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Der Lilienring - Roman

Andrea Schacht

 

Verlag Blanvalet, 2009

ISBN 9783641030636 , 480 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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7,99 EUR


 

4. Kapitel
Bretagne, 1795 – Flucht
Marie-Anna lief mit fliegenden blonden Zöpfen die Allee entlang. Das goldbraune Laub raschelte unter ihren Füßen. Erst hinter der Colombière, dem steinernen Taubenhaus, das wie ein riesiger Bienenkorb vor dem Tor hockte, hielt sie an. Es war nicht das ideale Versteck. Charles würde sie zu schnell finden. Der Sohn des Verwalters, wie sie selbst zwölf Jahre alt, hatte sie wie üblich aufgestöbert, als sie sich verbotenerweise aus dem Schloss gestohlen hatte, um die Eichhörnchen im Park mit Nüssen zu locken. Nicht dass es gefährlich war, die possierlichen Nager zu füttern, aber die Zeiten waren nicht danach, ungehindert die schützenden Mauern des Anwesens zu verlassen.
Das Chateau Kerjean lag einen gut dreistündigen Fußmarsch vom Meer entfernt inmitten von Flachsfeldern. Es war eigentlich kein richtiges Schloss, eher ein gro ßes Landgut. Doch der Vorfahr, der es im siebzehnten Jahrhundert gebaut hatte, ließ sein Anwesen mit einem Wassergraben und einer turmbewehrten Mauer umgeben, weniger um es gegen kriegerische Auseinandersetzungen zu schützen, als der Mode der Zeit zu folgen, die der Festungsbauer Vauban geprägt hatte. Der jetzige Gutsherr, Brior de Kerjean, hatte weder Lust noch Geld, diese Spielerei mit Wachleuten zu besetzen. Sein Anliegen galt der Landwirtschaft und der Leinenherstellung. Er exportierte das Rohleinen meist über den Kanal nach England und hatte dort verlässliche Abnehmer.
Marie-Anna lugte um die Colombière, Charles war nicht zu sehen. Sie hatte ihn also doch abgehängt, dachte sie zufrieden. Ihre Genugtuung endete in genau dieser Sekunde, als sie sich an den Zöpfen gepackt fühlte.
»Du meinst wohl, ich könnte es mit einem spillerigen Mädchen wie dir nicht aufnehmen, was?« Charles, strohblond, mit einem grinsenden, aber freundlichen Gesicht, war hinter ihr aufgetaucht und schnaufte noch etwas von dem raschen Lauf. »Hör mal, du sollst nicht alleine den Hof verlassen, hat deine Maman angeordnet.«
»Na, ich bin ja nicht allein. Du schleichst mir doch ständig hinterher.«
»Mademoiselle Sophy hat dich gesucht!«
»Die sucht mich immer, und wenn sie mich findet, verlangt sie, dass ich meine Stickarbeiten mache. Äh!«
»Trotzdem, Marie-Anna, es ist nicht gut, wenn du dich hier draußen alleine aufhältst. Du weißt doch, wie viel Gesindel sich hier herumtreibt. Und seit dein Vater verschwunden ist...«
»Mein Vater ist nicht verschwunden! Er wird bald zurückkommen!«
Traurig sah Charles das Mädchen an. Ob Brior, der Herr von Kerjean zurückkam, lebend und vielleicht sogar unverletzt, das war derzeit kaum anzunehmen.
Der schwarzbärtige Brior hatte das Schloss von seinem Vater geerbt und das zugehörige Land mit gutem Erfolg bewirtschaftet. Vor dreizehn Jahren hatte er Denise geheiratet, eine zarte, blonde Frau aus adligem Geschlecht, die er sehr liebte. Sie hatte ihm schon im ersten Ehejahr eine Tochter geschenkt, Marie-Anna, auf die er, auch wenn er es nicht häufig zeigte, sehr stolz war. Das Mädchen hatte die lockigen blonden Haare seiner Mutter geerbt, jedoch nicht deren Zartheit. Sie war ein robustes kleines Ding, das die vornehme englische Nanny kaum zu bändigen wusste. Leider hatte Denise in den darauf folgenden Jahren nur zwei tot geborene Söhne zur Welt gebracht, so dass nach wie vor kein Erbe im Hof und in den Gärten des Chateaus herumtollte. Dann brach die Revolution über Frankreich herein.
Zwar stießen die Ideen von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit auch bei den Bretonen auf Interesse, doch als es hieß, dass die Kirchen säkularisiert werden sollten und die Rekrutierungsoffiziere der Revolutionsarmee versuchten, die dringend in der Wirtschaft des Landes benötigten jungen Männer zu werben, da begehrte das schon immer seinen eigenen Gesetzen folgende Volk auf. Es bildete sich eine Gegenbewegung, die sich als katholisch und königstreu bezeichnete, und deren Mitglieder sich Chouans nannten.
Brior le Noir war einer von ihnen.
Doch der Kampf der Minderheit war vergebens. Im Jahr 1795, als die Chouans versuchten, mit britischer Unterstützung das neue Regime zu vertreiben, erlitten sie auf der Halbinsel Quiberon eine vernichtende Niederlage. Beinahe tausend ihrer Leute wurden unter General Hoche hingerichtet. Viele aber konnten auch fliehen und waren untergetaucht. Darunter war Marie-Annas Vater.
»Still, Charles, hörst du? Ein Reiter!«
Marie-Anna sah sich triumphierend zu dem Jungen um. Ein galoppierendes Pferd näherte sich, genau wie Brior stets die Allee heraufgeprescht war. Aber es war nicht der Schlossherr, der dort auf dem schwitzenden Hengst auf die heruntergelassene Torbrücke zuhielt.
»Das ist mein Vater, Marie-Anna. Und so, wie er reitet, bringt er wichtige Botschaften. Komm, wir rennen hinter ihm her.«
Die beiden Kinder folgten dem Reiter und sahen, wie er vor der Remise vom Pferd glitt, um sofort zum Wohnturm zu laufen. Sophy, die aus dem Küchentrakt kam, sah ihm mit bedenklicher Miene nach, nahm dann Marie-Anna wahr und ging zu ihr.
»Ich sollte dich ausschelten.«
»Ja, Miss Sophy.«
»Ich tue es aber nicht. Komm mit. Ich habe das Gefühl, es ist etwas Wichtiges geschehen.«
Sie stiegen gemeinsam die steinerne Treppe empor und klopften an die Tür des Zimmers der Schlossherrin.
Denise, wieder hochschwanger, bewohnte die Zimmer im südlichen Turm. Bei ihr war Germain, der Verwalter und Charles Vater, und redete eindringlich auf sie ein.
»Sie müssen fliehen, Madame. Gerüchte sagen, die Franzosen requirieren alles Gut, das den Aufständischen gehört. Die Soldaten gehen nicht eben gut mit Frauen und Kindern um.«
»Nein, Germain, du siehst doch, ich bin nicht in der Lage, auch nur das Haus zu verlassen. Die Niederkunft steht kurz bevor. Wenn nur ein Funken Menschlichkeit in den Soldaten ist, werden sie mich nicht belästigen.«
»Auf den Funken Menschlichkeit würde ich mich nicht verlassen, Madame. Und Ihre Tochter, sie ist zwölf, ein junges Mädchen...«
»Ja, Marie-Anna muss gehen.«
»Aber Sie müssen Schutz suchen, Madame. Wenigstens dürfen Sie nicht im Schloss bleiben.«
Denise seufzte und strich Marie-Anna über die Haare. Das Mädchen hatte sich zu ihren Füßen gesetzt, die Lippen weiß vor Angst, die Finger fest verschränkt.
»Marie-Anna, kleine Annik!«, flüsterte Denise. »Du musst tun, was er sagt. Sophy soll das Allernotwendigste einpacken. Ihr müsst zur Küste und sehen, ob ihr ein Schiff nach England findet.«
»Maman, ich kann Sie doch nicht alleine lassen!«, schluchzte Marie-Anna auf. »Papa ist noch nicht zurückgekommen. Wir wissen nicht, was mit ihm geschehen ist.«
»Du musst gehen, Kind. Nicht für immer. Irgendwann wird der Wahnsinn vorüber sein, und dann werden wir alle hier wieder vereint sein.«
»Aber wo soll ich hingehen, Maman?«
»Sophy wird dir helfen, Sir Garret zu finden. Er ist Papas Geschäftspartner. Er wird sich um dich kümmern.«
»Darf ich vorschlagen, dass Marie-Anna sich noch heute Nacht auf den Weg zur Küste macht, Madame. An der Ile de Sieck legen ab und zu englische Schiffe an. Einige der Kapitäne haben schon Ware von Ihrem Gatten transportiert.«
»Schmuggler.«
Der Verwalter zuckte mit den Schultern.
»Manch Adliger ist mit ihrer Hilfe dem Schafott entronnen. Gebt dem Mädchen etwas Geld mit. Aber lasst sie noch heute aufbrechen. Die Zeit drängt.«
So kam es, dass Marie-Anna als schlichtes Bauernmädchen verkleidet neben einer schweigsamen, hageren Frau mittleren Alters bei Anbruch der Dunkelheit das Chateau Kerjean verließ. Beide trugen Bündel mit Kleidern und darin versteckt, in Säume und Taschen eingenäht, einige Goldmünzen.
Den Weg zur Küste kannte Marie-Anna. Oft genug war sie ihn früher mit ihrem Vater entlanggeritten, um einen Tag am Meer zu verbringen. Als sie noch sehr klein war, hatte er sie auf den Sattel vor sich gesetzt, später war sie dann auf dem Pony geritten. Als sie alt genug war, hatte er ihr eine brave Stute geschenkt, die sie mit Begeisterung geritten hatte. Es waren glückliche Zeiten, die sie hinter sich ließ für eine ungewisse Zukunft, die eine ungewisse Sicherheit bot. Sehr ungewiss, denn der Gefahr waren sie noch nicht entronnen.
Es war eine stürmische Nacht. Je näher sie dem Meer kamen, desto heftiger zerrte der Wind an ihren Kleidern und Hauben. Er heulte zwischen den Felsbrocken, die überall wie von Riesenhänden hingeworfen aus den Feldern ragten, er peitschte die Hecken am Wegesrand und trug den Geruch von salziger Gischt herbei. Gegen Mitternacht waren sie durchgefroren und erschöpft. Dankbar nahmen sie Unterschlupf in einer baufälligen Scheune.
Im Morgengrauen wanderten sie weiter, umgingen das kleine Fischerdörfchen Plouescat, beschritten unebene Feldwege und vermieden vor allem den schmalen Küstenpfad, auf dem die Zöllner...