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Victor - Thriller - Kurzgeschichte

Tom Wood

 

Verlag Goldmann, 2012

ISBN 9783641080716 , 81 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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1,99 EUR


 

Kapitel 1

London, Großbritannien

»Ich werde nicht sterben.«

Die Frau, die das sagte, war Anfang fünfzig und ein bisschen übergewichtig. Sie trug einen eleganten, geschäftsmäßig wirkenden Anzug, dazu kurz geschnittene Haare mit grauen Strähnen. Die Bügel ihrer stylischen Brille waren mit dem Logo eines Designers verziert, in Blattgold. Sie hielt den Kopf gesenkt und starrte wie bei einer Beichte auf die gefalteten Hände in ihrem Schoß. Ihr Herz raste und trieb ihr das Blut ins Gesicht. Sie hatte leise, fast im Flüsterton gesprochen, sodass Victor sie gerade noch hören konnte. Waren die Worte überhaupt für ihn bestimmt gewesen? Er wusste es nicht. Es klang beinahe wie ein Ritual, tonlos, wie in Trance. Oder aber die Worte waren dazu gedacht, eine solche Trance einzuleiten, um sich dem Horror des unweigerlich herannahenden Todes entziehen zu können.

»Ich werde nicht sterben.«

Ob er wollte oder nicht, Victor war fasziniert. Das Verhalten dieser Frau entsprach nicht der Norm. Menschen, deren letztes Stündlein geschlagen hatte, fingen in der Regel an, zu betteln und zu flehen, lehnten sich auf und schworen unerbittliche Rache aus dem Jenseits. Noch nie war ihm jemand begegnet, der das, was kommen würde, schlicht und einfach nicht akzeptieren wollte.

Dieses Mal klangen ihre Worte ein paar Dezibel lauter als beim ersten Mal. Die Frau krallte ihre Finger noch fester ineinander, wollte durch schiere Willenskraft erzwingen, dass ihr Mantra mehr war als nur ein Geräusch, wollte es Wirklichkeit werden lassen. Victor beobachtete die angsterfüllte Frau. Er empfand vermutlich mehr Mitleid mit ihr als eine Katze für eine Maus, aber nach seiner Erfahrung besaßen Worte auf dem schmalen Grat zwischen Leben und Tod kaum eine Bedeutung mehr.

»Ich werde nicht sterben.«

Dieses Mal sprach die Frau mit normaler Lautstärke. Als die letzte Silbe über ihre Lippen gekommen war, hob sie den Kopf und löste die Hände voneinander. Ihre Augen wurden weit, und ihre Miene entspannte sich sichtlich. Die Anspannung, die ihren gesamten Körper in Besitz genommen hatte, wich.

Sie warf Victor zu ihrer Rechten einen Blick zu und lächelte ihn an, verlegen und unsicher zugleich. »Bitte, lachen Sie mich nicht aus. Ich weiß, dass das lächerlich klingt, ehrlich, aber ich muss es trotzdem machen.«

»Ich würde Sie niemals auslachen.«

Ihr Lächeln wurde ein wenig selbstbewusster. »Das ist sehr nett von Ihnen, vielen Dank. Es gibt nicht viele Menschen, die so verständnisvoll reagieren. Manche starren mich an, andere machen sich über mich lustig oder fangen an, mich zu beleidigen. Einmal hat ein kleines Mädchen sogar angefangen zu weinen. Ich wünschte wirklich, dass ich es lassen könnte, aber ich kann nicht. Es ist aber keine Zwangsneurose oder wie das heißt – ich glaube nicht, dass das Flugzeug abstürzt, wenn ich mein Sprüchlein nicht richtig aufsage, oder so. Wie verrückt muss jemand sein, der so einen Blödsinn tatsächlich glaubt? Das kann ich mir nicht einmal ansatzweise vorstellen. Ich habe einfach nur Flugangst. Das ist doch nichts Ungewöhnliches, oder? Ich habe Flugangst und muss mir vor jedem Start sagen, dass das Flugzeug nicht abstürzt und dass ich auch dieses Mal nicht sterben werde.«

»Tja, ich hoffe wirklich, dass Sie recht behalten«, erwiderte Victor. »Ansonsten sieht es für mich auch nicht besonders rosig aus.«

Ihr Lächeln verwandelte sich in ein Grinsen, und sie stieß ihn sanft mit dem Ellbogen an, als leise Anerkennung für seinen Witz. Zwei Stewardessen kamen den Mittelgang entlang und kontrollierten, ob alle Fluggäste angeschnallt waren. Victor tat zwar so als ob, schnallte sich aber nicht an.

»Selbstverständlich könnte das Flugzeug abstürzen, und ich könnte dabei sterben. Ich gehöre auch nicht zu denen, die glauben, dass die schlimmen Sachen immer nur den anderen passieren. Obwohl ich mir manchmal wünsche, ich könnte mit so einer seligen Ahnungslosigkeit durch den Tag spazieren. Ach, wäre das schön. Aber ich kann das nicht. Ich habe einen Verstand. Ich kann denken. Das ist ein Fluch. Gut möglich, dass ich eines Tages bei einem Flugzeugabsturz ums Leben komme, aber die Wahrscheinlichkeit ist ungefähr so groß wie sechs Richtige im Lotto. Ich kenne sämtliche statistische Daten zum Thema Flugverkehr. Und eins kann ich Ihnen sagen: Noch nie im Leben habe ich mir einen Lottoschein gekauft.«

»Auf der Fahrt zum Flughafen mit Ihrem Wagen oder mit dem Taxi, da hatten Sie bestimmt keine Angst, hab ich recht?«

»Ganz genau«, erwiderte die Frau und nickte heftig. Sie drehte ihren Oberkörper, sodass sie ihn besser anschauen konnte, und legte die Hände auf die Armlehne zwischen ihrem und seinem Sitz. Dann beugte sie sich über die Lehne hinweg zu ihm, viel dichter, als er erträglich fand. Aber normale Menschen konnten so etwas aushalten, und er war es gewohnt, so zu tun, als sei das auch für ihn kein Problem. Sie sprach weiter: »Auch darüber weiß ich alles. Ich muss immer alles wissen. Und reden muss ich auch ständig, das haben Sie wahrscheinlich schon gemerkt. Sie können mich ja verklagen deswegen. Nein, lieber nicht. Haben Sie gewusst, dass jedes Jahr rund siebenhundert Menschen bei Flugzeugabstürzen ums Leben kommen, aber bei Autounfällen tagtäglich dreitausend? Ich habe nicht einmal annähernd eine Vorstellung davon, wie viele das aufs Jahr gerechnet sind.«

»Ungefähr 100.000«, sagte Victor und verkniff sich die exakte Zahlenangabe von 109.500.

»Wow«, stieß sie mit weit aufgerissenen Augen hervor. »Da sehen Sie’s. Wir müssten eigentlich wahnsinnige Angst vor jeder Fahrt zum Supermarkt haben. Haben wir aber nicht, stimmts? Stattdessen fürchten wir uns vor dem Fliegen. Wir sind wirklich nicht ganz dicht.«

Victor nickte.

»Psychotherapie und Hypnose habe ich schon ausprobiert. Eine Schulung habe ich auch mitgemacht. Aber nichts hat geholfen. Ich kann meine Angst nur deshalb im Zaum halten, weil ich die statistischen Fakten kenne, weil ich weiß, wie die Chancen stehen.«

»Es ist immer gut zu wissen, wie die Chancen stehen«, erwiderte Victor.

»Nicht wahr? Und Angst haben wir schließlich alle, oder etwa nicht? Es sei denn, man hat diese Krankheit, wo man überhaupt keine Angst mehr empfindet. Jedenfalls wäre es eine Krankheit, von der man mal etwas hätte.«

»Ich denke ja.«

Sie berührte ihn leicht am Arm und fragte: »Was lockt Sie nach Berlin?«

»Die Arbeit«, entgegnete Victor.

»Arbeit, Arbeit, Arbeit und kein bisschen Spaß, stimmts?«

»Stimmt.«

»Ich habe mittlerweile die Hälfte aller Großstädte dieser Welt gesehen, wenn auch nur durch ein Taxifenster auf dem Weg zwischen meinem Hotel und dem Büro. Dieses Mal bin ich auf Arschkriecher-Tour. Meine Kanzlei gehört zu einem riesigen deutschen Großkonzern. Und ich bin vom Vorstand zur Chefdiplomatin auserkoren worden, um ›die Beziehungen zu festigen‹.« Sie malte mit ihren Fingern imaginäre Anführungszeichen in die Luft. »Mit anderen Worten: Ich bin die Einzige, die deutsch spricht. Hat ja auch seine guten Seiten. Ich darf drei Nächte in einem Viersternehotel verbringen, inklusive aller Spesen. Dort gibt es einen großen Wellness-Bereich, und ich habe keinen fetten Schnarcher im Bett neben mir liegen. Wie sieht es bei Ihnen aus? Sprecken Sie Deutsh

Er schaute sie ratlos an. »Wie bitte?«

Sie schüttelte den Kopf, zum Zeichen, dass es nicht so wichtig war. »Und, in welcher Branche sind Sie tätig?«

»Früher war ich freiberuflich unterwegs. Aber das hat sich letztendlich nicht ausgezahlt.«

»Und jetzt machen Sie den Sklaven für den großen Boss?«

Er nickte.

Sie stieß ihn erneut mit dem Ellbogen an. »Ich weiß, wie es Ihnen geht. Früher habe ich auch als freie Beraterin gearbeitet. Das war einfach großartig. Unfassbar gut bezahlt. Ich konnte mir die Jobs aussuchen. Jede Menge Freizeit, um meine beiden Jungs nach Herzenslust zu verwöhnen. Aus denen mittlerweile junge Männer geworden sind. Moment, ich korrigiere: Sie halten sich für junge Männer. Aber die Zeiten ändern sich. Das Klima wird rauer. Irgendwann entscheidet man sich eben für das regelmäßige Gehalt und verabschiedet sich von der Freiheit. Aber es nervt, wenn man nicht mehr sein eigener Chef ist, hab ich recht? Trotzdem, was wäre die Alternative? Wie soll man sonst überleben?«

»Ich bin noch dabei, das rauszufinden.«

»Darf ich Ihnen einen Rat geben? Machen Sie sich keine Gedanken. Freuen Sie sich jeden Monat auf Ihren Kontoauszug, und kriechen Sie in jeden Arsch, der für Ihren Job wichtig ist. Und wenn die Wirtschaft wieder besser läuft, dann drehen Sie den Spieß um und zeigen denen, was die Sie können. Ich heiße übrigens Victoria.«

Sie streckte ihm die Hand entgegen. Er ergriff sie. Sie fühlte sich weich und kühl an.

»Das ist ein wunderschöner Name.«

Sie strahlte. »Finden Sie wirklich? Ich weiß nicht so recht. Ich finde, Victoria klingt so altmodisch. Irgendwie muss ich jedes Mal an diese dicke, miesepetrige Königin denken, der man es nie recht machen konnte. Früher wollte ich immer die junge Scarlett in Vom Winde verweht sein. Heute hätte ich am liebsten einen modernen, exotischen Namen, Tatiana zum Beispiel. Ich wünschte wirklich, wir wären nicht so festgelegt auf das, was unsere Eltern sich für uns ausgesucht haben. Ich meine, überlegen Sie doch mal. Jahre,...