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Verschlungene Wege - Roman

Nora Roberts

 

Verlag Diana Verlag, 2009

ISBN 9783641029456 , 624 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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9,99 EUR


 

1
Reece Gilmore fuhr mit ihrem qualmenden, überhitzten Chevy Cavalier durch das bergige Gelände von Angel’s Fist. Sie besaß noch hundertdreiundvierzig Dollar und ein paar Zerquetschte. Das dürfte gerade noch reichen, um den Wagen reparieren zu lassen und ihn und sich mit neuer Energie zu versorgen. Wenn sie Glück hatte und der Chevy nicht ernsthaft kaputt war, blieb ihr gerade noch genügend Geld übrig, um sich ein Zimmer zu nehmen.
Aber dann wäre sie auf jeden Fall pleite.
Sie nahm den Dampf, der unter der Motorhaube hervorqualmte, als Zeichen, dass es höchste Zeit war, ihre Reise zu unterbrechen und sich einen Job zu suchen.
Was soll’s, kein Problem, redete sie sich ein. Der kleine Ort in Wyoming, der sich an das kalte, blaue Gewässer eines Sees schmiegte, war so gut wie jeder andere. Vielleicht sogar besser. Er engte sie nicht ein mit seinem endlosen Himmel, in den die schneebedeckten Gipfel der Tetons hineinragten wie kühl-distanzierte Götter.
Sie war vor Tagesanbruch losgefahren und seit mehreren Stunden schon hatte sie sich bereits ziellos durch die Anselm-Adams-Postkartenlandschaft geschlängelt. Sie hatte Coy passiert, war durch Dubois gefahren – und obwohl sie mit dem Gedanken gespielt hatte, einen Abstecher nach Jackson Hole zu machen, war sie nach Süden abgebogen.
Irgendetwas musste sie ausgerechnet hier hingeführt haben. Während der letzten acht Monate hatte sie sich vorwiegend von Schildern und ihrem Instinkt leiten lassen. Vorsicht Kurve, Rutschgefahr bei Nässe. Nett, dass sich jemand die Mühe machte, solche Warnschilder aufzustellen.
Wenn das Sonnenlicht auf eine bestimmte Weise auf eine Nebenstraße schien oder eine Wetterfahne nach Süden zeigte, interpretierte sie das ebenfalls als Hinweis.
Gefiel ihr das Sonnenlicht oder die Wetterfahne, fuhr sie in die entsprechende Richtung, bis sie einen Ort fand, der zu diesem Zeitpunkt gerade richtig erschien. Dort blieb sie ein paar Wochen oder, wie in South Dakota, einige Monate. Sie suchte sich irgendeinen Job, sah sich die Gegend an und zog weiter, sobald sie Hinweise oder ihr Instinkt veranlassten, eine neue Richtung einzuschlagen.
Diese Lebensweise gab ihr ein Gefühl von Freiheit und führte dazu, dass die Angst, die zu ihrem ständigen Begleiter geworden war, ein wenig nachließ, was deutlich häufiger der Fall war. Die letzten Monate, in denen sie ganz auf sich selbst gestellt war, hatten ihr mehr geholfen als ein geschlagenes Jahr Therapie.
Doch wenn sie ehrlich war, hatte ihr die Therapie überhaupt erst dazu verholfen, wieder mit sich klarzukommen. Und zwar Tag für Tag aufs Neue, Nacht für Nacht. Und die vielen Stunden, die dazwischenlagen.
Und hier, in der geballten Faust von Angel’s Fist, wartete ein weiterer Neuanfang auf sie.
Zumindest konnte sie hier ein paar Tage den See und die Berge genießen und genügend Geld verdienen, um ihre Weiterfahrt zu sichern. Ein Ort wie dieser, der laut Ortsschild sechshundertzweiunddreißig Einwohner hatte, lebte sicherlich hauptsächlich vom Tourismus, von der schönen Landschaft und dem nahegelegenen Nationalpark.
Ein Hotel gab es hier bestimmt, wahrscheinlich noch ein paar Bed & Breakfasts und unter Umständen eine Ferienranch im näheren Umkreis. Es könnte Spaß machen, auf einer Ferienranch zu arbeiten. Dort wurde immer jemand für Botengänge, Aufräum- und Putzarbeiten gebraucht – vor allem jetzt, wo das Frühlingstauwetter den Winter endlich zu vertreiben schien.
Doch da ihr Wagen mittlerweile noch heftigere, verzweifelte Rauchsignale von sich gab, brauchte sie zuallererst einmal einen Automechaniker.
Sie tuckerte die Straße entlang, die sich wie ein Band um den lang gestreckten, breiten See wand. Im Schatten bildeten Schneereste schmutzig weiße Pfützen. Die Bäume hatten immer noch keine Blätter, aber es waren bereits einige Boote auf dem Wasser. Sie konnte ein paar Männer mit Windjacken und Baseballkappen in einem weißen Kanu erkennen, die durch die sich im Wasser spiegelnden Berge paddelten. Das Bild war so klar, dass sie hochblickte und beinahe erwartete, dass sich auch das Kanu in den Bergen spiegelte.
Auf der anderen Seite des Sees konnte sie das Ortszentrum ausmachen: ein Souvenirladen, eine kleine Galerie. Sie erkannte eine Bank und eine Post. Das Büro des Sheriffs.
Sie verließ den See und brachte ihren ächzenden Wagen vor einer Art großen Scheune zum Stehen, in der ein Gemischtwarenladen untergebracht war. Davor saßen ein paar Männer in Flanellhemden auf wetterfesten Stühlen, von denen man eine schöne Aussicht auf den See hatte.
Sie nickten ihr zu, als sie den Motor abstellte und ausstieg. Der am weitesten rechts saß, tippte sich an den Schirm seiner blauen Baseballkappe, auf der der Name des Ladens stand: Mac’s Mercantile and Grocery.
»Sieht ganz so aus, als hätten Sie Schwierigkeiten, Lady.«
»Und ob. Wissen Sie, wer mir da weiterhelfen kann?«
Der Mann stemmte die Hände auf die Oberschenkel und erhob sich von seinem Stuhl. Er war kräftig gebaut, hatte braune Augen und freundliche Lachfältchen in seinem verwitterten Gesicht. Er sprach langsam und gedehnt.
»Warum öffnen wir nicht einfach die Motorhaube und sehen mal nach?«
»Das wäre nett.« Nachdem sie den Hebel gedrückt hatte, klappte er die Motorhaube hoch und trat wegen des Qualms gleich einen Schritt zurück. Irgendwie fand Reece das Ganze eher peinlich als beängstigend. »Das hat vor ungefähr zehn Kilometern angefangen. Ich hab nicht genau darauf geachtet, weil ich nur Augen für die Landschaft hatte.«
»Wundert mich nicht. Wollen Sie in den Nationalpark?«
»Das hatte ich ursprünglich vor. Oder so was in der Art.« Aber sicher war sie sich da nicht. Im Grunde war sie sich bei nichts wirklich sicher, dachte sie. Sie versuchte sich wieder auf das Hier und Jetzt zu konzentrieren, anstatt in Gedanken zurück- oder vorauszueilen. »Aber ich fürchte, mein Wagen hatte andere Pläne.«
Sein Freund trat neben ihn, und die beiden Männer sahen unter die Motorhaube, wie das nur Männer können. Mit wissendem Blick und gerunzelter Stirn. Sie tat es ihnen gleich, auch wenn ihr klar war, wie lächerlich das wirken musste. Eine Frau, die einen Blick unter die Motorhaube wirft, ist wie ein Wesen von einem anderen Planeten.
»Der Kühlerschlauch ist kaputt«, sagte er. »Den werden Sie wohl ersetzen müssen.«
Das klang zum Glück recht harmlos, nach keiner teuren Reparatur.
»Gibt es hier irgendwo eine Werkstatt, die das für mich erledigen kann?«
»Lynt wird Ihnen das reparieren. Wenn Sie mögen, ruf ich schnell dort für Sie an.«
»Sie sind meine Rettung.« Sie schenkte ihm ein Lächeln und gab ihm die Hand – was ihr bei Fremden noch am leichtesten fiel. »Ich bin Reece, Reece Gilmore.«
»Mac Drubber. Und das hier ist Carl Sampson.«
»Sie stammen von der Ostküste, stimmt’s?«, fragte Carl. Er sah aus wie ein gut erhaltener Mittfünfziger und hatte eine Spur indianisches Blut in sich.
»Ja. Aus der Nähe von Boston. Vielen Dank für Ihre Hilfe.«
»Ist doch nur ein Anruf«, sagte Mac. »Sie können sich hier aufwärmen oder einen Spaziergang machen. Es kann eine Weile dauern, bis Lynt auftaucht.«
»Ich würde gern einen kurzen Spaziergang machen, wenn Sie nichts dagegen haben. Vielleicht wissen Sie ja eine nette Unterkunft für mich. Nichts Besonderes.«
»Weiter unten liegt das Lakeview Hotel. Das Teton House auf der anderen Seite des Sees ist gemütlicher. Mehr so was wie ein Bed & Breakfast. Und dann gibt es noch Ferienhäuser am See oder außerhalb des Orts, die man wochen- oder monatsweise mieten kann.«
Sie dachte nicht mehr in Monaten. Ein Tag, das war schon Herausforderung genug. Und gemütlich klang ihr zu privat. »Vielleicht schau ich mir mal das Hotel an.«
»Das ist ein ganz schönes Stück zu Fuß. Ich könnte Sie fahren.«
»Ich saß schon den ganzen Tag im Auto. Ein Spaziergang wird mir gut tun. Trotzdem – vielen Dank, Mr. Drubber.«
»Ganz wie Sie wollen.« Er blieb noch eine Weile stehen, während sie den Bürgersteig entlanglief. »Ein hübsches Ding«, bemerkte er.
»An der ist doch nichts dran.« Carl schüttelte den Kopf. »Heutzutage hungern sich die Frauen alle Kurven weg.«
Sie hatte sich nicht heruntergehungert, sondern versuchte im Gegenteil zuzunehmen, was sie während der letzten Jahre abgenommen hatte. Sie war einmal fit und schlank gewesen, danach einfach nur dürr. Jetzt konnte man sie immerhin als so was wie schlaksig bezeichnen. Zu viele Ecken und Kanten, zu viele Knochen. Wenn sie sich auszog, kam ihr ihr Körper jedes Mal fremd vor.
Sie selbst hielt sich nicht für ein...