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Gottes Werk und Teufels Beitrag

John Irving

 

Verlag Diogenes, 2012

ISBN 9783257600209 , 848 Seiten

2. Auflage

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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13,99 EUR


 

[9] 1

Der Junge, der nach St. Cloud’s gehörte

Im Spital des Waisenhauses – in der Knabenabteilung von St. Cloud’s im Staate Maine – waren zwei Krankenschwestern damit betraut, den neugeborenen Babys Namen zu geben und nachzusehen, ob ihr kleiner Penis auch heilte. Zu jener Zeit (im Jahr 192–) wurden alle in St. Cloud’s geborenen Knaben beschnitten, weil der Arzt des Waisenhauses verschiedene Komplikationen gesehen hatte, die sich bei nichtbeschnittenen Soldaten ergaben, welche er im Ersten Weltkrieg medizinisch zu versorgen hatte. Der Arzt, der gleichzeitig Leiter der Knabenabteilung war, war kein religiöser Mensch; für ihn war die Beschneidung kein Ritus – sie war ein rein medizinischer Akt, vorgenommen aus hygienischen Gründen. Sein Name war Wilbur Larch, was eine der Schwestern, abgesehen von dem Ätherduft, der ihn stets umwehte, an das zähe, widerstandsfähige Holz jenes gleichnamigen Nadelbaumes erinnerte – der Lärche. Sie haßte den albernen Namen Wilbur und nahm Anstoß an der Albernheit, ein Wort wie Wilbur mit etwas so Wesentlichem wie einem Baum zu kombinieren.

Die andere Schwester wähnte sich in Dr. Larch verliebt, und wenn es an ihr war, einen Namen für ein Baby zu finden, nannte sie es oft John Larch oder John Wilbur (ihr Vater hieß John) oder Wilbur Walsh (ihre Mutter war eine geborene Walsh). Trotz ihrer Liebe zu Dr. Larch konnte sie sich unter Larch – Lärche – nichts anderes vorstellen als einen Nachnamen – und wenn sie an ihn dachte, dachte sie bestimmt nicht an Bäume. Den Namen Wilbur liebte sie wegen seiner vielseitigen Verwendbarkeit, als [10] Vor- und als Nachname, und wenn sie es leid war, den Namen John zu vergeben, oder wenn sie von ihrer Kollegin getadelt wurde, weil sie ihn überstrapazierte, verfiel sie selten auf etwas Originelleres als einen Robert Larch oder einen Jack Wilbur (sie schien nicht zu wissen, daß Jack ein häufiger Spitzname war für John).

Hätte er seinen Namen von dieser einfältigen, liebesblinden Schwester bekommen, wäre aus ihm wahrscheinlich ein Larch oder ein Wilbur der einen oder anderen Sorte geworden; und ein John oder Jack oder Robert, um alles noch einfältiger zu machen. Weil die andere Schwester an der Reihe war, bekam er den Namen Homer Wells.

Der Vater der anderen Schwester war Brunnenbauer von Beruf, eine harte, mühselige, ehrliche und präzise Arbeit – in ihren Augen bestand ihr Vater aus diesen Eigenschaften, was dem Wort »Wells« – Brunnen – eine gewisse Aura von Tiefe und Erdverbundenheit gab. »Homer« hatte eine der zahllosen Katzen ihrer Familie geheißen.

Diese andere Schwester – von fast allen Schwester Angela genannt – wiederholte selten die Namen ihrer Babys, wogegen die arme Schwester Edna gleich drei John Wilbur junior und zwei John Larchs III. ausgeteilt hatte. Schwester Angela kannte eine unerschöpfliche Zahl sachlicher Dingwörter, die sie eifrig als Nachnamen verwandte – wie Maple, Fields, Stone, Hill, Knot, Day, Waters (um nur einige aufzuzählen) – und eine kaum weniger eindrucksvolle Liste von Vornamen, entlehnt aus einer Familientradition vieler toter, aber in Ehren gehaltener Hauskatzen (Felix, Fuzzy, Smoky, Sam, Snowy, Joe, Curly, Ed und so fort).

Bei den meisten Waisen waren die Namen, die ihnen die Schwestern verliehen, nur eine Übergangslösung. Die Knabenabteilung schnitt besser ab als die Mädchenabteilung, wenn es darum ging, die Waisen noch als Babys in Familien unterzubringen, wenn sie sich die Namen noch nicht merken konnten, die die [11] guten Schwestern ihnen gegeben hatten; die meisten Waisen erinnerten sich später auch nicht an Schwester Angela oder Schwester Edna, die ersten Frauen auf dieser Welt, die sie bemuttert hatten. Dr. Larch hielt an dem Grundsatz fest, den Adoptiveltern der Waisen nicht die Namen mitzuteilen, die die Schwestern mit solchem Eifer verliehen. Man war in St. Cloud’s der Meinung, daß ein Kind, wenn es das Waisenhaus verließ, auch das Erregende eines neuen Anfangs erleben sollte – aber für Schwester Angela und Schwester Edna, und sogar für Dr. Larch, war es (vor allem bei solchen Jungen, die schwierig unterzubringen waren und länger in St. Cloud’s blieben) fast unvorstellbar, daß ihre John Wilburs und ihre John Larchs (ihre Felix Hills und Curly Maples und Joe Knots und Smoky Waters) nicht die von den Schwestern verliehenen Namen behielten.

Der Grund, weshalb Homer Wells seinen Namen behielt, war, daß er so viele Male, nach so vielen gescheiterten Pflegefamilien, nach St. Cloud’s zurückkehrte und daß das Waisenhaus sich mit Homers Absicht abfinden mußte, nach St. Cloud’s zu gehören – womit sich alle Beteiligten schwertaten. Doch Schwester Angela und Schwester Edna – und zuletzt auch Dr. Wilbur Larch – mußten schließlich einsehen, daß Homer Wells zu St. Cloud’s gehörte. Der entschlossene Junge wurde nicht mehr zur Adoption freigegeben.

Schwester Angela, mit ihrer Liebe zu Katzen und Waisen, bemerkte einmal über Homer Wells, der Junge müsse den Namen, den sie ihm gegeben habe, ja wirklich heiß lieben, wenn er so hart darum kämpfte, ihn nicht zu verlieren.

Der Ort St. Cloud’s in Maine war im neunzehnten Jahrhundert die längste Zeit ein Holzfällerlager gewesen. Das Lager und nach und nach auch der Ort nahmen ihren Betrieb im Flußtal auf, wo das Land flach war, was sowohl den Bau der ersten Straßen als auch den Transport der schweren Maschinen enorm erleichterte. [12] Das erste Bauwerk war eine Sägemühle. Die ersten Siedler waren Frankokanadier: Holzhacker, Waldarbeiter, Sägewerker. Dann kamen die Fuhrleute und die Flußschiffer, dann die Prostituierten, dann die Landstreicher und Gauner und (zuletzt) eine Kirche. Das erste Holzfällerlager hatte schlicht Clouds geheißen – weil das Tal so flach war und die Wolken sich nur widerwillig verzogen. Der Nebel hing bis zum späten Morgen über dem reißenden Fluß, und die tosenden Wasserfälle drei Meilen oberhalb des ersten Lagerplatzes erzeugten einen immerwährenden Dunst. Als die ersten Holzfäller dort an die Arbeit gingen, setzten sich nur die Moskitos und Kriebelmücken der Verwüstung des Waldes entgegen; die teuflischen Insekten zogen die permanente Wolkendecke in den stickigen Tälern des Hinterlandes von Maine der scharfen Bergluft oder dem frischen Sonnenlicht über dem blanken Meer vor Maine entschieden vor.

Dr. Wilbur Larch – der nicht nur Arzt des Waisenhauses und Leiter der Knabenabteilung war, sondern das Haus auch gegründet hatte – war der selbsternannte Historiker der Stadt. Dr. Larch zufolge wurde das Holzfällerlager namens Clouds nur deshalb zu St. Clouds, weil die hinterwäldlerischen Katholiken einen inbrünstigen Drang verspürten, allen möglichen Dingen ein Sankt voranzustellen – wie um diesen Dingen einen Liebreiz zu verleihen, der ihnen von Natur aus fehlte. Das Holzfällerlager blieb fast ein halbes Jahrhundert lang St. Clouds, bis der Apostroph eingeführt wurde – wahrscheinlich von jemandem, der vom Ursprung des Lagers nichts wußte. Doch um die Zeit, als es sich zu St. Cloud’s wandelte, mit Apostroph, war es eher Fabrikstadt denn Holzfällerlager. Der Wald war Meilen im Umkreis gerodet; statt Baumstämmen, die sich im Fluß verkeilten, statt des wüsten Lagers voll Männer, die verkrüppelt und gelähmt waren, weil sie von Bäumen oder Bäume auf sie herabgestürzt waren, sah man hohe, ordentliche Stapel frisch geschnittener Bretter in der diesigen Sonne trocknen. Über allem lag ein schmieriger Sägestaub, [13] manchmal zu fein, als daß man ihn überhaupt sah, aber allgegenwärtig im Schniefen und Keuchen der Stadt, in den ewig juckenden Nasen und rasselnden Lungen. Die Invaliden der Stadt protzten jetzt mit chirurgischen Nähten statt Blutergüssen und Knochenbrüchen; sie schmückten sich mit klaffenden Schnittwunden von den vielen Sägeblättern der Stadt (und fanden Mittel und Wege, mit ihren fehlenden Körperteilen zu prunken). Das schrille Wimmern der Sägeblätter hing über St. Cloud’s wie der Nebel, der Dunst, die Feuchtigkeit über dem Hinterland Maines, in der klammen Kälte seiner langen, nassen, verschneiten Winter und in der stinkenden, stickigen Schwüle seiner feuchten (zuweilen gar durch gewaltige Gewitter beglückten) Sommer.

Es gab nie einen Frühling in diesem Teil von Maine, abgesehen von jener Zeitspanne im März und April, die sich durch tauenden Matsch auszeichnete. Die schweren Maschinen des Holzgeschäfts standen still; die Arbeit der Stadt ruhte. Die unpassierbaren Straßen hielten jeden im Hause fest – und der Fluß war so frühlingshaft angeschwollen und so reißend, daß niemand ihn zu befahren wagte. Frühling in St. Cloud’s, das hieß Krawall: Saufkrawall, Raufkrawall, Hurerei und Vergewaltigung. Im Frühling war Selbstmordsaison. Im Frühling wurde die Saat für ein Waisenhaus gesät – überreichlich.

Und der Herbst? In seinem Tagebuch – seinem Miszellenjournal, seinem täglichen Protokoll der Angelegenheiten des Waisenhauses – schrieb Dr. Wilbur Larch auch über den Herbst. Jede von Dr. Larchs Eintragungen begann mit: »Hier in St. Cloud’s…« – abgesehen von jenen Eintragungen, die begannen: »In anderen Teilen der Welt…« Über den Herbst schrieb Dr. Larch: »In anderen Teilen der Welt ist der Herbst die Zeit der Ernte. Man sammelt die Früchte der Mühen von Frühling und Sommer. Diese Früchte nähren uns während des langen Schlummers, der Zeit stockenden Wachstums, die wir Winter nennen. Doch hier in St. Cloud’s dauert...