpfer in Mazar oft beschrieben hatten, wenn Hesmat wortlos in der Ecke gesessen und ihnen dabei zugehört hatte, wie sie vom Krieg, vom Elend, vom Sterben erzählten. »Der Mensch kann mehr ertragen, als sich irgendjemand vorstellen kann«, sagten sie, und sein Vater hatte wortlos genickt. »Tausendmal glaubt man zu sterben, dass die Schmerzen nicht mehr zu ertragen sind, das letzte Körnchen Kraft den Körper schon lange verlassen hat«, sagten sie, »aber irgendwann vergisst man die Schmerzen, den Hunger, das Leid. Der Kopf ist leer, der Körper ein stiller See, der alle Schmerzen bedeckt. Nur selten schwappt eine Welle des Schmerzes an die Oberfläche und erinnert dich daran, dass du längst eine Grenze überschritten hast.«
Er hatte die Grenze überschritten und es schon lange aufgegeben, seine Schritte zu zählen. Er hatte vergessen, wie viele Serpentinen sie sich die Berge hinaufgeschleppt hatten, wie oft seine Beine versagt hatten. Er zählte zu den Kräftigsten, dabei fühlte er sich schon nach der ersten Nacht beinahe zu schwach, um wieder aufzustehen. Die Decke, die ihm das alte Paar in Taloqan zum Abschied geschenkt hatte, schlotterte um seine Schultern. In der Nacht war sie der einzige Schutz gegen die Kälte.
Am Tag stiegen die Temperaturen, die Sonne brannte erbarmungslos auf die Gruppe nieder, die sich scheinbar ziellos den Weg durch immer neue und noch mächtigere Berge bahnte. Er konnte nicht verstehen, wie die Kinder und die Frauen diese Strapazen ertragen konnten. Schweigend gingen sie neben den Packtieren her und nur selten sah er eine stumme Träne auf den Wangen der Kinder. Es gab kein Klagen, kein Jammern, auch wenn der Führer das Tempo nur selten verlangsamte oder ihnen eine kurze Pause gönnte. Wortlos trieb er sie wie eine Herde Schafe mit seinem Stock an, wenn sie sich nach kurzer Rast mit einem tiefen Seufzen erhoben und in die Runde blickten. Im stummen Protest schlugen sie die Augen vor seinen Blicken nieder und folgten ihm doch widerspruchlos weiter. Nie fragte jemand, wie lange der Weg sich noch ziehen würde, niemand fragte nach einer Pause. Wenn er stehen blieb, sanken sie nieder, wo sie gerade standen. Wenn er trank, suchten auch sie mit einem Schluck aus ihren Flaschen nach Erholung.
Sie standen lange vor den ersten Sonnenstrahlen auf und gingen, bis die Dämmerung hereinbrach. Wenn die Sonne am höchsten stand, verkrochen sie sich im Schatten der Steine und gönnten ihren schmerzenden Beinen eine kurze Pause.
Wenn sie einen Bach querten, steckten sie ihre nackten Füße in die Fluten und erwachten für wenige Augenblicke aus ihrem Albtraum. Sie fanden sich in einer Landschaft wieder, die so schön, so atemberaubend und doch so tödlich, so einsam und verlassen war, dass man nur zum Sterben hierherkommen konnte. Dann gingen sie weiter und ein schmerzender Schritt folgte dem nächsten.
Als sie den fünften Pass überschritten hatten, entdeckten sie vor ihnen ein...