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WeserBlues

Eg Witt

 

Verlag Kellner-Verlag, 2012

ISBN 9783956510540 , 210 Seiten

Format PDF, ePUB, OL

Kopierschutz DRM

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7,49 EUR

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1.

Erster Rausch

Frühe Erinnerungen an seinen Vater Carl stammen bei Rolf aus einer Zeit, als er von ihm mit knapp fünf Jahren auf eine Fahrradtour mitgenommen wurde. Das konnte Ende der vierziger Jahre gewesen sein. Mit Sicherheit hatte diese holprige Fahrt im Sommer stattgefunden, denn die Bäume in der alten Grafschaft mussten zu dem Zeitpunkt noch üppigstes, grünes Laub getragen haben. Diese kleine Begebenheit hatte sich bei ihm auch als reifer Mann unzerstörbar erhalten. Sie wollte nicht hinabsinken in den Bodensatz der vielen anderen total vergessenen und schweigenden Kindheitserinnerungen und Bilder, die ein jeder Mensch mit sich herumträgt. Bekanntlich werden diese vergangen Realitäten immer blasser und können schließlich nicht mehr ins Bewusstsein vordringen und darin aufleuchten. Dieses Geschehnis aus Rolfs Kindheit schien bei ihm so nachhaltig eingespeichert zu sein, dass es ihm manchmal sogar höchst lebendig vors Auge trat.

Sein Vater wollte endlich einmal wieder seine Schwester Walburga sowie deren Familie besuchen und Rolf durfte mit. Sie wohnte in einer sechzehn Kilometer entfernt liegenden Bergstadt. Er benutzte für diese Tour sein stabiles Fahrrad, an welchem vorn am Lenker ein Kindersitz aus dunkelgrünem Blech mit einem dekorativen Lochmuster befestigt war. Als sie starteten, thronte Rolf auf diesem äußerst harten Hochsitz zwischen den Armen des Vaters und fühlte sich sichtlich wohl bei diesem für ihn ersten größeren Ausflug in die nähere Umgebung. Alle fuhren in dieser Zeit solche Strecken mit dem Fahrrad, ohne mit der Wimper zu zucken. Und dieses nur, um mit der Verwandtschaft sowie mit Bekannten und Freunden Kaffee oder Schnaps zu trinken. Am besten natürlich beides. Kaum jemand besaß damals ein Auto oder Motorrad. Ob überhaupt schon ein geregelter Bus- oder Kleinbahnverkehr eingerichtet war, entzog sich Rolfs Erinnerungsvermögen.

Er wohnte mit seinen Eltern und dem Großteil der Verwandtschaft väterlicherseits in der Kreisstadt an der Weser. Dort existierten immerhin einige weiterführende Schulen, viele kleine und größereHandwerksbetriebe, eine Kiesbaggerei, ein Krankenhaus mit hohem Efeugeranke und wie es damals für Kreisstädte üblich war, massenhaft Behörden. Im 18. Jahrhundert hielt sogar eine Universität die Tore geöffnet für allerlei begüterte Söhnchen. Manche Professoren der juristischen Fakultät hatten durch das für sie lukrative Ausstellen von Gutachten bei Hexenprozessen allerdings eine verwerfliche und traurige Berühmtheit erlangt. Dieser Ort lag in eine Talebene eingebettet, zwischen zwei langen Mittelgebirgsketten, direkt an der sehr schnell in Richtung Nordsee kurvenden Weser. Reste der ehemals sternförmigen Stadtmauern reichten an manchen Stellen immer noch dicht an ihre Ufer heran. Die Weser war hier seit Jahrhunderten wichtig. Eigentlich führte sie den hier Lebenden vor Augen, wie am besten mit Einengung zu verfahren war. Nämlich auf dem schnellsten Wege davonzupreschen in vielversprechendere, freiere Zusammenhänge mit Namen Nordsee. Enge schien jedoch überhaupt nicht das große Problem der Hiesigen zu sein, im Gegenteil, sie empfanden diese immer schon als besonders wärmend und tröstlich.

Der Fluss bewirkte letztlich auch die Teilung des Gemeinwesens in Nord- und Südstadt oder Neu- und Altstadt. Im Norden lag das einzige größere Industriewerk, eine moderne Glashütte, und bot ihren Arbeitern helle, großzügige Wohnungen und vor allem Hausgärten und sogar Stallungen. Ein Bahnanschluss ermöglichte der Glashütte den schnellen Versand ihrer höchst zerbrechlichen Ballons, Gläser und Flaschen. Letztere erreichten immerhin auch Zielorte in Brasilien und Argentinien. Die Altstadt mit ihren Ämtern, überheblichen Beamten, Angestellten und vielen Krämern bot fast nur ausufernde Spitzgiebeligkeit.

Zu der Tante ging es streckenweise steil bergan. Aber sowas machte damals niemandem etwas aus, obwohl Tourenräder keine Gangschaltung eingebaut hatten. Der Wohnort der Verwandten nannte sich Bergstadt und lag an dem Hang eines Ausläufers des Wesergebirges. Dahinter begann die Norddeutsche Tiefebene, die sich mit weitem Horizont bis zur Nordsee erstreckte, wie ein Flachgelände, welches als leerer Mehlsack unter einem meist grauen Himmel reglos ausgebreitet dalag. Nur der Himmel lieferte etwas Abwechslung fürs Auge, doch blieben diese Inszenierungen meist eine fantasielose Einheitskost in allen erdenklichen Grauabstufungen. Besonders die vom Nordatlantik kommenden, sehr tief segelnden Schlechtwetterwolken lasteten stark auf allen hier Lebenden über acht Monate im Jahr. Deshalb ließ sich das Leben nur durch einen gewissen Gleichmut ertragen.

Doch barg es die Gefahr, wegen so viel Dunkelheit und Nässe auf Dauer arg abzustumpfen.

Diese Schwerlast hatte im Laufe von hunderten Jahren bei den Bewohnern sogar einen Charaktertyp geschaffen, der keine allzu großen Höhenflüge ansetzen mochte und am besten immer schön auf dem Teppich blieb. Es konnte an den meisten nicht spurlos vorübergehen, wenn sie oft, bis zu vier Wochen am Stück, keinen einzigen klaren Sonnenstrahl sahen. Vergleichbar war das vielleicht mit einem Gefängnisaufenthalt, wenn dort Delinquenten, infolge der totalen Einschränkungen, langsam aber sicher total zermürbten.

Zur Weltberühmtheit brachte es der kleine Ort, in den sie radelten, durch seinen Sandstein. Er wurde dort auf den Höhenzügen gebrochen und auf der Weser verschifft. Sogar die Kölner Domtürme waren einst daraus erbaut worden. Dazu gab es auch einen gängigen Standardspruch in Rolfs Kindheit und Jugend, der im Zusammenhang mit diesem grauen und ockerfarbenen Fels immer wieder heruntergeleiert wurde: »Jawohl! Oho! Sogar das alte Bremer Rathaus ist aus diesem Stein und die Kathedrale in Baltimore, auch die Siegessäule in Berlin. Was denkt ihr denn. Oho!«

Der Mann von Vaters Schwester Walburga, also Rolfs Onkel Willi, nebenbei bemerkt auch sein Patenonkel, war mit Leib und Seele Maschinist von Beruf. Er betreute in der Bergstadt in einer ebenfalls großen Glashütte eine schon ziemlich automatisch funktionierende Flaschenblasmaschine. Die Tätigkeit an einem glühend heißen, irrsinnig stark nach Öl und Schmiere stinkenden, superlauten und seltsam in die Runde tanzenden und stampfenden Ungetüm von Maschine, verschaffte ihm in seiner großen Verwandtschaft allerdings nur wenig Respekt. Dort wimmelte es nämlich nur so von gestandenen Mundglasbläsern, die alle dank ihrer immensen Geschicklichkeit und starken Lungen im Handumdrehen dünnwandigste Glasballons hervorzaubern konnten. Von Maschinen hielten diese sehr selbstbewussten und überdurchschnittlich gut verdienenden Männer, als Gilde von Spezialisten, natürlich sehr wenig. Deshalb blieb Onkel Willi immer ein wenig Außenseiter und sogar Exot in dieser Familie. Damit kam er aber scheinbar ganz gut klar und ließ sich das Leben nicht verdrießen. Er fühlte sich im Gegenteil schon ganz auf der Seite des Fortschritts angekommen und belächelte bisweilen sogar den herausgekehrten Stolz sowie das etwas urwüchsige Naturell der Glasbläser. Scheinbar ahnte er schon früh, dass es mit der Ballonbläserei ohnehin eines Tages Schluss sein würde. Dann nämlich wäre er der große Gewinner und könnte bei den nicht wenigen Familienfeiern triumphieren und den großen Max markieren.

Jener alte Glasbläserclan, dem Rolfs Vater entstammte, besaß eine weit zurückreichende Familientradition. Sie wurzelte in dem Ort Lipperow, wahrscheinlich irgendwo im Hinterpommerschen, welches Kaschubien genannt wurde. Von dort stammten Rolfs Großeltern Grete und Ludwig, die später in Danzig wohnten und von dort im letzten Drittel des neunzehnten Jahrhunderts mutig von der Weichsel an die Weser, nach Niedersachsen, aufgebrochen waren. Dieses Paar mit immensem Pioniergeist ließ sich von einem hiesigen Glashüttenbesitzer mit, für damalige Verhältnisse sehr verheißungsvollen, sozialen Garantien aus der Heimat weglocken. Die hatten es in sich gehabt und die musste man dem Glasbläser auf alle Fälle schriftlich geben – darauf legte der Ludwig einst viel Wert. Nur sie hatten ihn und seine Frau letztlich veranlasst, ihr schönes Land aufzugeben und eines Tages tatsächlich mit Sack und Pack sowie Ludwigs schwerer Glasbläserpfeife an der Weser aufzukreuzen.

Das bisher Geschilderte befand sich damals, zu dem Zeitpunkt des Fahrradausflugs, natürlich noch völlig außerhalb der Wahrnehmung und Erlebniswelt von Rolf. Auch sollte erst auf der Rückfahrt das für ihn so großartige und einschneidende Erlebnis stattfinden, von dem noch ausführlich die Rede sein wird.

Schließlich kam Carl leicht außer Atem vor dem Haus seines Schwagers an. Er hatte während der letzten hundert Meter geschoben, weil es zuletzt einen steilen Brink zu bewältigen galt. Endlich schaffe er es und schob sein schweres Rad Marke »Meister«, mit Rolf an Bord, vor das Haus der Verwandten....