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Der Klavierstimmer - Roman

Pascal Mercier

 

Verlag Knaus, 2009

ISBN 9783641025519 , 736 Seiten

Format ePUB

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9,99 EUR

  • Hummeldumm - Das Roman
    Vergebung - Roman
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    Schrödingers Katze auf dem Mandelbrotbaum - Durch die Hintertür zur Wissenschaft
    Das Unendliche - Mathematiker ringen um einen Begriff

     

     

     

     

 

 

Patricia
ERSTES HEFT
ICH HABE DEN KOFFER abgestellt und die Tür zugemacht. Im Mantel bin ich langsam durch die kalten Räume gegangen, ein Fremdling in der eigenen Wohnung. Später habe ich am Fenster auf die Dämmerung gewartet und gehofft, durch sie in die Gegenwart dieser Wohnung und dieser Stadt zurückzufinden. Das Telefon hat geklingelt. Ich habe nicht abgenommen. Es wäre zu früh, Stéphane zu sehen. Und von den Filmleuten will ich im Moment noch nichts wissen. Erst will ich beginnen, unseren Pakt des Erzählens zu erfüllen.
Dein Bericht wird wortgewandter sein als der meine. Die Worte kommen dir schneller als mir, und es sind mehr Worte. So war es immer. Zufall ist es nicht. Auch nicht eine Sache der Begabung. Du mußtest all die Sätze vollenden, die Maman unfertig ließ. Das hat sie von dir erwartet. Oft kam es mir vor, als gäbe es einen unausgesprochenen Vertrag zwischen euch: Du sprachst ihre angefangenen Sätze zu Ende; dafür galt dir ihre besondere Liebe. Es war die erste große Aufgabe, die dir gestellt wurde. Du hast sie bravourös gelöst, immer von neuem. Darüber bist du zum Sprachkünstler geworden. Auf die Idee, daß Mamans Sätze nur in deiner Gegenwart unvollständig blieben, kamst du nicht. Es war eine geniale Art, dich zu verführen. Ob es aus Berechnung geschah oder nicht – ich weiß es nicht. Bei Maman war das schwierig zu wissen, schwieriger als bei anderen Menschen.
Am liebsten würde ich dir eine Folge von Bildern vorführen, die dich zeigen, wie ich dich sehe, und die uns zusammen zeigen, wie ich glaube, daß wir waren. Denn etwas habe ich durch dich (wenngleich nicht von dir) gelernt: Worten zu mißtrauen, auch wenn sie genau sind und überzeugend und sanft, wie es deine Worte so oft sind. Am liebsten hätte ich es, daß du meinen inneren Bildern, wie sie auf der Leinwand erscheinen, ausgeliefert wärest, wehrlos in völliger Stummheit, so daß du verstündest, wie es mir mit dir ergangen ist in den fünfundzwanzig Jahren. Da das nicht möglich ist und du durch unser Abkommen im Vorteil bist, bitte ich dich, meine Worte so auf dich wirken zu lassen, wie ich wünschte, daß meine Bilder auf dich wirken würden. Ich bitte dich, sie ohne Gegenwehr in dich aufzunehmen und sie nicht zu behandeln wie Züge in einem Spiel, in dem du mir überlegen bist. Meine Worte mögen in dich hineinfallen wie in einen stillen Teich, sie mögen Kreise ziehen und Wellen werfen, und ich möchte, daß du diesem Geschehen alle Freiheit einräumst sich zu entfalten; daß du nicht nur äußerlich, sondern auch im Inneren mit deiner Antwort wartest, bis die Wirkungen sich ausgesponnen haben und du wirklich verstanden hast, was ich sage. Wirst du das tun, Patrice? Für mich tun? Wirst du ein Mal, ein einziges Mal, den Schutzschild deiner Wortgewandtheit beiseite schieben, um dich treffen und, wo es unvermeidlich ist, auch verletzen zu lassen? Damit wir frei werden können voneinander?
In diesem Augenblick bist du auf dem Flug nach Frankfurt, um dann in einer endlosen Nacht weiterzufliegen bis hinter die Anden, fast bis zu den Osterinseln. Die aberwitzige Distanz, die du damals zwischen uns gelegt hast, kommt mir gewalttätig vor. Ich finde sie kindisch, deine Maßlosigkeit. Ich liebe sie.
In dem Augenblick, als ich auf den Mexikoplatz hinaustrat, bog der Möbelwagen in die Limastraße ein. Ich blickte ihm nach, bis er vor dem Haus hielt. Es wird nicht geschehen, dachte ich: Er wird das Haus nicht einfach räumen lassen und dann seines Weges gehen. Die Art, wie du Papas Partituren beim Einpacken in den Händen hieltest, mit dieser zärtlichen Nachdenklichkeit, die dich so unwiderstehlich macht: Ich war sicher, daß du noch etwas unternehmen würdest. Auch die Art und Weise, wie du den Flügel betrachtet hast: Es war mit Händen zu greifen, daß es dir unmöglich sein würde zuzusehen, wie sie ihn sang- und klanglos zerlegten und hinaustrugen, ein Möbel unter anderen Möbeln.
Aber natürlich ist das Unsinn. Du wirst den Metallkoffer mit den Partituren zur Post gebracht haben. Vielleicht würde er sogar im selben Flugzeug mitfliegen, hast du gemeint, sozusagen unter deinem Sitz. Einen halben Tag bist du von Geschäft zu Geschäft gefahren, bis du einen Koffer fandest, der dir vertrauenswürdig erschien. So wolltest du es: Ich würde die Bücher und die anderen Unterlagen nehmen, du die Partituren. Partituren, die wir nie hören werden. Die niemand je hören wird.
Du wirst möglichst weit weg in ein anderes Zimmer geflüchtet sein, als sie den Flügel holten. Ich sehe dich vor mir, wie du am Fenster stehst ohne etwas zu sehen, die geballten Fäuste in den Taschen, die Lippe zwischen den Zähnen. So viele Jahre sind vergangen, und ich kann dich immer noch erraten. Früher, wenn das geschah, pflegte ein Erstaunen auf deinem Gesicht zu erscheinen, in dem sich Freude mit Erschrecken mischte. Dieses Erschrecken, es hätte etwas sein können, was Raum zwischen uns schuf, eine Aufforderung zur Abgrenzung. Doch du schienst dein eigenes Erschrecken nicht zu bemerken oder wolltest es, da es etwas Trennendes war, nicht wahrhaben. Und bei nächster Gelegenheit suchtest du mir zu zeigen, daß du mich in derselben Weise zu erraten vermochtest. Nicht, daß dir das nicht oft gelungen wäre. Doch manchmal, und immer öfter, errietest du nicht wirklich mich, sondern dich in mir.
Noch etwas anderes spürte ich, als ich dich mit den Partituren in der Hand neben dem Flügel stehen sah: deinen unausgesprochenen Vorschlag, uns Vaters Musik gemeinsam zu erschließen. Laß uns jemanden suchen, der diese Noten zum Klingen bringt, wolltest du sagen. Nach allem, was war, sind wir das Vater schuldig. Und es ist etwas, das wir gemeinsam tun müssen; schließlich war es auch etwas Gemeinsames, daß wir uns gegen diese Noten und die Musik überhaupt verschlossen haben. Es könnte die Chance sein, das Universum der Töne endlich zurückzugewinnen, oder besser: es zum erstenmal richtig zu betreten. Laß uns so lange noch hierbleiben. Es soll das letzte sein, was wir gemeinsam tun.
Wie immer wärest du in deinem Werben mit Worten sehr überzeugend gewesen. Doch natürlich wäre, was du vorschlagen wolltest, keineswegs das letzte geblieben. Im Gegenteil, es hätte sich dadurch zwischen uns eine neue Geschichte angesponnen. Das war in deinen Augen zu lesen. Da wußte ich, daß ich gehen mußte; daß ich die Grausamkeit aufbringen mußte, sofort und für immer zu gehen. Es überkam mich die alte Wut darüber, daß du mich immer in die Rolle der Grausamen drängst, die den ersehnten Gleichklang verweigert; daß du in der Sehnsucht nach Gemeinsamkeit derart unbeherrscht bist. Du kannst unendlich geduldig und beherrscht sein, wenn du dieser Sehnsucht dienst und ein Ziel verfolgst, in dem sie zum Ausdruck kommt. Beherrscht bis zur Selbstverleugnung vermagst du dann zu sein, du hast einen unerhört langen Atem dabei und eine unerschöpfliche Phantasie. Nur was die Sehnsucht selbst anlangt, läßt du dich gehen wie ein kleines Kind. Da hat Maman ganze Arbeit geleistet.
Ich konnte deinen enttäuschten Blick spüren, als ich heute früh meinen Becher, statt ihn mitzunehmen, in die Geschirrablage tat. (Wäre dieser Blick nicht gewesen, ich hätte ihn vielleicht mitgenommen.) Und spüren konnte ich auch, wie du mir zusahest, als ich die Handschuhe überstreifte. Du wirst dabei an die Handschuhe aus Spitze gedacht haben, denen für immer diese besondere Bedeutung anhaften wird. Meinen Tränen ließ ich erst im Flugzeug freien Lauf. Es waren Tränen der Trennung, aber auch Tränen des Mitleids mit dem Verlassenen, und nicht zuletzt waren es Tränen der Wut darüber, daß du es mir mit deinem Gesicht, das im Schmerz erstarrt war, so schwer gemacht hattest.
Während die Maschine über Berlin aufstieg, durchlebte ich noch einmal unseren ersten Abschied vor sechs Jahren. (Es würde mich nicht wundern, wenn du die genaue Anzahl der Tage wüßtest, die seither verflossen sind.) Ich sah das fahle Licht vor mir, das ins Zimmer fiel, als ich an jenem Morgen aufwachte. Noch heute bin ich verwundert über die innere Klarheit, die ich beim Aufstehen empfand. Ich hob das Kleid auf, in dem ich getanzt hatte, die Spitzenhandschuhe und die Schuhe, von denen ich einen auf der Tanzfläche verloren hatte. Noch einmal spürte ich, wie du dort meinen Fuß hieltest. Und nun lagst du da, den einen Arm vor dem Gesicht, wie um dich zu schützen. Ich ging ins Bad und packte dann die Reisetasche. Es war keine Hast in dem, was ich tat; aber ich verlor keine Zeit. Von meinem Zimmer habe ich gar nicht richtig Abschied genommen; später, im Zug, war ich darüber verwundert.
Als ich wieder zu dir ins Zimmer trat, hattest du den Arm vom Gesicht genommen. Deine Lider bewegten sich unruhig, als ob du heftig träumtest. Es war inzwischen noch keine Stunde vergangen. Doch das hatte genügt, um eine erste, zuvor nie gekannte Empfindung vollständigen Getrenntseins entstehen zu lassen. Ich wußte nicht, was grausamer war: dich zum Abschied zu wecken oder ohne ein Wort zu gehen. Schließlich setzte...