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Welten - Roman

Iain Banks

 

Verlag Heyne, 2010

ISBN 9783641047061 , 560 Seiten

Format ePUB, OL

Kopierschutz Wasserzeichen

Geräte

11,99 EUR


 

PROLOG
Anscheinend bin ich das, was man einen unzuverlässigen Erzähler nennt, aber wer alles für bare Münze nimmt, was ihm vorgeschwatzt wird, hat es sowieso nicht anders verdient. Es ist wirklich erstaunlich, das kannst du mir glauben, und vollkommen beispiellos, dass du diese Worte überhaupt liest. Hast du schon mal einen Seismografen gesehen? Du weißt schon, so ein furchtbar zartes und empfindliches Gerät mit einem spinnenhaft langen Stift, der eine Linie auf eine bewegliche Papierrolle kritzelt, um Erderschütterungen aufzuzeichnen.
Stell dir so einen Apparat vor, der gerade eine ruhige Kugel schiebt und nichts Besonderes dokumentiert, der einfach mit einer gleichmäßigen schwarzen Linie nur Stille und Reglosigkeit zu deinen Füßen und überall sonst auf der Welt registriert, doch plötzlich rattert er los, in gestochen scharfer Schrift, und das Papier darunter zuckt hin und her, um den fließenden kalligrafischen Wirbel zu erfassen. (Vielleicht schreibt er: »Anscheinend bin ich das, was man einen unzuverlässigen Erzähler nennt …«)
Ungefähr so unwahrscheinlich ist es, dass ich das hier schreibe und irgendjemand es liest.
 
Zeit, Ort. Notwendig wohl, wenn auch unzureichend unter den Umständen. Aber irgendwo und irgendwann müssen wir eben einsteigen, also fange ich mit Mrs. Mulverhill an und halte fest, dass ich ihr, nach deiner Zählung, zum ersten Mal kurz vor Anbruch jenes goldenen Zeitalters begegnet bin, das damals niemand als solches empfand; ich spreche von dem langen Jahrzehnt zwischen dem Fall der Mauer und dem Fall der Türme.
Wenn du es pedantisch genau nehmen willst, dauerte dieses im Rückblick so glückselige Dutzend Jahre von der kalten, fieberhaften Nacht des 9. November 1989 in Mitteleuropa bis zu dem klaren Morgen des 11. September 2001 an der Ostküste Amerikas. Das erste Ereignis stand symbolhaft für die Aufhebung der Bedrohung durch einen atomaren Holocaust, die fast vierzig Jahre lang als Damoklesschwert über der Menschheit geschwebt hatte, und beendete damit eine Zeit der Idiotie. Das zweite Ereignis läutete eine neue ein.
Der Fall der Mauer war nicht besonders spektakulär. Es war Nacht, und im Fernsehen sah man nur einen Pulk Berliner in Lederjacken, die sich auf Stahlbeton stürzten – zumeist mit Hämmern und ziemlich ineffektiv. Es gab keine Todesopfer. Viele Leute waren blau und high – und vermutlich landeten nicht wenige miteinander im Bett. Die Mauer selbst war kein imposantes Bauwerk, weder recht hoch noch übermäßig abschreckend; das eigentliche Hindernis war immer schon die nackte, sandige Todeszone dahinter mit Minen, Hundezwingern und Natodraht gewesen.
Die vertikale Barriere hatte als Abgrenzung von jeher eher Symbolcharakter besessen. Daher war es unerheblich, dass ihr die dort oben hockenden fröhlichen Vandalen in Ermangelung schweren Geräts nicht viel anhaben konnten; was zählte, war, dass sie überall auf diesem berüchtigten Symbol der Entzweiung herumturnten, ohne von Maschinengewehren niedergemäht zu werden. Aber als Ausdruck einer Aufbruchsstimmung und der Hoffnung auf einen Wandel zum Besseren konnte man wahrscheinlich nicht mehr verlangen. Der Al-Kaida-Angriff auf die USA – da unter Berufung auf diesen Anschlag ein Land besetzt wurde, und noch dazu im Namen der Demokratie, sollten wir die Sache auch bei ihrem nationalistischen Namen nennen: der saudi-arabische Angriff auf die USA hätte keinen größeren Kontrast dazu abgeben können.
Zwischen diesen weitreichenden Einebnungen spannten sich die Jahre wie eine Hängematte, die die Zivilisation in einen glückseligen Schlummer der Unwissenheit wiegte.
Irgendwann in der Mitte dieser friedlichen Mulde kamen Mrs. M und ich einander abhanden. Ein letztes Mal trafen und trennten wir uns wieder kurz vor dem dritten Fall, dem Fall der Wall Street und der City, dem Fall der Banken und der Märkte, der am 15. September 2008 einsetzte.
Wohl die meisten Menschen begreifen solche Ereignisse als Lesezeichen im Buch ihres Lebens.
Dennoch scheint mir, dass solche Überschneidungen zwar durchaus nützlich sind, wenn es darum geht, eine persönliche Ära in unserer gemeinsamen Geschichte zu verankern, aber ansonsten keine Bedeutung haben. Während ich nach meinem eigenen kleinen Fall die ganze Zeit hier gelegen habe, bin ich zu der Auffassung gelangt, dass die Dinge ziemlich genau die Bedeutung haben, die wir ihnen zuschreiben. Wenn es uns in den Kram passt, entnehmen wir dem banalsten Zufall Sinn, zugleich jedoch ignorieren wir zufrieden selbst die auffälligste Symmetrie zwischen getrennten Aspekten unseres Lebens, falls sie ein vertrautes Vorurteil oder eine tröstlich bestärkende Überzeugung bedrohen. Gerade dort, wo die erhellendsten Einsichten warten, sind wir am blindesten. Das hat Mrs. Mulverhill gesagt, glaube ich. Möglicherweise war es auch Madame d’Ortolan – ich verwechsle die beiden manchmal.
Da ich nun ohnehin schon etwas vorgegriffen habe, wollen wir diese Wirkung gleich vollends auskosten, statt ihr einen Riegel vorzuschieben.
Denn bestimmt möchtest du schon jetzt am Anfang wissen, wie es mit meiner Rolle in dieser Geschichte ausgeht.
Dann will ich es dir erzählen.
 
Es endet folgendermaßen: Er kommt in mein Zimmer. Schwarz gekleidet und mit Handschuhen. Hier drinnen ist es dunkel, nur ein Nachtlicht brennt, aber er kann mich auf dem Krankenhausbett erkennen, leicht aufgestützt und durch ein oder zwei Schläuche und Kabel mit medizinischen Apparaten verbunden. Diesen schenkt er keine Beachtung. Der Pfleger, der jeden Alarm registrieren müsste, liegt gefesselt und geknebelt auf seiner Station, der Monitor vor ihm ist abgeschaltet. Der Mann schließt die Tür, und im Zimmer wird es noch dunkler. Leise tritt er heran, obwohl es nicht sehr wahrscheinlich ist, dass ich aufwache, da man mir ein leichtes Beruhigungsmittel verabreicht hat, damit ich gut schlafe. Er betrachtet mein Bett. Selbst bei dem schwachen Licht kann er ausmachen, dass mich die Decke eng umschlungen hält. Beruhigt greift er nach dem Reservekissen neben meinem Ohr und schiebt es mir – sachte zuerst – übers Gesicht, dann drückt er es rasch auf mich nieder, die Hände zu beiden Seiten meines Kopfs, und hält meine unter dem Bettzeug gefangenen Arme mit den Ellbogen fest. Fast sein ganzes Gewicht ruht auf seinem Oberkörper, und seine Füße heben sich vom Boden, bis er ihn nur noch mit den Schuhspitzen berührt.
Anfangs reagiere ich gar nicht. Als ich mich endlich bewege, lächelt er. Meine schwachen Anstrengungen, die Hände nach oben zu zerren und mich mit den Beinen freizustrampeln, bleiben vergeblich. Eingehüllt in die Decke wäre es selbst einem kräftigen Mann kaum gelungen, sich von dieser erstickenden Last zu befreien. Mit einem letzten hoffnungslosen Aufbäumen versuche ich, einen Buckel zu machen. Mühelos übersteht er diese Aufwallung, und ich sinke zurück. Jede Gegenwehr erlischt.
Aber er ist nicht dumm; er rechnet damit, dass ich mich tot stellen könnte.
Also legt er sich eine Weile quer über mich, reglos wie ich, und wirft hin und wieder einen Blick auf die Uhr, die die vorübertickenden Sekunden anzeigt, um ganz sicher zu sein, dass ich erledigt bin.
 
Hoffentlich bist du jetzt zufrieden. Ein Ende, und schon so kurz nach dem Auftakt! Doch erst mal zurück zum Anfang, zu etwas, das gewissermaßen erst geschehen muss.
 
Es beginnt in einem Zug zwischen China und Tibet, der höchstgelegenen Eisenbahnlinie der Welt. Es beginnt mit einem Mann in einem billigen braunen Straßenanzug, der mit etwas unsicherem Gang von einem schwankenden Waggon in den nächsten wechselt. In einer Hand hält er eine kleine Sauerstoffflasche, in der anderen eine halbautomatische Handfeuerwaffe. Er tritt auf die beweglichen Metallplatten zwischen den Wagen, und neben ihm ächzt und biegt sich der Faltenbalg wie eine gigantische Version des gerippten Schlauchs, der den Sauerstoffzylinder mit der durchsichtigen Maske vor seiner Nase und seinem Mund verbindet. Er spürt sein nervöses Lächeln in der Maske.
Um ihn herum rattert und rüttelt der Zug schwerfällig auf und ab, hin und her und wirft ihn kurz gegen die gewellten Wände der Manschette. Vielleicht eine Stelle, wo sich der Permafrost als nicht mehr ganz so permanent erweist – er hat von entsprechenden Problemen gehört. Er richtet sich auf, als der Zug wieder sein Gleichgewicht findet und seine Fahrt ruhig fortsetzt. Dann schiebt er sich die Sauerstoffflasche unter die Achsel, um mit der freien Hand die Krawatte zurechtzurücken.
Die Waffe ist eine mehrere Jahrzehnte alte K-54 der Volksarmee und liegt angenehm glatt in der Hand. Er hat noch nie damit geschossen, aber sie soll zuverlässig sein. Der Schalldämpfer wirkt plump, fast wie ein Eigenbau. Aber er muss reichen. Nachdem er sich die Hände an der Hose abgewischt hat, entsichert er die Pistole und streckt die Finger nach der Zahlentafel an der Tür zu dem Privatwaggon aus. Auf dem Anzeigefeld des Schlosses pulsiert langsam ein winziges rotes Licht.
Jetzt nähern sie sich dem höchsten Punkt der Strecke, dem Tanggula-Pass, der immer noch fast einen Tag von Lhasa entfernt ist. Hier oben, fünf Kilometer über dem Meeresspiegel, fühlt sich die Luft kühl und dünn an. Die meisten Leute werden auf ihren Plätzen bleiben, angeschlossen an die Sauerstoffversorgung des Zugs. Draußen furcht und wölbt sich seit einer Stunde die tibetische Hochebene – eine Sinfonie aus Grau, Beige und Braun mit Einsprengseln von frühsommerlichem Grün – zu Ausläufern, die die runzligen Wälle näher rückender Berge in der Ferne...