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Das Haus der Sonnen - Roman

Alastair Reynolds

 

Verlag Heyne, 2009

ISBN 9783641032975 , 704 Seiten

Format ePUB, OL

Kopierschutz Wasserzeichen

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8,99 EUR


 

ERSTER TEIL
Ich wurde geboren in einem Haus mit zahllosen Räumen, errichtet auf einer kleinen, atmosphärelosen Welt am Rande vom Reich des Lichts und des Handels, das die Erwachsenen aus mir unerfindlichen Gründen »Goldene Stunde« nannten.
Damals war ich ein Mädchen, ein Individuum mit Namen Abigail Gentian.
Im Laufe meiner dreißigjährigen Kindheit sah ich nur einen kleinen Teil des unermesslichen, verschachtelten, in unaufhörlicher Verwandlung begriffenen Hauses. Auch als ich älter wurde und über die Berechtigung verfügte, nach Belieben umherzustreifen, erkundete ich wohl kaum ein Hundertstel des Gebäudes. Die langen, abweisenden Gänge aus Spiegeln und Glas und die korkenzieherartig gewundenen Treppen, die aus dunklen Kellern und Gewölben aufstiegen, welche nicht einmal von den Erwachsenen betreten wurden, schüchterten mich ein, in den Räumen und Salons spukte es angeblich – auch wenn die Erwachsenen und Bediensteten in meiner Gegenwart nie davon sprachen -, oder sie waren aus irgendeinem Grund nur für den vorübergehenden Aufenthalt geeignet. Die Aufzüge und das tumbe Personal erschreckten mich, wenn sie sich ohne ersichtlichen Grund aufgrund einer unbegreiflichen Laune der Hauspersönlichkeit in Bewegung setzten. Es war ein Haus der Gespenster und Monster, in dessen Schatten Ghule lauerten und hinter dessen Wandvertäfelung Dämonen ihr Unwesen trieben.
Ich hatte nur einen wahren Freund; seinen Namen habe ich vergessen. Hin und wieder besuchte er mich, aber immer nur kurz. Ich durfte seine Annäherung und das Andocken seines Privatshuttles von einem verglasten Ausguck in der Spitze des höchsten Turms aus mitverfolgen. Ich freute mich immer, wenn Madame Kleinfelter es mir gestattete, den Aussichtsturm zu betreten, und das nicht nur deshalb, weil dieses Ereignis das Eintreffen meines einzigen wahren Gefährten ankündigte. Denn vom Ausguck aus konnte ich das ganze Haus und einen großen Teil der Welt überblicken, auf der es errichtet war. Das Haus bog sich in alle Richtungen von mir weg, bis es an die scharfe Krümmung des zerklüfteten Planetoidenhorizonts stieß, ein schmaler Gesteinsrand, der die Grenze meines Zuhauses markierte.
Es war ein seltsames Gebäude, wenngleich es mir lange an Vergleichsmöglichkeiten fehlte. Es war ohne erkennbaren Plan errichtet worden, es wies keine Spur von Symmetrie oder Harmonie auf – und falls doch, so war sie unter den zahllosen An- und Umbauten verschwunden, die noch immer nicht zum Abschluss gekommen waren. Obwohl der Planetoid keine Atmosphäre besaß und es daher auch kein Wetter gab, war das Haus so gebaut, als gehörte es auf eine Welt, wo es regnete und schneite. Jeder Teil davon, jeder Flügel und jeder Turm, war gekrönt von einem steilen, mit blauen Schindeln gedeckten Dach. Es gab Tausende Dächer, die in willkürlichen, beunruhigenden Winkeln aneinanderstießen. Die chaotische, an Dinosaurierrücken erinnernde Dachlandschaft war mit Schornsteinen, Aussichts- und Uhrentürmen durchsetzt. Manche Teile des Hauses waren nur ein- oder zweistöckig; andere hatten zwanzig oder mehr Etagen, und die höchsten Abschnitte ragten wie Berge aus der Hügellandschaft der umliegenden Bauten hervor. Mit Fenstern versehene Brücken überspannten die Lücken zwischen den Türmen; hin und wieder warf eine ferne Gestalt verstohlen einen Blick durch die hell erleuchteten Fenster. Es war weniger ein Haus als eine Stadt, die man vollständig durchqueren konnte, ohne jemals ins Freie zu gelangen.
In späteren Jahren erfuhr ich, weshalb mein Zuhause so und nicht anders war und weshalb die Arbeiten niemals zum Abschluss kamen, doch als Kind nahm ich es einfach fraglos hin. Mir war bewusst, dass das Haus anders war als die Häuser, die ich in den Büchern und Infowürfeln sah, doch das galt eigentlich für alle bedeutsamen Aspekte meines Lebens. Noch ehe ich lesen konnte, war mir klar, dass wir reich waren, und ich war durchdrungen von dem Wissen, dass es nur eine Handvoll Familien gab, deren Reichtum sich mit dem unseren messen konnte.
»Du bist eine ganz besondere junge Dame, Abigail Gentian«, sagte meine Mutter bei einer der vielen Gelegenheiten, da ihr altersloses Gesicht mich aus einem der vielen Fenster heraus ansprach. »Du wirst in deinem Leben einmal Großes bewirken.«
Sie hatte ja keine Ahnung.
Ich brauchte nicht lange, um zu begreifen, dass auch der kleine Junge das Kind einer reichen Familie sein musste. Er kam mit seinem eigenen Raumschiff, nicht mit einem der firmeneigenen Linienschiffe, welche die gewöhnlichen Sterblichen zu unserem Planetoiden beförderten und sie wieder abholten. Ich beobachtete, wie er aus der Tiefe des Weltraums heranflog, mit einer kobaltblauen Flamme verzögerte und über einem der Außenflügel des Hauses zum Stillstand kam, beim Landemanöver eine Art Pirouette vollführte, skelettartige Beine ausfuhr und sich mit eleganter Präzision auf das Landefeld absenkte. Unser Familienwappen war eine schwarze Fünfblattrosette; seines zwei ineinander greifende Zahnräder, die auf der Flanke des schlanken, mit Nieten besetzten Raumschiffsrumpfs abgebildet waren.
Sobald das Schiff gelandet war, rannte ich so schnell los, dass ich auf der engen Wendeltreppe, die sich durch den Turm wand, beinahe gestürzt wäre. Der Kindermädchenklon, der mich an dem betreffenden Tag beaufsichtigte, brachte mich zu einem Aufzug, und dann fuhren wir nach oben, nach unten und seitwärts, bis wir am Landedock angelangt waren. Für gewöhnlich trafen wir in dem Moment dort ein, wenn der kleine Junge gerade in Begleitung von zwei dahingleitenden Robotern mit zögernden Schritten die lange, teppichbelegte Rampe herabgeschritten kam.
Die Robots machten mir Angst. Es waren unförmige Dinger mit einer matten, verwitterten Oberfläche, mit Köpfen, Oberkörpern und Armen, aber nur einem einzelnen großen Rad anstelle der Beine. Die Gesichter bestanden aus einer vertikalen Linie an der Vorderseite des keilförmigen Kopfes, ähnlich den Schießscharten in einer Burgmauer. Sie hatten keine Augen und keinen Mund. Die Arme waren segmentiert und endeten in dreiteiligen Klauen, die allenfalls dazu taugen mochten, Fleisch und Knochen zu zermalmen. In meiner Vorstellung hielten die Roboter den kleinen Jungen gefangen, wenn er nicht bei mir zu Besuch war, und taten ihm schreckliche Dinge an – so grauenhafte Dinge, dass er nicht einmal dann darüber sprechen konnte, wenn wir unter uns waren. Erst als ich älter geworden war, begriff ich, dass sie seine Leibwächter waren und in ihren beschränkten Köpfen so etwas wie Liebe für ihn hegten.
Die Robots kamen nur bis zum Ende des Teppichs und rollten niemals auf den Holzboden des Empfangsbereichs. Der Junge hielt dort kurz inne, dann setzte er seine schwarz polierten Schuhe mit einem lauten Klacken auf die lackierten Holzbohlen. Bis auf die weißen Stulpen und den weißen Spitzenkragen war er schwarz gekleidet. Er hatte einen kleinen Rucksack dabei und sich das schwarze Haar mit einem stark riechenden Festiger aus der Stirn zurückgekämmt. Sein Gesicht war bleich und ein wenig pummelig, mit runden, dunklen Augen von unbestimmter Farbe.
»Du hast seltsame Augen«, pflegte er zu mir zu sagen. »Das eine blau und das andere grün. Weshalb hat man das bei deiner Geburt nicht gerichtet?«
Die Robots drehten sich in der Hüfte und rollten ins Shuttle zurück, wo sie warten würden, bis es für ihn Zeit wurde, wieder zurückzufliegen.
»Das Gehen fällt mir hier schwer«, sagte der Junge immer. Seine Schritte wirkten unsicher. »Alles ist so beschwerlich.«
»Für mich ist das ganz normal«, sagte ich.
Erst viel später wurde mir klar, dass der Junge von der Goldenen Stunde kam, wo nur die halbe Standardschwerkraft herrschte, weshalb er Mühe mit der Fortbewegung hatte, wenn er dem Planetoiden einen Besuch abstattete.
»Vater meint, es ist gefährlich«, sagte der Junge, als wir zum Spielzimmer gingen, zwei Kindermädchen im Schlepptau.
»Was ist gefährlich?«
»Das Ding in deiner Welt. Oder hat dir noch niemand davon erzählt?«
»In der Welt ist nichts als Gestein. Das weiß ich genau – ich hab’s im Würfel nachgeschaut, nachdem du mir erzählt hattest, in den Höhlen unter dem Haus würden Schlangen leben.«
»Der Würfel hat dich angelogen. Das tun die, wenn sie glauben, sie müssten einen vor der Wahrheit schützen.«
»Die Würfel lügen nicht.«
»Dann frag mal deine Eltern nach dem Schwarzen Loch. Das befindet sich genau unter deinem Haus.«
Er musste gewusst haben, dass mein Vater tot war und dass ich nur meine Mutter fragen konnte, wenn ihr Gesicht in einem der Fenster erschien.
»Was ist ein Schwarzes Loch?«
Der Junge überlegte einen Moment. »Das ist eine Art Ungeheuer. So etwas Ähnliches wie eine schwarze Riesenspinne, die in einem unsichtbaren Netz hängt. Alles, was in ihre Nähe kommt, das packt und sticht sie und frisst es bei lebendigem Leib. Und unter deinem Haus lebt eine ganz große Spinne.«
»Und was ist mit den Schlangen passiert?«, fragte ich altklug. »Hat die Spinne sie gefressen?«
»Das mit den Schlangen war gelogen«, sagte der Junge leichthin. »Aber das Schwarze Loch gibt es wirklich – frag den Infowürfel, wenn du mir nicht glaubst. Deine Eltern haben es unter das Haus gepflanzt, damit alles schwerer wird. Wenn es das nicht gäbe, würden wir jetzt schwerelos schweben.«
»Wie stellt die Spinne es denn an, dass alles schwerer wird?«
»Ich habe...