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Für alle Fragen offen - Antworten zur Weltliteratur

Marcel Reich-Ranicki

 

Verlag Deutsche Verlags-Anstalt, 2010

ISBN 9783641045845 , 224 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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9,99 EUR


 

Was halten Sie von Gustave Flaubert und Madame Bovary?
Gustave Flaubert war beides - ein Poet und ein Protokollant, ein Romantiker und ein Realist, ein Visionär und ein Berichterstatter, stets leidenschaftlich und pedantisch zugleich. Er war Frankreichs sachlichster Dichter und zärtlichster Chronist, wahrscheinlich der neben den Russen Tolstoi und Dostojewski größte Prosaschriftsteller des neunzehnten Jahrhunderts. Sein Hauptwerk, der Roman Madame Bovary, hat längst die Grenzen gesprengt: Er wurde in alle Sprachen der zivilisierten Welt übersetzt, man hat ihn mehrfach verfilmt und auch vertont und für die Bühne bearbeitet. Und natürlich wurde er zahllose Male kommentiert.
Woran geht eigentlich Emma Bovary, deren Geschichte Flaubert erzählt, zugrunde? An der unglücklichen Ehe mit einem biederen und langweiligen Landarzt? An ihrer bornierten, kleinbürgerlichen Umgebung? An der Monotonie des Alltags in einem französischen Provinznest? An dem Konflikt zwischen Traum und Leben, zwischen Phantasie und Realität, also an der Scheinwelt, in der sie Zuflucht
sucht? Sind es die überspannten Wünsche und die romantischen Vorstellungen, die ihr zum Verhängnis werden? Oder scheitert sie an der Liebe, genauer: an der Sehnsucht nach Liebe?
So viele Fragen es auch sind, die der Roman aufwirft - die Zahl der Antworten ist ungleich größer. Denn jeder Leser versteht diese Geschichte auf seine Weise. Millionen haben sich in ihr wiedergefunden - vielleicht deshalb, weil wir hier von einem Menschen hören, dem kein Preis zu hoch war, um zu leben, statt zu vegetieren.
Es gibt nicht viele Romane, von denen man sagen kann: Wer sie nicht gelesen hat, sollte wissen, dass er keine Ahnung hat, was die Weltliteratur leisten kann. Madame Bovary ist ein solcher Roman.
Welche Stellung nimmt Ihrer Meinung nach Vladimir Nabokov in der Literatur ein, und welches ist sein bedeutendster Roman?
Ich bewundere, ich liebe den Russen Vladimir Nabokov, der 1899 in Sankt Petersburg geboren wurde, in England studierte, dann einige Jahre in Berlin lebte, sich 1940 in den Vereinigten Staaten niederließ und die letzten Jahre seines Lebens in Montreux verbrachte, wo er 1977 verstarb.
Er schrieb zunächst in russischer, dann in englischer Sprache. Keiner Schule, keiner Richtung und keiner Gruppe zugehörig, war und ist er einer der größten amerikanischen Schriftsteller seiner Epoche und einer der originellsten Außenseiter der Weltliteratur.
Seine Figuren charakterisiert Nabokov zurückhaltend und dennoch deutlich. Er ist zu diskret, um die leidenden Menschen, die er auftreten lässt, in ein rücksichtslos helles Licht zu tauchen: Er gönnt ihnen das barmherzige Halbdunkel.
In Maschenka, seinem ersten Roman aus dem Jahre 1926, erinnert sich ein reifer Mann an eine weit zurückliegende Liebesgeschichte, als er und seine Freundin so jung waren wie Romeo und Julia, also Halbwüchsige. Sie suchen sich gegenseitig, und sie meiden sich gegenseitig. Sie gehen spazieren, sie unterhalten sich über dies und jenes. Er streichelt sie, er küsst sie, er knöpft ihr die Bluse auf. Sie führen stundenlange Telefongespräche.
Dann liegen sie irgendwo in einem Petersburger Park auf dem Boden, und sie sagt ihm einen Satz, den sie wohl in einem Roman gelesen hat: »Ich bin dein, tu mit mir, was du willst.« Jetzt, da endlich der ersehnte Augenblick gekommen ist, da versagt er, da muss er sie enttäuschen. Eine sehr banale Geschichte, und doch: eine herrliche Geschichte.
Manche unserer Erzähler meinen, es komme, wenn man eine erotische Beziehung zeigen möchte, vor allem darauf an zu schildern, wie sich zwei Menschen miteinander beschäftigen - im Bett oder vielleicht unter den Linden auf der Heide. Aber ungleich schwerer und vielleicht auch ergiebiger ist es, die erotische Spannung zwischen zwei Individuen erkennbar zu machen, die sich, beispielsweise, am Kaffeehaustisch gegenübersitzen oder in der Straßenbahn.
Nabokov ist einer der größten Erotiker des zwanzigsten Jahrhunderts nicht etwa deshalb, weil er sexuelle Vorgänge glänzend beschreiben kann, sondern weil er uns alle Schattierungen und Grade der Zuneigung eines Menschen zu einem anderen sehen und spüren lässt und natürlich auch alle des sexuellen Interesses an einer anderen Person.
Auf der Diskussion über Lolita lastete ziemlich lange die Frage, ob das Buch pornographisch oder etwa hochmoralisch sei. Das scheint uns heute absurd: Es gibt hier keinen einzigen Satz, der den Roman auch nur in die Nähe der Pornographie rücken würde. Mit dieser Diskussion in den sechziger Jahren hängt es wohl auch zusammen, dass man sich häufig bemüht hat, Lolita in der Tradition der klassischen erotischen Literatur zu sehen. Tatsächlich steht im Mittelpunkt des Romans das uralte Motiv der heimlichen Liebesbeziehung: Sie muss geheim gehalten werden, weil sie mit den herrschenden sittlichen Auffassungen und Prinzipien nicht in Einklang zu bringen ist, ja, ihnen auf provozierende Weise widerspricht. Also: Leander und die Priesterin Hero, Tristan und Isolde, Anna Karenina und Wronski. Und hier: Humbert Humbert und Lolita.
Die Konstellation ist einfach: Ein reifer Mann verfällt einem zwölfjährigen Mädchen und heiratet, um diesem Mädchen stets nahe zu sein, dessen Mutter. Immer wieder versucht dieser Mann zu beschreiben, was ihn an dem kleinen Dämon mit der Grazie eines Kobolds fasziniert und entwaffnet: Es ist die sinnliche, rein körperliche Attraktivität Lolitas. Sie versetzt ihn in einen Zustand der Erregung, der an Wahnsinn grenzt.
Das zentrale Thema des Romans ist die sexuelle Hörigkeit, demonstriert an einem pathologisch-exzentrischen Beispiel. Aber er vergreift sich an dem Mädchen nicht: Nicht er verführt Lolita, sondern sie verführt ihn. Nicht sie ist ihm ausgeliefert, sondern er ihr. Das Mädchen ahnt nicht einmal, was das Wort »Liebe« bedeutet.
Wo aber nur eine Person liebt, lässt sich schwerlich von einer Liebesgeschichte reden. Nein, nicht eine Liebesgeschichte wird hier erzählt, wohl aber die Geschichte einer Liebe. So leuchtet es denn ein, dass am Ende sie ihn verlässt und nicht umgekehrt. Daher kann Lolita nicht als eine moderne Version des klassischen erotischen Romans verstanden werden, das Buch ist vielmehr dessen virtuose Parodie.
Die schriftstellerische Kunst, der diese Liebe höchste Anschaulichkeit verdankt, bezieht ihre Überredungskraft vor allem aus der Wahrnehmung und Beschreibung von Details. Gab es nach Marcel Proust einen Erzähler, der den Requisiten des Alltags, der den Nuancen und Winzigkeiten jeglicher Art so viel Leben und Expressivität abgewonnen hätte? Die Feder Nabokovs wird scheinbar mühelos dem Sinnlichen ebenso gerecht wie der Emotionalität, der Wollust ebenso wie der Zärtlichkeit. Ihm gelingt, worum sich die Epiker seit Homer bemühen - das Unglaubhafte zu beglaubigen.
War Heinrich von Kleist ein politischer Schriftsteller?
Heinrich von Kleist? Unser Kleist? Das preußische Genie? Ein zeitkritischer, ein politischer Schriftsteller war Kleist beinahe von Anfang an. Er sprach immer von seinem Vaterland und seinen Zeitgenossen und, natürlich, von sich selbst.
Spielt der Zerbrochene Krug in einem niederländischen oder eher in einem brandenburgischen Dorf? Geht es im Michael Kohlhaas um Verhältnisse im sechzehnten oder im beginnenden neunzehnten Jahrhundert?
Dass die Herrmannsschlacht auf die aktuelle politische Situation bezogen werden müsse, hat Kleist selbst mit Nachdruck gesagt. Und ich kann den Verdacht nicht loswerden, dass die Amazonen in der Penthesilea preußischer Herkunft sind.
Ich weiß schon: Derartiges gilt für andere Poeten ebenfalls. Nicht in einem italienischen, sondern in einem deutschen Kleinstaat nimmt das Schicksal der Emilia Galotti seinen Lauf. Wo liegt das Lustschloss, in dem sich die Helden des Torquato Tasso amüsieren - in der Nähe von Ferrara oder von Weimar? Dennoch:
Keiner der großen deutschen Dichter war an der politischen Lenkung seiner Landsleute so brennend interessiert wie Kleist, keiner ging so weit wie der Mann, der immer und überall gescheitert war - in der Armee und im zivilen Leben, in der Liebe und in der Literatur.
Ein Außenseiter, ein Ausgestoßener, ein Paria war es, der sich und seine Gefährtin am Kleinen Wannsee erschossen hat - nicht ein Liebender. Man hat gesagt, Kleist und Henriette gingen nicht in den Tod, weil sie sich liebten, vielmehr liebten sie sich, weil sie zusammen sterben wollten. Das ist schön ausgedrückt, nur nicht ganz richtig, weil dieses Bonmot die Beziehung der beiden auf dem Umweg über ihre Todeswilligkeit letztlich doch erotisch verbrämt.
Als die Marquise von O. und der Rosshändler Michael Kohlhaas ihre Welt und Kleists Publikum auf ungeheuerliche Weise provozierten, als Jupiter, der Allmächtige, Alkmene verhörte und ihr gestehen musste, dass ohne Liebe auch der Olymp öde ist, als Friedrich Wetter, Graf vom Strahl, unter einem Holunderbusch das schlafende Käthchen umarmte - da bildeten der Sinn und die Sprache eine Einheit, so makellos und vollkommen
wie in jener Zeit nur noch bei Goethe, bei Hölderlin.
Jedoch: Wer damals beim preußischen Hof ein Drama einreichte, dessen Held, ein preußischer Prinz und General, zusammenbricht, bei zwei Frauen um Gnade bettelt, nichts anderes als leben will und noch lauthals verkündet, er frage nicht, ob dies rühmlich sei - wer allen Ernstes glauben konnte, er werde sich nun der Gunst dieses Hofes erfreuen, dem war in Preußen nicht zu helfen.
Heinrich von Kleist war ein Genie und ein Narr zugleich - und vielleicht hätte er das eine nicht ohne das andere sein können.
Es ist bekannt, dass Sie eine Vorliebe für die Dramen von Shakespeare haben. Welche dieser Dramen würden Sie den Lesern besonders ans Herz legen?
Die Tragödie des Intellektuellen (Hamlet). Die schönste Liebestragödie der Weltliteratur (Romeo und Julia). Das interessanteste politische Drama (Julius Cäsar). Das Lustspiel Was ihr wollt, das ich mehr liebe als den Sommernachtstraum. Und warum? Wer sich die Mühe machen wird, diese Stücke zu lesen, dem wird an der Beantwortung dieser Frage wohl kaum gelegen sein.
John Updike wurde ja immer wieder als möglicher Nobelpreisträger genannt. Was begeistert an ihm vor allem?
Von John Updikes umfangreichem erzählenden Werk liebe ich vor allem die Geschichten. Sie lassen sich gut lesen und schwer beschreiben. Seine Diktion ist von preziösen Wendungen und erlesenen, allzu erlesenen Metaphern nicht ganz frei. Zugleich jedoch finden sich in seiner Prosa Abschnitte von betonter Schlichtheit und fast schon kokettes Understatement. Updike liebt sprachliche Askese nicht weniger als stilistischen Prunk. Ihm ist viel daran gelegen, die reale Umwelt seiner Personen anschaulich werden zu lassen. Aber manche Geschichten kommen fast ohne Milieuschilderung aus und büßen dennoch nichts an Qualität ein.
Überdies verbindet Updike die unterschiedlichsten Elemente der Prosa miteinander: Visionen und Reflexionen, Reportagen und dramatische Szenen, Anekdotisches und Philosophisches, kühle Berichte und hochgestimmte Monologe. Bieten also seine Geschichten ein disparates Bild? Es ist gerade umgekehrt: Nichts charakterisiert sie mehr als ihre erstaunliche Einheitlichkeit. Nur ist sie jenseits des Handwerklichen, jenseits des Formalen und des Stilistischen zu suchen.
Auf die Frage, wen er im Don Quijote porträtieren wollte, soll der sterbende Miguel de Cervantes geantwortet haben: »Mich.« Gustave Flaubert verblüffte die Welt mit dem vielzitierten Bekenntnis: »Emma Bovary - das bin ich.« Updike hat, wenn ich mich nicht irre, keine autobiographischen Schriften veröffentlicht. Gleichwohl sind seine wichtigeren Arbeiten auf direkte und gleichwohl diskrete Weise eben autobiographisch.
Doch wäre es zumindest fahrlässig, irgendeine seiner Figuren mit dem Autor Updike zu verwechseln. Aber sie sind alle Projektionen und Möglichkeiten desselben Ichs, Variationen über dasselbe Thema. Wir haben es mit Bruchstücken eines großen Selbstporträts zu tun.
Was sich in diesen Geschichten abspielt, ist keineswegs sonderlich aufregend und meist vollkommen banal. So alltäglich die Schauplätze der Geschichten (Hörsäle, Studentenbuden, bürgerliche Wohnzimmer, Restaurants) und die skizzierten Situationen und so belanglos die meisten Vorfälle sind, so ernst nimmt sie
Updike. Er behandelt die Geschehnisse nicht als bloße Vorwände für die epische Darstellung: Er erzählt sie um ihrer selbst willen und nicht als Symptome.
Nur sind sie eben doch, ob er will oder nicht, zugleich auch Symptome. Denn was er erzählt, weist über sich selbst hinaus. Es signalisiert unentwegt und trotzdem unaufdringlich etwas sehr Allgemeines. Updike berichtet von gewöhnlichen Ereignissen und kreist dabei immer um ein einziges, das in seiner Sicht gar nicht mehr gewöhnlich, vielmehr ungeheuerlich und unfassbar ist. Es lässt sich noch am ehesten mit einer tautologisch anmutenden Formel beschreiben - um das Erlebnis des Lebens.
Weil er auch und gerade im Beiläufigen und Nebensächlichen stets Manifestationen des Daseins erkennt und ihm alles wie von selbst zum Zeichen gerät, bildet den Kern seiner Geschichten das Motiv der Vergänglichkeit. Damit mag es auch zusammenhängen, dass dieser Erzähler mit besonderer Vorliebe jene beobachtet, deren Existenz ihn offenbar am meisten beglückt und am meisten beunruhigt: kleine Kinder und sehr alte Menschen.
Und weil ihn das Leben fasziniert, ist in seinen Geschichten der Tod, auch wenn er diese Vokabel nur zögernd verwendet, stets gegenwärtig. Zweierlei kann Updikes Held nicht verstehen: dass er wird sterben müssen und dass es unzählige Menschen gibt, die leben können, ohne an den Tod zu denken.
Von einer Falle, aus der es keinen Ausweg gibt, ist in Updikes Roman Hasenherz die Rede. Das Elternhaus, die Universität, der Arbeitsplatz, die Liebe, die Ehe, eine Wohnung, ein Hotel, eine zufällige Bekanntschaft - alles kann sich in diesen Prosastücken als Falle erweisen.
Das Individuum fühlt sich umstellt und bedroht, es sieht sich Mächten ausgeliefert, die es letztlich nicht begreifen kann. Das Leben ist schön. Aber es hat keinen Sinn. Wie alle guten Erzähler kurzer Geschichten geht also Updike aufs Ganze.