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Rungholts Ehre - Historischer Kriminalroman

Derek Meister

 

Verlag Blanvalet, 2010

ISBN 9783641040093 , 544 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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8,99 EUR


 

1


Der Schmerz verebbte. Er hörte nicht abrupt auf, er verging nur langsam. Sickernd. Wie das Wasser bei Ebbe kaum sichtbar weicht, so zog sich kaum merklich Rungholts Schmerz zurück.

Sammelt sich der Schmerz wie das Wasser? Verschwindet das grässliche Wasser mit den Gezeiten oder gibt es dort draußen im Meer einen Berg aus Wasser? Und sammelt sich der Schmerz ebenso, wenn er verebbt? Bildet er einen See aus Schmerz, in dem sich aller Schmerz vereint, um bei der nächsten Sturmflut nur machtvoller zurückzukehren? Rungholt versuchte, die Gedanken an den Schmerz abzuschütteln. Es gelang nicht.

»Rungholt?« Jemand rief nach ihm, doch Rungholt drehte sich nicht um. Verkniffen starrte er auf die Beplankung der Möwe. Zwanghaft konzentrierte er sich auf die mit Hanf und Moos kalfaterten Planken der Kogge. Alles im Bemühen, sich nicht mehr auf den Schmerz zu konzentrieren, der in seinem Kiefer pochte. Er verfolgte das sanfte Auf und Ab des Schiffes, konzentrierte sich auf die sich überlappenden Bretter, zählte, verglich und folgte sinnlos den Maserungen und Klinkernähten. Denke an etwas anderes, ermahnte er sich. Irgendetwas. Er presste die Augenlider zusammen, holte Luft. Ein Stoßgebet.

Für ihn als ungeduldigen Menschen ließ das Schlagen in seinem Backenzahn viel zu langsam nach, nahm der Alltag um ihn herum viel zu schleppend wieder Gestalt an. Irgendwo hinter ihm kläfften Wulfframs Hunde. Der Böttcher hatte vier Bullenbeißer und musste die Viecher immer mit hinunter zum Hafen nehmen, wo sie dann angesichts des geschäftigen Treibens ihr Theater vollführten. Rungholt konnte das abgehackte Bellen der Hunde nicht ertragen. Doch jetzt war er froh, es wieder wahrzunehmen.

Langsam kehrten auch die anderen Geräusche zurück, die Farben und das Leben ringsum. Rungholt hörte einen Trupp Arbeiter, die sangen. Das Getrappel der Pferde auf den Holzbohlen. Das Rollen von Fässern über Planken. Und von irgendwo, leiser und entfernt, das Hammerschlagen und Sägen der Zimmerleute. Ihr Krach wurde von der Werft die Trave hinauf geworfen und hallte von den Backsteinhäusern wider. Der Funkenregen in Rungholts Schädel verblasste mit jedem Herzschlag. Das Klopfen und Zerren, das sich den Kiefer hinab bis in den Hals fortsetzte – auch dieses verebbte.

Endlich ließ sein Schmerz nach.

»Rungholt? Ist dir schlecht? Wieder das Wasser, hm? Rungholt?« Marek Bølge, der Kapitän der Möwe hatte seine drei Belader stehen gelassen und war besorgt an den Kai getreten. Er sah Rungholts fässerne Statur von der Seite an und kratzte sich seine zerschundenen Oberarme. Sie waren von den Tauen und von Schlägereien vernarbt. Als Rungholt stumm abwinkte, fuhr Marek fort. »Wir haben jetzt fünfzehn Fässer. Was ist mit denen hinter dem Kran? Soll ich die Männer anweisen, sie zu laden? Hm? Im Frachtraum ist noch Platz.«

Rungholt antwortet nicht.

»Dein Drittel ist erst halb voll… Rungholt?«

Rungholt nickte stumm, er merkte, dass er immer noch auf die Kogge starrte und tat einen Schritt vom Kai zurück. Er hätte an diesem diesigen Morgen nicht selbst in den Hafen kommen und die Beladung seiner Kogge überwachen sollen, schoss es ihm durch den Kopf.

Eigentlich vertraute er Marek. Schon seit ein paar Jahren machte er Geschäfte mit dem jungen Mann aus dem Skåneland. Marek Bølge kam aus Bornholm. Und damit war er Däne. Deswegen verschwieg Marek auch lieber seine Herkunft in den Wirtshäusern. Hier in Lübeck wollte niemand mit den verhassten Dänen etwas zu tun haben. Rungholt jedoch mochte den fröhlichen, jüngeren Mann, der selbst nur ein paar Brocken Dänisch sprach und seine Insel schon seit seiner Kindheit nicht besucht hatte. Darin waren sie sich gleich: Sie beide hatten den Ort ihrer Kindheit seit Jahrzehnten nicht gesehen. Marek, weil er nicht wollte; Rungholt, weil er nicht konnte.

Rungholt hatte sich nie über seinen Kapitän beklagen müssen. Auch wenn Marek mit seinen buschigen Augenbrauen, seiner wettergegerbten Haut, den kräftigen Armen und seinen Narben äußerst verschlagen wirkte, so war er ein anständiger Kerl. Und er verstand es, jeden noch so winzig kleinen Winkel im Frachtraum der Kogge stets zu Rungholts Zufriedenheit auszunutzen. Marek war der ordentlichste Mensch, den Rungholt je kennen gelernt hatte.

Ich hätte bei meinem Weib bleiben sollen, überlegte er. Alles ist besser, als an diesem frühen Morgen am Hafen zu warten. Ich hätte mit Alheyd die Vorbereitungen zu Mirkes Toslach durchsprechen, vielleicht die Wirtschaftsbücher durchgehen und das Wintergeschäft mit Novgorod kalkulieren sollen. Warum bin ich nur immer so argwöhnisch?

Ich stehe Marek nur im Wege, dachte Rungholt. Er lädt ohne mich das Salz und den Wein viel schneller. Nur der Herrgott und ich wissen, dass es der Argwohn ist, der mich so früh ans Wasser getrieben hat. Was ich nicht selbst sehe, macht mich misstrauisch. Die Ungewissheit lässt mich umherlaufen, wie einen kopflosen Vitalienbruder. Nur dass diese Piraten das Wasser lieben, während es mir Angst einflößt.

Der Gedanke ließ ihn unbewusst zwischen Kogge und Kai hinab sehen, im selben Moment hasste er sich für den Blick aufs schaurige Wasser: Es lag trügerisch da, beinahe schwarz vom Kai aus. Ein kalter, dunkler Strom, der alles mit sich hinaus ins Nichts zog. Rungholt wandte sich ab. Der Anblick von Wasser machte ihn frösteln. Angst kroch ihm dann seinen Rücken hinauf, und packte seinen Hals. Es war schon genug, dass sein Misstrauen ihn mit seinem eitrigen Backenzahn bestrafte. Verflixte Sache.

»Die Fässer, Rungholt«, wiederholte Marek geduldig.

Rungholt mahlte probehalber mit dem Kiefer, bevor er schluckend antwortet. »Ladet sie alle. Auch die von hinten. Die Russen sind ganz versessen auf das Lüneburger Salz. Sie wollen diesen Winter den Schonen und ihren Heringen ein Schnippchen schlagen.«

Ein Bündel Fässer wurde hoch zur Kogge gehievt, bestimmt zwei Lasten. Eine ganze Tonne Salz, die über das breite Deck des Einmasters schwang. An der Reling nahmen die Belader das Netz mit den Fässern entgegen. Sie brüllten sich Kommandos zu und schafften es, die Fässer sanft unter Deck zu wuchten. Ein Drittel des Schiffs war für Rungholt bestimmt, den restlichen Laderaum teilten sich drei weitere Händler und Kapitän Marek.

Es hatte sich als nützlich erwiesen, so gut wie alles in Fässern zu transportieren. Selbst Bücher wurden in die Tonnen gepackt, die sie vor dem Wasser einigermaßen schützten. Rungholts Salzladung war für Novgorod bestimmt. Zwar unterhielt er auch mit Brügge Geschäfte und schickte ab und an eine Kogge ins Kontor in den Norden nach Bergen, doch mit dem Geschäft gen Osten war er groß geworden. Und so waren Novgorod, Riga und Danzig seine Haupthandelsrouten.

»Du solltest zum Bader gehen mit dem Zahn, sag ich dir«, meinte Marek. Rungholt wurde aus seinen Gedanken gerissen.

»Jetzt fang du mir auch noch damit an, Marek! Ist es nicht genug, dass meine Weiber zu Haus sich über mich das Maul zerreißen? Die reden auch schon ständig auf mich ein.« Rungholt befühlte vorsichtig mit der Zunge den eitrigen Zahn. Ein Stück war wohl abgebrochen, und der Stumpf drohte, in seine Zunge zu schneiden. Doch das Schlimmste war der Eiter und die Schwellung des entzündeten Zahnfleischs. Kaum mit der Zunge an den Zahn gestoßen, durchzuckte ein neuerlicher Schmerz seinen Schädel. Sein Körper verkrampfte sich. Ein weiteres Stoßgebet an die Heilige Medard!

Rungholt fluchte. Er hielt sich die Wange und wandte sich seinem Kapitän zu.

Marek sah Rungholt mitleidig an: »Das ist ja nicht mit anzusehen. Hol dir einen Medicus ins Haus. Das Geld wäre gut angelegt.«

»Einen Arzt?« Rungholt spie das Wort förmlich aus. »Willst du mich umbringen?«

»Des Öfteren! Schon. Ja.«

Rungholt überhörte den Kommentar geflissentlich. »Ha! Diese Pfuscher haben doch nur ihr Salär im Sinn. ›Gut angelegt?«, knurrte er. »Das wird schon werden. Der fällt raus.«

Marek musste lachen. »Seit wann bist du Optimist, hm?«

Feixend wandte er sich wieder dem Netz mit den Fässern zu, griff mit einem Haken hinein und bugsierte es zu den Beladern der Kogge. Auch Rungholt musste grinsen, soweit es der Zahn zuließ. Doch er wusste, dass seine Weigerung ernst gemeint war. Er hatte schlicht Angst vor einem Arzt, einem Medicus – diesen Kurpfuschern. Er hatte genug Geld, um sich einen guten Leibarzt zu leisten, doch der Glaube, dass es der Arzt selbst war, der den Tod erst mitbrachte, ließ ihn um diese Zunft einen weiten Bogen schlagen.

Zufrieden, dass jedenfalls die Beladung voranschritt, wandte sich Rungholt von der Kogge ab. Er sah am sperrigen Schwungrad vorbei, in dem sich zwei Arbeiter abmühten und den Kran bewegten. Schweißüberströmt stemmten sie sich gegen die Rundung des Laufrades, wurden Teil der schweren Holzkonstruktion und trieben so den klobigen Ausleger erneut vom Pier zur Möwe...