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Das zweite Leben des Herrn Roos - Roman - Ein Fall für Inspektor Barbarotti

Håkan Nesser

 

Verlag btb, 2009

ISBN 9783641027742 , 528 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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9,99 EUR

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1
Am Tag, bevor sich alles veränderte, hatte Ante Valdemar Roos eine Erscheinung.
Er ging mit seinem Vater durch einen Wald. Es war Herbst, und sie hielten einander an der Hand; das Sonnenlicht sickerte durch die hoch aufragenden Nadelbaumkronen, sie folgten dem niedergetretenen Pfad, der sich zwischen Preiselbeergestrüpp und bemoosten Steinen schlängelte. Die Luft war klar und frisch, ab und zu roch es nach Pilzen. Er war wohl fünf oder sechs, in der Entfernung waren Vögel zu hören und das Bellen eines Hundes.
Hier ist das graue Moor, sagte sein Vater. Hier steht oft der Elch.
Es war in den Fünfzigerjahren. Sein Vater trug eine Lederweste und eine karierte Mütze, jetzt nahm er sie ab, ließ die Hand seines Sohns los und wischte sich mit dem Hemdsärmel die Stirn ab. Er holte die Pfeife und seinen Tabak heraus und fing an, die Pfeife zu stopfen.
Schau dich um, Valdemar, mein Junge, sagte er. Besser als jetzt wird das Leben nie mehr.
 
Er war sich nicht sicher, ob das wirklich passiert war. Ob das eine richtige Erinnerung war oder nur ein Bild, das aus dem geheimnisvollen Brunnen der Vergangenheit auftauchte. Eine Sehnsucht nach etwas, das es vielleicht nie gegeben hatte.
Und ausgerechnet heute, mehr als fünfzig Jahre später, saß er auf einem sonnenwarmen Stein neben seinem Auto, schloss die Augen in der Sonne und fragte sich, was nun Wahrheit war und was Schein. Es war August, und seine Mittagspause war in einer halben Stunde zu Ende. Sein Vater war 1961 gestorben, als Valdemar erst zwölf Jahre alt gewesen war. Wenn er zurückdachte, tauchten oft Erinnerungsfetzen auf, die ein Hauch von Idyll umgab. Meist dachte er, dass es nicht erstaunlich wäre, wenn diese oder jene Szene nie stattgefunden hätte. So im Nachhinein betrachtet.
Doch diese Worte hatten echt geklungen, er hatte nicht das Gefühl, als hätte er es selbst erfunden.
Besser als jetzt wird das Leben nie mehr.
Und an die Mütze und die Weste konnte er sich noch deutlich erinnern. Er war fünf Jahre jünger als ich jetzt, als er starb, dachte er. Vierundfünfzig, älter wurde er nicht.
Er trank den letzten Schluck Kaffee und setzte sich dann hinters Lenkrad. Drehte den Sitz so weit es ging nach hinten und schloss erneut die Augen. Kurbelte die Seitenscheibe herunter, damit ihn der sanfte Wind erreichen konnte.
Schlafen, dachte er, ich schaffe es noch, eine Viertelstunde zu schlafen.
Vielleicht sehe ich noch einmal diese Erscheinung im Wald. Vielleicht passiert etwas anderes Schönes.
 
Die Firma Wrigmans Elektriska stellte Thermoskannen her. Zu Beginn, Ende der Vierziger und bis in die Achtziger hinein, hatte die Palette aus verschiedenen elektrischen Produkten bestanden, wie Ventilatoren, Haushaltsgeräte und Haartrockner, aber seit den Siebzigerjahren hatte man begonnen, Thermoskannen zu produzieren. Schuld an dieser Veränderung war in erster Linie die Tatsache, dass sich der Firmengründer, Wilgot Wrigman, in Verbindung mit einem Transformatorenbrand im Oktober 1971 buchstäblich in Rauch aufgelöst hatte. Was einer Firma für Elektrogeräte ein schlechtes Image verleiht. Die Leute vergessen nicht so schnell. Doch der Name wurde beibehalten, es gab Stimmen, die behaupteten, Wrigmans Elektriska sei ein Begriff. Die Fabrik lag in Svartö, einige Kilometer nördlich von Kymlinge, man hatte an die dreißig Beschäftigte, und Ante Valdemar Roos arbeitete als kaufmännischer Leiter seit 1980 dort.
Achtundzwanzig Jahre bis heute. Jeden Tag vierundvierzig Kilometer mit dem Auto; und wenn man außerdem vierundvierzig Arbeitswochen im Jahr rechnete – wenn man schon mal bei Zahlenspielen war – und dazu fünf Tage in der Woche, dann wurden das 271 040 Kilometer, was ungefähr einer siebenfachen Erdumkreisung entsprach. Die weiteste Reise, die Valdemar in seinem Leben gemacht hatte, war auf die griechische Insel Samos gegangen, das war im zweiten Sommer mit Alice gewesen und inzwischen zwölf Jahre her. Man konnte über die Zeit sagen, was man wollte, auf jeden Fall verging sie.
Aber es gab noch eine andere Art von Zeit. Ante Valdemar Roos stellte sich nämlich häufiger vor, dass es zwei stark voneinander abweichende Zeitbegriffe gäbe.
Die Zeit, die dahinraste – die einen Tag dem anderen hinzufügte, eine Falte zur anderen und ein Jahr zum nächsten -, an der war nicht viel zu ändern. Da hieß es nur nach bestem Vermögen dranzubleiben, wie die jungen Hunde an einer läufigen Hündin und die Fliegen an einem Kuharsch.
Mit der anderen Zeit, der immer wiederkehrenden, war es etwas anderes. Sie war langsam und zäh von ihrem Charakter her, manchmal geradezu stillstehend, zumindest konnte es den Anschein erwecken; wie diese zähen Sekunden und Minuten, wenn man als Siebzehnter vor einer roten Ampel an der Kreuzung Fabriksgatan-Ringvägen steht und wartet. Oder wenn man eine halbe Stunde zu früh aufwacht und ums Verrecken nicht wieder einschlafen kann – einfach seitlich im Bett liegt, den Wecker auf dem Nachttisch beobachtet und mit der Dämmerung eins wird.
Und sie war Gold wert, diese ereignislose Zeit, je älter man wurde, umso deutlicher trat einem das vor Augen.
Die Pausen, dachte er häufig, es sind die Pausen zwischen den Ereignissen – und während sich das Eis in einer Novembernacht über den See legt, wenn man ein wenig poetisch sein möchte -, in denen ich mich zu Hause fühle.
In denen solche wie ich sich zu Hause fühlen.
Er hatte nicht immer so gedacht. Eigentlich erst im letzten Jahrzehnt. Es hatte sich wohl irgendwie eingeschlichen, aber er war sich dessen erst bei einer ganz gewissen Gelegenheit bewusst geworden – erst dann hatte er es in Worte fassen können. Das war an einem Tag im Mai vor fünf Jahren gewesen, als das Auto plötzlich zwischen Kymlinge und Svartö seinen Geist aufgegeben hatte. Es war morgens gewesen, ein paar Minuten, nachdem er die Kreuzung an der Kvartofta-Kirche passiert hatte. Valdemar war an den Straßenrand gerollt, hatte ein paar Mal versucht, wieder zu starten, aber absolut vergebens. Als Erstes rief er Red Cow an und teilte ihr mit, dass er später kommen werde, anschließend den Straßendienst, der versprach, innerhalb einer halben Stunde mit einem Leihwagen bei ihm zu sein.
Es wurden dann anderthalb, und während dieser neunzig Minuten, während Valdemar dort hinter dem Lenkrad saß und die Vögel beobachtete, die unter dem hohen Maimorgenhimmel ihre Kreise zogen, das Licht, das über den Äckern Hof hielt und die Adern auf seinen Händen, durch die das Blut mit Hilfe seines treuen alten Herzens gepumpt wurde, da begriff er, dass es diese Augenblicke waren, in denen sich seine Seele einen Platz in der Welt suchte. Genau dann.
Es bekümmerte ihn nicht, dass der Abschleppwagen sich verspätete. Es störte ihn nicht, dass Red Cow anrief und fragte, ob er etwa stiften gegangen sei. Er spürte keinerlei Bedürfnis, mit seiner Ehefrau oder sonst einem anderen Menschen zu sprechen.
Ich hätte lieber eine Katze werden sollen, hatte Ante Valdemar Roos gedacht. Verdammt und zugenäht, so eine dicke Bauernkatze in der Sonne auf dem Hofplatz, das wäre was gewesen.
 
Er dachte auch jetzt an eine Katze, als er aufwachte und auf die Uhr schaute. Die Mittagspause würde in vier Minuten um sein, höchste Zeit, sich zurück zu Wrigmans zu begeben.
Das brauchte nicht mehr als zwei Minuten, er hatte diese geschützte Lichtung vor einem Jahr gleich hinter einem unbefahrenen Waldweg gefunden, nur ein paar Steinwürfe von der Fabrik entfernt. Manchmal machte er einen Spaziergang hierher, aber meistens nahm er das Auto. Er schlief gern ein Viertelstündchen, und da war es schön, einfach die Rückenlehne herunterzukurbeln und einzudösen. Ein auf der Erde schlafender Mann am Waldrand hätte Verdacht erregen können.
Der Personalraum von Wrigmans Elektriska maß so um die fünfzehn Quadratmeter, war mit dunkelbraunem Linoleum und lila Laminat bedeckt, und nachdem er ungezählte Mittagspausen dort verbracht hatte, hatte Ante Valdemar Roos eines Nachts einen Traum gehabt, in dem er tot war und in die Hölle kam. Es musste 2001 oder 2002 gewesen sein, der Teufel hatte ihn persönlich in Empfang genommen, hatte dagestanden und dem neu eingetroffenen Gast mit seinem charakteristischen, hämischen Lächeln die Tür aufgehalten, und der Raum dahinter war exakt der Aufenthaltsraum von Wrigmans gewesen. Red Cow hatte bereits in ihrer üblichen Ecke mit ihren Mikrowellennudeln und ihrem Horoskop gesessen, und sie hatte nicht einmal ihren Blick gehoben, geschweige denn ihm zugenickt.
Vom nächsten Tag an war Valdemar dazu übergegangen, Butterbrote, Joghurt und Kaffee an seinem Schreibtisch zu sich zu nehmen. Oder Banane und ein paar Pfefferkuchen, die er in seiner obersten rechten Schreibtischschublade verwahrte.
Und inzwischen, zumindest bei passablem Wetter, nahm er also gern den Wagen, um sich eine Stunde oder fünfzig Minuten davonzustehlen.
Red Cow fand, er wäre ein Sonderling, daraus machte sie keinen Hehl. Wobei das nicht nur seine Essensgewohnheiten betraf, aber er hatte gelernt, es zu ignorieren.
Mit den anderen verhielt...