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Überleben als Verpflichtung - Den Nazi-Mördern entkommen

Inge Deutschkron

 

Verlag Butzon & Bercker GmbH, 2012

ISBN 9783766641328 , 240 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz frei

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6,99 EUR


 

Verlorene Jugend


Jugend – was war das?

„Sechs Kinder will ich haben“, sagte ich zu dem verdutzten Gerd schon bei unserem ersten Zusammentreffen. Warum gerade sechs, konnte ich ihm auch nicht erklären. Es war ohnehin an der Zeit auszusteigen. Wir befanden uns in der S-Bahn. Gerd Kohbieter und ich besuchten die jüdische Mittelschule in der Großen Hamburger Straße 27. Wir waren beide 16 Jahre alt. Nach Schulschluß fuhren wir S-Bahn, der einzige Ort, der uns zum Händchenhalten und zu verliebten Gesprächen geblieben war.

Gerd war sehr groß für sein Alter. Er hatte eine schlanke, sportliche Figur und überragte die meisten seiner Klassenkameraden. Seine Bewegungen wirkten wie die eines älteren Galans, freundlich, höflich, beschützend. Er hatte blonde Haare, glasklare blaue Augen, die neugierig in die Welt guckten.

Kurz, er war der Typ eines jungen Mannes, dem manches junge Mädchen sehnsuchtsvoll hinterherblickte. Kein Wunder, daß ich auf diese Eroberung – meinen ersten Freund – sehr stolz war.

Gerd und ich hatten uns auf dem Sportplatz Eichkamp kennengelernt. Einmal im Jahr veranstalteten die jüdischen Schulen Berlins dort ein Sportfest. Mannschaften der verschiedenen jüdischen Schulen kämpften um wertlose, aber begehrte Trophäen. In der Erinnerung sind diese Sportfeste die schönsten Tage meiner Schulzeit. Alles Bedrückende, das auf uns lastete, war dort wie weggeblasen. Wenn wir allerdings zur Rückfahrt in die Schule in die S-Bahn einstiegen, war diese gelöste Atmosphäre ebenso schnell wieder verflogen. Auch wenn wir nicht darüber sprachen, wir ahnten, daß wir von den anderen Fahrgästen als jüdische Kinder erkannt und angepöbelt werden konnten. Schließlich schürte das nationalsozialistische Regime, das seit 1933 im Amt war, Haß gegen Juden, nannte sie Verbrecher, Kriminelle, Insekten, die man zertreten müsse.

Seit diesem Sportfest fuhren Gerd und ich jeden Tag nach Schulschluß mit der S-Bahn zwischen Bahnhof Börse (heute Hackescher Markt) nahe unserer Schule und Savignyplatz, der meinem Zuhause am nächsten gelegenen Station, hin und her. Zwar war auch das begrenzt. Meine Mutter wußte genau, wann ich aus der Schule zu Hause sein müßte. Mit Ausnahme der Tage, an denen wir hitzefrei hatten, und die waren selten. Meine Mutter sah meine Beziehung zu Gerd nicht gern. Sie kannte ihn nicht und legte auch keinen Wert darauf, ihn kennenzulernen. Sie fand nur, daß man in solchen Zeiten, in denen Juden Freiwild für Verfolgungen und Diskriminierungen sind, am besten und am sichersten zu Hause aufgehoben war. Möglichkeiten „auszugehen“ waren Juden ohnehin verwehrt. Darunter fielen Besuche ins Theater, ins Kino, ins Konzert, ins Museum. An den meisten Cafés hingen Schilder mit der Aufschrift „Juden unerwünscht“. Manchmal war die Sprache noch drastischer. Das Strandbad Wannsee war die erste Badeanstalt in Berlin, die uns den Eintritt untersagte. So blieb Gerd und mir nur die S-Bahn als einziger Treffpunkt, wo wohl aus der Situation heraus mehr Zärtlichkeiten ausgetauscht wurden, als nach einer so kurzen Bekanntschaft üblich war.

Eines Tages hielt ich vergebens Ausschau nach Gerd. Ich hörte von einem Klassenkameraden, er sei ganz plötzlich nach Shanghai abgereist, einem der wenigen Orte in der Welt, in die Juden damals noch einreisen durften. Die meisten Länder hatten ihre Grenzen längst geschlossen oder setzten finanzielle Bedingungen für eine Einwanderung fest, die kein deutscher Jude mehr erfüllen konnte. Gerd habe seine Mutter beschworen, mit ihm zu gehen, so erzählte man mir. Der nichtjüdische Vater hatte die Mutter bis zu seinem Tode vor der Verfolgung als Jüdin beschützen können. Damit war es danach vorbei. Und trotzdem lehnte die Mutter es ab, Berlin zu verlassen.

So war der 16jährige allein in das unbekannte China gefahren. Er habe dort als Zauberer gearbeitet, ein Hobby seiner Kindheit.

In Nachtlokalen und Bars fand er Beschäftigung. So schrieb er mir fast fünfzig Jahre später aus Berlin nach Tel Aviv. Mein Buch „Ich trug den gelben Stern“ in der Auslage eines Buchladens in Berlin hatte ihm den Weg zu mir gewiesen.

Wir trafen einander wieder, im Berlin der neunziger Jahre. Seine Haare waren schlohweiß geworden. Ein kleiner Spitzbart in der gleichen Farbe sollte wohl den Künstler, als den er sich empfand, unterstreichen. Seine blauen Augen strahlten nicht mehr. Mit seiner Körperfülle paßte er gerade noch in mein kleines Auto. Mich betrachtend, sagte er nur, er sei wirklich stolz darauf, daß er mit 16 Jahren schon einen so guten Geschmack bewiesen habe.

Die Lebensbedingungen in Nazi-Deutschland brachten es mit sich, daß ich Gerd bald vergaß. Nach Ausbruch des Zweiten Weltkrieges im Jahr 1939 nahmen die Nazis keine Rücksicht mehr auf die Reaktionen des Auslands auf ihre Politik. Sie verfolgten, diskriminierten, quälten jüdische Menschen fast täglich mit neuen Verboten, Anordnungen, Gesetzen. Sie erklärten Juden zum Abschaum der Menschheit, schuldig an allen Unbilden, die der Welt widerfahren waren.

Es war der 19. September 1941, an dem wir das erste Mal gezwungen waren, einen „Judenstern“ zu tragen. Ich fürchtete mich vor der Reaktion der Berliner. Aber sie blieb aus. Ich hatte allerdings mein eigenes kleines Problem. Monatelang war ich jeden Morgen an der U-Bahn Station Bayerischer Platz in den gleichen Zug und in das gleiche Coupé gestiegen. Das hatte auch ein junger Mann getan. Ich hatte keine Ahnung, wer er war. Wir hatten kein Wort miteinander gewechselt. Wir hatten uns bloß angesehen. Es war da offenbar eine gegenseitige Sympathie entstanden, wie unsere Blicke es deutlich machten. Ich ahnte, daß er kein Jude war. Ich gebe zu, daß ich mich vor seiner Reaktion fürchtete, wenn er an mir den „Judenstern“ entdeckte. Seine Blicke bewiesen mir an jenem Tag, daß meine Sorge unbegründet war. Doch nach jenem ersten Tag des Sterntragens habe ich ihn nie wiedergesehen. Das mag Zufall gewesen sein, vielleicht auch Angst seinerseits, Kontakt zu Juden wurde im Reich der Nazis streng geahndet.

Meine Mutter sprach ihre Überraschung aus, als ich ihr meine Bereitschaft, ja sogar meinen Wunsch mitteilte, zur Kartenstelle gehen zu wollen. Dort erhielten Juden jeden Monat ihre Lebensmittelkarten, die nichtjüdischen Bürgern ins Haus geliefert wurden. Die Rationen, die uns auf diesen Karten mit dem aufgedruckten gelben „J“ zustanden, waren wesentlich geringer als die der Nichtjuden. Man konnte früh oder spät zur Kartenstelle kommen, stets wartete dort eine lange Schlange Menschen vor dem Gebäude darauf, eingelassen zu werden. Man ließ uns warten, manchmal stundenlang. Ganz gleich, ob es regnete oder ob es schneite oder ob es brütend heiß war. Um sich die Zeit zu vertreiben, unterhielten sich die Leute, flüsternd versteht sich, um den Beamten keinen Vorwand für eine Bestrafung zu liefern.

Einmal entdeckte ich in der Masse der Menschen einen jungen Mann, der mir bekannt vorkam. Und tatsächlich, er bestätigte mir, daß wir die gleiche Schule besucht hatten. Ich weiß nur noch, daß er Erich hieß, groß gewachsen war, aber stark hinkte. Wenn jemand mit ihm sprach, beugte er sich ein wenig vor und verstärkte damit den Eindruck großer Bescheidenheit. Wenn jemand ihm seinen Platz in der Schlange wegnehmen wollte, ließ er es geschehen, wohl um Streit unbedingt zu vermeiden. Er lächelte stets freundlich und, meiner Erinnerung nach, verschwand dieses Lächeln nie von seinem Gesicht. Auch er gab seiner Freude Ausdruck über unser Treffen. Ich fühlte, daß dies keine Floskel war.

Die vielen Stunden, die man uns warten ließ, gaben uns viel Zeit für Gespräche. Sie drehten sich meist um das Schicksal ehemaliger Schulkameraden. Einige hatten in fernen Ländern Asyl gefunden. Natürlich waren wir neidisch; oft nur des Abenteuers wegen. Wir bedauerten jene, die, nur um aus Deutschland herauszukommen, nach Aleppo in Syrien geflohen waren, eine Stadt, in der man noch ohne Visum aufgenommen wurde. Sie war durch die ansteckende Aleppo-Beule bekannt geworden. Da es uns verboten war, Zeitungen zu kaufen, man uns das Radio weggenommen hatte und wir zu kulturellen Veranstaltungen nicht zugelassen waren, waren die Themen unserer Gespräche begrenzt. Bücher standen uns nicht zur Verfügung. Die meisten hätten uns auch nicht interessiert. Es war meist Literatur, die nazistische Gedanken propagierte. Andere Bücher jüdischer oder ausländischer Autoren waren in Deutschland nicht mehr zum Verkauf oder Vertrieb zugelassen.

Und doch redeten wir unentwegt und ungeniert. Ich spürte deutlich, daß den Menschen um uns herum unsere Freude aneinander nicht entging. Wir sprachen darüber, wie wir uns die Welt ohne Krieg und Terror vorstellten und was wir in dieser Welt einmal tun wollten. Ich wollte damals noch Lehrerin werden, also meinem Vater nacheifern. Er wollte Ingenieur werden, Autos bauen, die gerade dabei waren, die Straßen zu erobern. Wir taten so, als ob das Leben wie selbstverständlich noch vor uns läge. Das war natürlich mit dem Ende des Naziregimes verbunden. Abitur machen, studieren, was jüdischen Jugendlichen verboten war – das waren die Grundlagen für unsere Ziele.

„Also bis zum nächsten Monat“, so pflegten wir uns zu verabschieden und winkten einander nach. Als ich am für die Ausgabe der Lebensmittelkarten festgesetzten Tag im folgenden Monat nach ihm suchte, fand ich ihn nicht. Ich fürchtete, ihn verpaßt zu haben, und fragte Umstehende, ob sie einen jungen Mann, der stark hinkte, gesehen hätten. Er muß wohl zu den ersten gehört haben, die deportiert worden waren. Auswanderungen waren seit Oktober 1941 verboten. Fast zur gleichen Zeit hatten die Deportationen jüdischer Menschen „nach dem Osten“, wie wir in Unkenntnis des wahren Zieles zu sagen pflegten, begonnen. Erich...