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Grenzgängerin - Leben zwischen den Welten

Asli Bayram

 

Verlag Gütersloher Verlagshaus, 2009

ISBN 9783641037895 , 176 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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13,99 EUR


 

Lernt wann immer und wo ihr könnt, hat mein Vater oft gesagt. Ich habe den Klang seiner Stimme noch im Ohr. Er war gütig und warmherzig. Selbst für die einfachsten Alltagsbelange fand er mühelos den richtigen Ton. Seine väterlichen Worte waren niemals Befehle, sondern vielmehr liebevoll geäußerte Wünsche. Wir spürten das und hätten unserem Vater daher niemals widersprochen, auch wenn wir Kinder - wie Kinder eben sind - gelegentlich andere Absichten hatten.

Wir, das sind fünf Geschwister, ich, meine drei Schwestern und mein Bruder. Die Schwestern älter, der Bruder jünger. Wir durften so sein, wie alle Kinder sein sollten, lebhaft, manchmal eigensinnig, manchmal einfach nur verträumt, und konnten unbehindert in unseren Kinderwelten leben. Wir waren Prinzessinnen und Prinz unserer Welten.
Mein Vater und meine Mutter haben sich aus tiefstem Herzen geliebt, und sie haben diese Liebe auf uns Kinder in jeder Sekunde ihres Lebens übertragen. Das Erste, was ich von beiden gelernt habe, ist lieben zu können.
Ich habe meine Mutter einmal gefragt: »Woher kommt Liebe?« Sie nahm mich in die Arme und sagte: »Aus einem reinen Herzen«. Ich war noch klein und hatte keine Vorstellung von einem reinen Herzen, also fragte ich: »Gibt es auch schmutzige Herzen?« Sie sah mich lange an und antwortete: »Asli, geh allen Menschen, die nicht reinen Herzens sind, aus dem Weg!« Am Abend fragte ich Vater, als er mich ins Bett brachte: »Was ist ein reines Herz?« Ich dachte, er würde mir nun wie oft, wenn ich komplizierte Fragen stellte, als Erklärung ein Erlebnis aus seinem Leben oder vielleicht sogar zu meiner großen Freude ein türkisches Märchen erzählen. Seine Antwort aber war: »Schau auf deine Mutter, dann weißt du es.« Dieser Satz leuchtet noch heute, viele Jahre später in all seiner Schönheit in meiner Seele.

Diese Erinnerung macht mich glücklich. Meine persönliche Glücksdefinition lautet: »Glück ist: Zeit mit Menschen verbringen, die man liebt.« Menschen bedeuten auch Geschichten, an die man sich gerne erinnern möchte. Mit Fotos geht das immer noch am besten. Familienfotos sind mir und meinen Geschwistern daher sehr wichtig und wir behandeln sie wie kleine Kostbarkeiten. Fotoalben sind ein wichtiger Teil unseres kollektiven Gedächtnisses. Da ich meine Mutter und meine Geschwister nicht oft sehen kann, betrachten wir gerne Fotos, die sie im Laufe der Zeit gemacht haben, als ich nicht da war, und die, die ich auf meinen Reisen geknipst habe. Kaum steht der Kaffee auf dem Tisch, holen meine Geschwister ihre Fotoalben und Notebooks. Wir sehen uns nicht mehr so oft wie früher, und deshalb möchten wir uns alles in kürzester Zeit erzählen, wir möchten alles loswerden, was ist, sein wird und war, die Gegenwart, die Zukunft und natürlich auch die Vergangenheit. Das gehört einfach dazu, auch wenn wir fast jeden Tag telefonieren. Ich liebe diesen Moment der Fotoschau. In mir entsteht eine wunderbare Spannung. Unser vergangenes Leben nimmt Form an, kehrt aus dem Nebel der Vergangenheit in klaren Bildern zurück. Jedes Foto ist die permanente Wiedergeburt eines gewesenen Momentes. Es ist wunderbar, der Vergangenheit Bilder zuordnen zu können, die für alle erkennbar sind. Wie war es wohl vor der Erfindung der Fotografie? Wie konnten sich die Menschen kollektiv erinnern?
Man erinnert sich zwar auch anhand von Erzählungen, aber jeder erzählt dieselbe Geschichte anders, mit einem anderen Ziel oder aufgrund einer anderen Wahrnehmung oder eben sich anders erinnernd. Aber bei den Fotos, die wir uns gemeinsam anschauen, geht es meistens um Momente des Glücks. Denn wann fotografiert der Mensch am häufigsten?
Ich jedenfalls fotografiere hauptsächlich, wenn es mir sehr gut geht, wenn ich mit Menschen zusammen bin, mit denen ich mich wohlfühle oder ich Dinge erlebe, die ich festhalten will, weil sie mir in diesem Moment etwas bedeuten.

Zwischen Kaffeetassen und Kuchentellern stapeln sich also unsere Fotoalben und wir blättern auf vielen Seiten durch unser Leben oder schauen uns die noch nicht entwickelten Fotos auf dem Notebook an. Oft ist es so, dass immer noch jemand aus der Familie dazukommt, ab und zu auch Cousinen und Freunde, und es wird viel gelacht und erzählt. Kein Foto bleibt unerwähnt oder wird überblättert.
Auch diese speziellen Momente, an denen wir uns gemeinsam Fotos anschauen, machen mich sehr glücklich. Alle paar Monate holen wir die älteren Alben heraus und beginnen mit unseren Babyfotos oder bei einem Foto, das maximal einen Monat alt ist. Meine Fotos bestehen meist aus Schnappschüssen aus einer Stadt, zum Beispiel New York, Los Angeles, Istanbul oder London. Ich habe selbst ein Faible fürs Fotografieren und meistens eine kleine Kamera dabei, um Bilder zu machen, besonders von Menschen, die ich mag. Manchmal auch von wildfremden Menschen auf der Straße, vom Meer und von Merkwürdigkeiten, die mir irgendwo sprichwörtlich ins Auge springen.
Es gefällt mir, die Momente festzuhalten, die ich gerade erlebe. Wenn ich Menschen fotografiere, versuche ich sie beim Reden oder eben während einer bestimmten Situation zu fotografieren, da mir diese Fotos, wenn sie gelungen sind, viel besser gefallen als die Fotos, die speziell für die Kamera inszeniert sind. Mir geht es um die Wahrhaftigkeit, die von der Kamera in diesem Augenblick festgehalten wird.
Vielleicht hört es sich altmodisch an, aber das gemeinsame Blättern in Fotoalben ist auch eine Geste der Zusammengehörigkeit und des Vertrauens. Wenn wir unsere Lebensstationen anhand von Fotos passieren, ist es wie eine gemeinsame Reise, die wir unternehmen und für die wir uns extra zusammengefunden haben.
Das Wort Fotografie, in älterer, schönerer Schreibweise Photographie, bezieht seine Bedeutung aus der Verbindung der altgriechischen Wörter Licht und zeichnen. Das ist in meinen Augen eine wunderschöne Wortschöpfung, mit Licht, gemeint ist das Himmelslicht, die Wirklichkeit zeichnen. Ein Abbild der Wirklichkeit herstellen. Eine graziöse Metapher auch für den Film, dem Mittelpunkt meines Berufslebens.
Auf dieser Reise durch die Fotografien und das Leben merke ich immer wieder, dass ich ein positiver und von Grund auf optimistisch gestimmter Mensch bin. Natürlich habe auch ich melancholische Momente, Momente der Unsicherheit oder Selbstkritik. Jeder Mensch erlebt solche Phasen in seinem Leben. Wäre das nicht so, gäbe es die Menschheit nicht mehr.