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Blumen für den Führer

Jürgen Seidel

 

Verlag cbj Kinder- & Jugendbücher, 2010

ISBN 9783641043988 , 432 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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7,99 EUR


 

Weltfriedensfest (S. 34-35)

Damit wir uns nicht missverstehen, Fräulein Knesebeck«, sagte Frau Misera und bot Waltraut einen der Besuchersessel an. »Ich habe Sie zu diesem Gespräch in mein Arbeitszimmer gebeten, nicht weil ich Sie maßregeln möchte. Als Leiterin dieses Hauses trage ich nicht nur die Verantwortung dafür, dass unsere Kinder Kleidung und gesundes Essen erhalten.

Ulmengrund hat, wie Sie wissen, eine pädagogische Tradition, für deren Fortführung ich unseren Geldgebern gegenüber ebenfalls verantwortlich bin. Eine Erziehung zur Selbstständigkeit ist ein großes Ziel, das in unsere Zeit passt und auf die Zukunft gerichtet ist.« Sie brach unerwartet ab, nachdem sie sich selbst gesetzt hatte und ihr ausladendes Kleid ordnen musste. Es hatte Plusterärmel und wirkte zu mädchenhaft für ihr Alter.

Sie ist bestimmt so alt wie meine Mutter, dachte Waltraut, während sie merkte, dass ihr die Hitze ins Gesicht stieg. Frau Misera hatte eine Art zu sprechen und zu blicken, die Waltraut jedes Mal das Gefühl gab, in einem Netz gefangen zu sein. Sie musste die Hände übereinander legen, damit man nicht die Unruhe sah. »Dieses Gespräch heute Morgen im Speisesaal«, fuhr die Leiterin fort. »Wie bereits gesagt, würde ich mich freuen, wenn Sie sehr behutsam wären mit den Mädchen.

Die Seelen dieser Kinder sind noch sehr weich und formbar. Ich weiß, dass ein Mädel wie Reni intellektuell ziemlich reif ist. Aber was ist mit den anderen, Monika Otten, Janka Nieß, das sind wirklich noch Kinder, Fräulein Knesebeck. Oder Hilde Fechner.« Sie sah Waltraut eindringlich an. Das Gesicht der Leiterin war kantig, fast männlich, und die weinerliche, hohe Stimmlage passte nicht dazu. »Sie wissen genauso gut wie ich, dass jedes dieser Mädel heimlich daran denkt, aus dem Heim zu verschwinden, um die Welt kennenzulernen.

Wir sind kein Gefängnis. Das einzige Mittel, sie hierzubehalten, ist unser erzieherisches Geschick.« Waltraut fand nicht die geringste Lücke, selbst etwas anzumerken. »Wir sind unter uns, Waltraut«, sagte die Misera etwas leiser. »Denken Sie etwa, mir gefällt es, wie sich die Welt seit ein paar Jahren verändert? Ich telefoniere wöchentlich mit dem Rheinland. Auch die Direktoren sind verstört und unsicher geworden. Natürlich sagen sie mir: Lassen Sie sich ja nicht einschüchtern, wir stehen hinter Ihnen, Ulmengrund muss Ulmengrund bleiben und so weiter. Aber kann man diesen Herren in die Seele blicken?

Wir sind eine private Einrichtung, noch, denn Sie wissen ebenso wie ich, dass die staatlichen Gesetze auch für uns Gültigkeit haben. Es gibt Sachzwänge und man hat natürlich längst ein Auge auf uns geworfen.« Waltraut nickte. Ihr Verhältnis zur Leiterin war bislang unauffällig gewesen. Die Misera hatte Anweisungen gegeben, wenig Kritik geübt, hatte eine zurückhaltende Freundlichkeit an den Tag gelegt und nicht die geringste Privatheit durchscheinen lassen.

Man arbeitete miteinander, lebte jedoch nebeneinander her. Waltraut redete öfter und länger mit den Kindern als mit ihren beiden Kolleginnen oder gar mit Frau Misera. Der Tagesablauf war festgelegt. Aufstehen um sechs Uhr, Morgengebet und Frühstück, während der Schulzeit Abmarsch mit dem Bus nach Fulda, nachmittags Hausaufgaben, Pflichten im Haus, freiwillige Landwirtschaftseinsätze in der näheren Umgebung, Abendessen um achtzehn Uhr dreißig, danach manchmal Musizieren oder Vorlesen, abschließend Zubettgehen und um einundzwanzig Uhr Nachtruhe. »Ich glaube«, sagte Waltraut, »Reni ist ein außergewöhnlich begabtes Kind.

Sie will Medizin studieren und hat umrissene Vorstellungen von diesem Beruf. Sie erfindet für die Mädel charmante Geschichten, in denen der Negerarzt Schweitzer eine Rolle spielt.« »Wer?« »Doktor Albert Schweitzer. Er hat vor dem Krieg im afrikanischen Urwald ein Krankenhaus gebaut.« Die Misera schüttelte erstaunt den Kopf. »Wenn ich mir vorstelle, Reni wäre nach dem Tod ihrer Tante in eines der üblichen Fürsorgeheime gekommen«, fügte Waltraut hinzu.