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Castellio gegen Calvin oder Ein Gewissen gegen die Gewalt - 'Freiheit ist nicht möglich ohne Autorität (sonst wird sie zum Chaos) und Autorität nicht ohne Freiheit (sonst wird sie zur Tyrannei)'

Stefan Zweig

 

Verlag e-artnow, 2013

ISBN 9788087664599 , 240 Seiten

4. Auflage

Format ePUB

Kopierschutz frei

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1,99 EUR


 



Die Machtergreifung Calvins




Sonntag, den 21. Mai 1536 versammeln sich, feierlich von Fanfaren zusammengerufen, die Genfer Bürger auf dem öffentlichen Platz und erklären einhellig durch Händeerheben, daß sie von nun ab einzig »selon l’évangile et la parole de Dieu« leben wollten. Auf dem Wege des Referendums, dieser noch heute in der Schweiz üblichen erzdemokratischen Einrichtung, ist in der ehemaligen Bischofsresidenz die reformierte Religion als Stadt-und Staatsglauben, als das einzig gültige und erlaubte Bekenntnis eingeführt. Wenige Jahre hatten genügt, um den alten katholischen Glauben in der Rhônestadt nicht nur zurückzudrängen, sondern zu zerschmettern und auszurotten. Vom Pöbel bedroht, sind die letzten Priester, Domherren, Mönche und Nonnen aus den Klöstern geflüchtet, ausnahmslos alle Kirchen von Bildern und andern Wahrzeichen des »Aberglaubens« gereinigt. Dieser festliche Maitag besiegelt nun den endgültigen Triumph: von jetzt an hat der Protestantismus in Genf gesetzlich nicht nur die Obermacht und Übermacht, sondern die Alleinmacht.

Diese radikale und restlose Durchsetzung der reformierten Religion in Genf ist im wesentlichen die Leistung eines einzigen radikalen und terroristischen Mannes, des Predigers Farel. Eine fanatische Natur, eine enge, aber eiserne Stirn, ein mächtiges und zugleich rücksichtsloses Temperament – »nie in meinem Leben ist mir ein so anmaßender und schamloser Mensch vorgekommen«, sagt von ihm der milde Erasmus –, übt dieser »welsche Luther« zwingende, bezwingende Macht über die Massen. Klein, häßlich, roten Bartes und struppigen Haares, reißt er von der Kanzel mit seiner donnernden Stimme und dem maßlosen Furor seiner Gewaltnatur das Volk in einen fiebernden Gefühlsaufruhr; wie Danton als Politiker, weiß dieser religiöse Revolutionär die verstreuten und versteckten Instinkte der Straße zusammenzurotten und anzufeuern zum entscheidenden Stoß und Angriff. Hundertmal hat vor dem Siege Farel sein Leben gewagt, mit Steinwürfen auf dem flachen Land bedroht, von allen Behörden verhaftet und geächtet; aber mit der primitiven Stoßkraft und Intransigenz eines Menschen, den nur eine einzige Idee beherrscht, zertrümmert er gewaltsam jeden Widerstand. Barbarisch bricht er mit seiner Sturmgarde in die katholischen Kirchen ein, während der Priester am Altar das Meßopfer darbringt, und besteigt eigenmächtig die Kanzel, um unter dem Tosen seiner Anhänger wider die Greuel des Antichrist zu predigen. Er formiert aus Straßenjungen ein Jungvolk, er dingt Scharen von Kindern, daß sie während des Gottesdienstes in die Kathedralen eindringen und durch Schreien, Quäken und Gelächter die Andacht stören; schließlich, durch den immer stärkeren Zustrom seiner Anhänger kühn gemacht, mobilisiert er seine Garden zum letzten Vorstoß und läßt sie gewalttätig in die Klöster einbrechen, die Heiligenbilder von den Wänden reißen und verbrennen. Diese Methode der nackten Gewalt zeitigt ihren Erfolg: wie immer schüchtert eine kleine, aber aktive Minorität, sofern sie Mut zeigt und mit Terror nicht spart, eine große, aber lässige Majorität ein. Zwar klagen die Katholiken über Rechtsbruch und bestürmen den Magistrat, jedoch sie bleiben gleichzeitig resigniert in ihren Häusern, und wehrlos überläßt am Ende der geflüchtete Bischof seine Residenzstadt der siegreichen Reformation.

Aber nun im Triumphe zeigt es sich, daß Farel doch nur der Typus des unschöpferischen Revolutionärs gewesen, zwar fähig, durch Elan und Fanatismus eine alte Ordnung umzustoßen, doch nicht berufen, eine neue aufzurichten. Farel ist ein Schimpfer, aber kein Gestalter, ein Aufrührer, aber kein Aufbauer; er konnte grimmig Sturm laufen gegen die römische Kirche, die dumpfen Massen aufreizen zum Haß gegen Mönche und Nonnen, er vermochte mit seiner Empörerfaust die steinernen Tafeln des alten Gesetzes zu zerschlagen. Aber ratlos und ziellos steht er vor den Trümmern. Jetzt, da an die Stelle der verdrängten katholischen Religion in Genf eine neue Satzung zu stellen wäre, versagt Farel vollkommen; als bloß destruktiver Geist wußte er nur einen leeren Raum für das Neue zu schaffen, aber niemals kann ein Straßenrevolutionär geistig-konstruktiv gestalten. Mit dem Niederreißen ist seine Tat zu Ende, zum Aufbau muß ein anderer erstehen.

Nicht Farel allein erlebt damals diesen kritischen Augenblick der Unsicherheit nach einem zu raschen Sieg; auch in Deutschland und in der übrigen Schweiz zaudern die Führer der Reformation uneinig und ungewiß vor der ihnen zugefallenen historischen Aufgabe. Was Luther, was Zwingli ursprünglich durchsetzen wollten, war nichts als eine Reinigung der bestehenden Kirche gewesen, eine Rückführung des Glaubens von der Autorität des Papstes und der Konzile auf die vergessene evangelische Lehre. Reformation bedeutete für sie im Sinne des Wortes anfangs wirklich nur reformieren, also verbessern, reinigen, rückverwandeln. Aber da die katholische Kirche starr auf ihrem Standpunkt beharrte und sich zu keinen Konzessionen bereit gefunden, wächst ihnen unvermutet die Aufgabe zu, statt innerhalb nun außerhalb der katholischen Kirche ihre geforderte Religion zu verwirklichen; und sofort, da es vom Destruktiven an das Produktive geht, scheiden sich die Geister. Selbstverständlich wäre nichts logischer gewesen, als daß die religiösen Revolutionäre, daß Luther, Zwingli und die andern Reformationstheologen sich brüderlich auf eine einheitliche Glaubensform und Praxis der neuen Kirche geeinigt hätten; aber wann setzt sich jemals das Logische und Natürliche in der Geschichte durch? Statt einer protestantischen Weltkirche erstehen überall Einzelkirchen; Wittenberg will nicht die Gotteslehre von Zürich und Genf wieder nicht die Gebräuche Berns übernehmen, sondern jede Stadt will ihre Reformation auf ihre zürichsche, bernische und genferische Art; schon in jener Krise spiegelt sich der nationalistische Eigendünkel der europäischen Staaten im Verkleinerungsglas des Kantongeistes prophetisch voraus. In kleinen Zänkereien, in theologischen Haarspaltereien und Traktaten vergeuden Luther, Zwingli, Melanchthon, Bucer und Karlstadt, sie alle, die gemeinsam den Riesenbau der Ecclesia Universalis unterhöhlten, nun ihre beste Kraft. Völlig ohnmächtig aber steht Farel in Genf vor den Trümmern der alten Ordnung, ewige Tragik eines Menschen, der die ihm zubestimmte historische Tat vollbracht hat, aber sich ihren Folgen und Forderungen nicht mehr gewachsen fühlt.


Eine Glücksstunde ist es darum für den tragischen Triumphator, als er durch Zufall erfährt, Calvin, der berühmte Jehan Calvin, halte sich auf der Durchreise von Savoyen für einen Tag in Genf auf. Sofort besucht er ihn in seinem Gasthofe, um sich von ihm Rat zu holen und seine Hilfe für das Werk des Aufbaus zu erbitten. Denn obzwar beinahe zwanzig Jahre jünger als Farel, gilt dieser Sechsundzwanzigjährige bereits als eine unbestrittene Autorität. Sohn eines bischöflichen Zolleinnehmers und Notars, zu Noyon in Frankreich geboren, in der strengen Schule des Kollegiums von Montaigu (ebenso wie Erasmus und Loyola) erzogen, erst für den Priesterstand und dann zum Juristen bestimmt, hatte Jehan Calvin (oder Chauvin) mit vierundzwanzig Jahren wegen seiner Parteinahme für die lutherische Lehre aus Frankreich nach Basel flüchten müssen. Aber ihm wird im Gegensatz zu den meisten, die mit der Heimat auch die innere Kraft verlieren, Emigration zum Gewinn. Gerade in Basel, dieser Wegkreuzung Europas, wo sich die verschiedenen Formen des Protestantismus begegnen und befeinden, begreift Calvin mit dem Genieblick des weitdenkenden Logikers die Notwendigkeit der Stunde. Schon sind vom Kern der evangelischen Lehre immer radikalere Thesen abgesplittert, Pantheisten und Atheisten, Schwärmer und Zeloten beginnen den Protestantismus zu entchristlichen und zu überchristlichen, schon vollendet sich mit Blut und Grauen in Münster die schauervolle Tragikomödie der Wiedertäufer, schon droht die Reformation in einzelne Sekten zu zerfallen und national zu werden, statt sich zu einer Universalmacht zu erheben gleich ihrem Widerpart, der römischen Kirche. Gegen solche Selbstzersplitterung muß, dies überblickt der Vierundzwanzigjährige mit seherischer Sicherheit, rechtzeitig eine Zusammenfassung gefunden werden, eine geistige Kristallisierung der neuen Lehre in einem Buch, einem Schema, einem Programm; ein schöpferischer Grundriß des evangelischen Dogmas muß endlich entworfen werden. So zielt dieser unbekannte junge Jurist und Theologe mit der herrlichen Verwegenheit der Jugend vom ersten Augenblick an, während die eigentlichen Führer noch um Einzelheiten quengeln, entschlossen auf das Ganze und schafft in einem Jahr mit seiner ›Institutio religionis Christianae‹ (1535) den ersten Grundriß der evangelischen Lehre, das Lehrbuch und Leitbuch, das kanonische Werk des Protestantismus.

Diese ›Institutio‹ ist eines der zehn oder zwanzig Bücher der Welt, von denen man ohne Übertreibung sagen darf, daß sie den Ablauf der Geschichte bestimmt und das Antlitz Europas verändert haben; seit Luthers Bibelübersetzung das wichtigste Tatwerk der Reformation, hat sie von der ersten Stunde bei den Zeitgenossen durch ihre logische Unerbittlichkeit, ihre konstruktive Entschlossenheit entscheidenden Einfluß geübt. Immer braucht eine geistige Bewegung einen genialen Menschen, der sie beginnt, und einen genialen, der sie beendet. Luther, der Inspirator, hat die Reformation ins Rollen gebracht, Calvin, der Organisator, sie aufgehalten, ehe sie in tausend Sekten zerschellte. In gewissem Sinne schließt die Institutio darum die religiöse Revolution so ab, wie der Code Napoléon...