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Befehl von oben - Thriller

Tom Clancy

 

Verlag Heyne, 2013

ISBN 9783641089061 , 1168 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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9,99 EUR


 

Prolog


Es lag wohl am momentanen Schock, dachte Ryan. Er kam sich vor wie zwei Personen zugleich. Ein Teil von ihm sah aus dem Kantinenfenster des Washingtoner CNN-Büros aufs Fanal, das aus den Trümmern des Capitol emporwuchs – aus orangefarbenem Glühen sprangen gelbe Punkte hervor: wie eine Art grausames Blumenarrangement. Über tausend Leben verkörperten sie, ausgelöscht vor kaum einer Stunde. Benommenheit hielt die Trauer zurück, doch er wußte, sie würde kommen, wie dem Schlag ins Gesicht stets der Schmerz folgt. Wieder einmal hatte der Tod die Hand nach ihm ausgestreckt. Er hatte ihn kommen, innehalten und sich wieder zurückziehen sehen; und das einzig Gute daran war, daß seine Kinder nicht ahnten, wie nah sie einem vorzeitigen Ende gewesen waren. Für sie war das Ganze einfach ein Unglück gewesen, das sie nicht begriffen. Jetzt waren sie bei ihrer Mutter und fühlten sich in deren Obhut sicher, während ihr Vater hier war. Das war leider eine Situation, in die sowohl sie als auch er sich längst hatten fügen müssen. Und so starrte John Patrick Ryan auf die Hinterlassenschaft des Todes, und der eine Teil von ihm fühlte noch immer nichts.

Der andere Teil von ihm sah dasselbe und wußte, daß er etwas tun mußte, und wenn er sich auch die größte Mühe gab, logisch zu denken, gewann Logik nicht die Oberhand, denn sie wußte nicht, was zu tun war oder wo man anfangen sollte.

»Mr. President.« Die Stimme von Special Agent Andrea Price.

»Ja?« erwiderte Ryan, ohne sich vom Fenster abzuwenden. Hinter ihm – er konnte ihre Spiegelung in der Fensterscheibe sehen – standen sechs weitere Agenten vom Secret Service mit den Waffen in der Hand, um andere fernzuhalten. Bestimmt zwanzig CNN-Angestellte waren vor der Tür versammelt, teils aus beruflichem – immerhin waren sie Journalisten – Interesse, hauptsächlich aber aus rein menschlicher Neugier angesichts eines historischen Augenblicks. Sie fragten sich, wie es wäre, hier zu stehen, und erkannten nicht, daß solche Ereignisse für jeden dasselbe sind. Ob mit einem Autounfall konfrontiert oder mit einer plötzlichen schlimmen Krankheit: Unvorbereitet setzt der menschliche Verstand einfach aus und versucht, dem Sinnlosen einen Sinn abzuringen – und je ernster die Prüfung, desto schwieriger die Erholungsphase. Aber Leute, die für Krisensituationen trainiert hatten, hatten wenigstens eingeübte Vorgangsweisen als Rückhalt.

»Sir, wir müssen Sie dahin bringen, wo Sie in ...«

»Wohin? In Sicherheit? Wo wäre denn das?« fuhr Jack dazwischen. Dann warf er sich im stillen die Grobheit seiner Frage vor. Mindestens zwanzig Agenten waren Teil des Scheiterhaufens eine Meile vor ihnen, allesamt Freunde der Männer und Frauen, die hier in der CNN-Kantine bei ihrem neuen Präsidenten standen. Er hatte nicht das Recht, sein Unbehagen auf sie zu übertragen. »Meine Familie?« erkundigte er sich nach einer Weile.

»In der Marines-Kaserne, Ecke Eighth und First Street, wie Sie befohlen haben, Sir.«

Ja, für sie war es gut, berichten zu können, daß sie Befehle ausgeführt hatten, gestand sich Ryan langsam nickend ein. Und für ihn war es auch gut zu wissen, daß seine Anweisungen ausgeführt wurden. Eine Sache hatte er nun schon mal richtig gemacht. War das etwas, auf dem man aufbauen konnte?

»Sir, wenn das Teil eines organisierten...«

»War es nicht. Das ist es nie, Andrea, nicht wahr?« fragte Präsident Ryan. Es überraschte ihn, wie müde seine Stimme klang, und er erinnerte sich, daß Schock und Streß einen mehr auslaugten als größte körperliche Anstrengung. Es schien ihm sogar die Energie zu fehlen, den Kopf zu schütteln und dadurch wieder klar zu bekommen.

»Es könnte aber sein«, gab Special Agent Price zu bedenken.

Ja, vermutlich hat sie recht. »Also, wie ist hier zu verfahren?«

»Kneecap«, erwiderte Price und meinte damit NEACP, die fliegende Kommandozentrale für den nationalen Notstand, eine umgebaute 747, die auf Andrews Air Force Base stationiert war. Einen Augenblick dachte Jack über den Vorschlag nach und runzelte dann die Stirn.

»Nein, ich kann nicht weglaufen. Ich glaube, ich muß dorthin zurück.« Präsident Ryan zeigte zur Glut. Ja, dort gehöre ich hin, nicht wahr ?

»Nein, Sir, das wäre zu gefährlich.«

»Dort ist mein Platz, Andrea!«

Er denkt auch schon wie ein Politiker, dachte Price enttäuscht.

Ryan sah ihren Ausdruck und wußte, daß er dies erläutern mußte. Er hatte einmal etwas gelernt, vielleicht das einzig Passende in diesem Moment, und es kam ihm jetzt so klar in den Sinn wie eine blinkende Warntafel an der Autobahn. »Es ist die Führungsrolle. Das hat man mir in Quantico beigebracht. Die Truppe muß sehen, daß man seinen Job tut. Sie müssen Gewißheit haben, daß man für sie da ist.« Und ich muß mich vergewissern, daß das alles Wirklichkeit ist, daß ich tatsächlich der Präsident bin.

War er es?

Der Secret Service hielt ihn dafür. Ryan hatte den Amtseid geleistet, die Worte gesprochen, Gott angerufen, seine Mühen zu segnen; doch war all das zu bald und zu schnell geschehen. Nicht zum erstenmal in seinem Leben schloß John Patrick Ryan die Augen und wollte sich zwingen, aus einem Traum zu erwachen, der zu unwahrscheinlich war, um wahr zu sein; und doch, als er die Augen wieder öffnete, war das orangefarbene Glühen noch da und die auflodernden gelben Flammen. Er wußte, er hatte die Eidesformel gesprochen – sogar eine kleine Ansprache hatte er gehalten. Doch an kein einziges Wort konnte er sich jetzt noch erinnern.

Machen wir uns an die Arbeit, hatte er eine Minute zuvor gesagt. Daran erinnerte er sich doch noch. Eine automatische Äußerung – ob sie überhaupt etwas bedeutete?

Jack Ryan schüttelte den Kopf – allein das bedurfte gewaltiger Anstrengung  –, dann wandte er sich vom Fenster ab und sah die Agenten im Raum direkt an.

»Okay. Was ist noch übrig?«

»Die Minister für Handel und für Inneres«, antwortete Special Agent Price, die gerade über Funk den neuesten Stand erfahren hatte. »Handel ist in San Francisco. Inneres in New Mexico. Sie sind bereits benachrichtigt worden; die Air Force wird sie herbringen. Alle anderen Minister haben wir verloren, Direktor Shaw, alle neun Richter vom Supreme Court, die Vereinigten Stabschefs. Wir wissen nicht genau, wie viele Kongreßmitglieder abwesend waren, als es geschah.«

»Mrs. Durling?«

Price schüttelte den Kopf. »Sie hat’s nicht geschafft, Sir. Die Kinder sind im White House.«

Jack nickte nur und preßte die Lippen zusammen beim Gedanken an etwas, das er höchstpersönlich erledigen mußte. Für die Kinder von Roger und Anne Durling war es kein öffentliches Ereignis. Für sie war die Sache unmittelbar und auf tragische Art einfach: Mom und Dad waren tot, und sie waren jetzt Waisen. Jack war ihnen begegnet, hatte mit ihnen gesprochen – zwar nicht mehr als das übliche Lächeln und ein »Hallo«, aber sie waren echte Kinder mit Gesichtern und Namen –, nur, daß jetzt ihr Familienname alles war, was ihnen blieb, und ihre Gesichter würden vor Schock und Unglauben verzerrt sein. Wie Jack würden sie versuchen, den nicht verscheuchbaren Alptraum wegzublinzeln, und für sie würden Jugend und Verletzlichkeit alles schlimmer machen. »Wissen sie es?«

»Ja, Mr. President«, sagte Andrea. »Sie schauten gerade fern, und die Agenten mußten es ihnen sagen. Sie haben noch Großeltern und andere Verwandte. Die lassen wir ebenfalls herbringen.« Sie fügte nicht hinzu, daß der Drill hierfür klar war, daß es in der Leitzentrale des Secret Service, nur ein paar Blocks westlich vom White House, einen ganz speziellen Aktentresor mit verschlossenen Umschlägen gab, in denen sich Operativpläne für alle möglichen Eventualitäten und obszönen Krisen befanden; das hier war nur eine davon.

Doch es waren jetzt Hunderte, nein, Tausende von Kindern ihrer Eltern beraubt. Jack mußte die Gedanken an die Durling-Kinder zurückstellen. So schwer ihm das fiel, war es auch erleichternd, sich dieser Aufgabe zu entziehen – für den Augenblick. Wiederum sah er Agent Price an.

»Sie sagen, daß ich gegenwärtig die gesamte Regierung darstelle?«

»Genau den Anschein hat es, Mr. President. Deshalb müssen wir ...«

»Deshalb muß ich die Dinge tun, die ich zu tun habe!« Jack wandte sich zur Tür, schreckte damit die Secret-Service-Agenten auf und versetzte sie in Aktion. Auf dem Flur gab es Kameras. An denen schritt Ryan einfach vorüber, hinter der Vorhut aus zwei Agenten, die einen Weg durch die Herde bahnten – Nachrichtenleute, die so geschockt waren, daß sie gerade mal ihre Kameras in Gang setzen konnten. Keine einzige Frage. Das, dachte Jack ohne Lächeln, war wohl einzigartig. Ihm kam gar nicht in den Sinn, wie wohl sein Gesicht aussehen mochte. Ein Fahrstuhl stand bereit, und dreißig Sekunden später tauchte er in der geräumigen Vorhalle auf. Sie war von Menschen geräumt worden, außer natürlich von Agenten, von denen die Hälfte Maschinenpistolen trug, die Läufe zur Decke gerichtet. Dann erblickte er die Marines, die draußen standen, die meisten in unvollständiger Uniform. Einige bibberten in ihren roten T-Shirts über tarnfarbenen ›Mehrzweck‹-Hosen.

»Wir wollten zusätzliche Sicherheit«, erklärte Price. »Ich habe die Kaserne um Unterstützung gebeten.«

»Yeah.« Ryan nickte. Niemand würde es unziemlich finden, daß der...