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Störungen der Exekutivfunktionen

Sandra Müller

 

Verlag Hogrefe Verlag GmbH & Co. KG, 2013

ISBN 9783840917615 , 130 Seiten

Format PDF, OL

Kopierschutz Wasserzeichen

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19,99 EUR


 

Grundsätzlich ist die Prognose für einen Patienten mit Störungen der Exekutivfunktionen jedoch nicht sehr positiv. Viele Patienten scheitern an der Selbstständigkeit im Alltag oder an der beruflichen Wiedereingliederung, und zwar häufiger an den oft nur minimalen Verhaltensauffälligkeiten oder den Persönlichkeitsveränderungen oder -akzentuierungen als an den verbleibenden kognitiven Defiziten. Bei diesem Störungsbild ist von einem langen Erholungsprozess bzw. Rehabilitationsprozess auszugehen. Deshalb gilt es zwei Dinge zu beachten: erstens scheitern diese Patienten häufig, weil die berufliche Wiedereingliederung zu früh eingeleitet wird und zweitens können Verbesserungen der Symptomatik noch mehrere Jahre nach dem Ereignis auftreten. Hinzu kommt, dass nicht selten Partnerschaften aufgrund der hohen Belastung für den Angehörigen und der sozialen Auffälligkeiten des Patienten scheitern, und damit soziale Unterstützungssysteme wegbrechen. Deshalb ist für diese Patientengruppe eine ambulante neuropsychologische Therapie und neuropsychologische Begleitung bei der beruflichen Wiedereingliederung von zentraler Bedeutung.

Merke: Es liegen keine Studiendaten explizit zu Verlauf und Prognose exekutiver Dysfunktionen ohne Behandlung vor, einige wenige jedoch zu einzelnen Ätiologien die häufig zu exekutiven Defiziten führen.

1.5 Assoziierte Störungen des Dysexekutiven Syndroms

Beim Vorliegen eines dysexekutiven Syndroms kommt es oft nicht nur zu kognitiven oder geistigen Veränderungen, sondern auch zu Verhaltensauffälligkeiten. Dies kann sich in einer Antriebsminderung oder Antriebslosigkeit äußern oder auch in mangelnder emotionaler Kontrolle, Impulsivität oder einer Enthemmung des Verhaltens. Auch zeigt sich auf der Verhaltensebene häufig eine mangelnde Flexibilität und Anpassungsbereitschaft.

1.5.1 Fehlende oder mangelnde Krankheitseinsicht

Fehlende oder mangelnde Krankheitseinsicht wird mit den Fachbegriffen Anosognosie (griech. A – nicht, nosos – Krankheit, Gnosis – Erkenntnis) oder Unawareness bezeichnet und tritt häufig in Abhängigkeit von der genauen Lokalisation der Hirnschädigung bei Patienten mit Störungen der Exekutivfunktionen auf. Unter Anosognosie versteht man die Unfähigkeit eines Patienten, Beeinträchtigungen, die sich als Folge einer Hirnschädigung ergeben, an sich selbst wahrzunehmen und die sich daraus ergebenden Konsequenzen realistisch einzuschätzen. Der Begriff Anosognosie beschreibt das krankhafte Nichterkennen von Defiziten, die andere sofort erkennen. Die fehlende oder mangelnde Krankheitseinsicht ist etwas, was die Patienten nicht bewusst herbeiführen oder steuern können. Es gibt eine Reihe von Erklärungen für das Auftreten von Anosognosie, wobei derzeit eine Störung des Kontrollsystems als am plausibelsten gilt. Bei dieser Theorie wird davon ausgegangen, dass die Informationsverarbeitung in verschiedenen Funktionsbereichen mittels Rückkopplungsschleifen kontrolliert wird. Durch die Hirnschädigung kann es zu einer Beeinträchtigung des Kontrollsystems für einen Funktionsbereich oder des übergeordneten Kontrollsystems kommen (Gauggel, 2008). Stuss und Anderson (2004) schlagen ein hierarchisches Modell bewusster Prozesse vor, dessen höchste Funktionen, Bewusstsein für die eigene Person (Self-Awareness) und Selbstreflexion im präfrontalen Kortex lokalisiert sind. Frontalhirnschädigungen können das Bewusstsein für ein zeitlich überdauerndes Ich mit stabilen Merkmalen und Zielen beeinträchtigen (Levine et al., 1999). Die meisten Autoren sehen ein eingeschränktes Störungsbewusstsein als charakteristisches Merkmal exekutiver Dysfunktion an.

Auf Außenstehende kann das Verhalten des Betroffenen daher manchmal wirken wie Trotz, Sturheit, Gleichgültigkeit oder gar Dummheit; Fachleute nennen es Reaktanz. Denn sowohl der Patient als auch die Angehörigen wissen insbesondere in den ersten Wochen der Erkrankung nichts oder nur sehr wenig über seine Störung. Diese mangelnde Krankheitseinsicht kann alle Bereiche betreffen, vom Nichtwahrnehmen der eigenen kognitiven Defizite – auch wenn sie in neuropsychologischen Testverfahren festgestellt werden („Das konnte ich sowieso noch nie!“), über falsche Erklärungen bezüglich des Krankenhausaufenthalts („Die wollen nur meinen Zucker einstellen!“), bis hin zu völlig unrealistischen Zukunftsplänen („Ich weiß auch nicht, warum die mich hier festhalten, eigentlich könnte ich morgen wieder arbeiten gehen!“). Die mangelnde Krankheitseinsicht betrifft alle Lebensbereiche des Betroffenen, sowohl die Rehabilitation als solche als auch die Integration in das „frühere“ Alltagsund Berufsleben. Die Tatsache, dass der Patient selbst der festen Meinung ist, er habe keinerlei Beeinträchtigungen, macht eine Therapie häufig schwierig. Dementsprechend helfen Appelle oder Erklärungen dabei nicht. Typischerweise reagiert der Patient erstaunt auf die Rückmeldungen seiner Umwelt. Andere häufige Reaktionen sind Konfabulation (der Produktion von objektiv falschen Aussagen), Entschuldigungen und Rationalisierungen. Bei so genannten Rationalisierungen wird versucht, unbewussten Handlungen nachträglich einen vernünftigen oder einen „rationalen“ Sinn zu verleihen (mehr dazu unter Müller, 2009). Wiederholte Konfrontationen mit dem bestehenden Defizit durch die Umwelt können zu angespanntem, genervtem bis hin zu aggressivem Verhalten führen. Besonders für Angehörige ist es schwierig den „richtigen Ton“ im Umgang mit dem Betroffenen zu finden, der seine krankheitsbedingten Probleme leugnet oder für unwichtig hält. Eine Konfrontation in bestimmten alltäglichen, offensichtlich nicht adäquat bewältigten Situationen ist jedoch unvermeidlich und z. T. auch therapeutisch sinnvoll. Erfahrungsgemäß wird Kritik von Mitpatienten eher akzeptiert als die von Angehörigen, Therapeuten oder Ärzten. Zentral ist hierbei, dass jede Form der Konfrontation eine vertrauensvoll stabile Therapeut-Patienten-Beziehung voraussetzt, da die Konfrontation sonst leicht zu Abwehr und/oder Aggressivität führen kann.

Die mangelnde Krankheitseinsicht verändert sich in der Regel von alleine mit zunehmender Zeitdauer nach dem hirnschädigenden Ereignis durch so genannte Spontanerholung. Es wird davon ausgegangen, dass es von der Phase der fehlenden Krankheitseinsicht über die Phasen des informellen und des auftauchenden schließlich zum vorausschauenden Krankheitsbewusstsein kommt (Kerkhoff et al., 2008). Die Übergänge zwischen den vier in Abbildung 3 dargestellten Phasen sind fließend. Häufig sind Patienten auch nicht eindeutig einer der Phasen zuzuordnen, ebenso wenig gibt es empirisch gesicherte Hinweise, dass alle Phasen erfolgreich durchlaufen werden. Doch auch bei der vorausschauenden Einsicht vermitteln die Patienten häufig den Eindruck, dass sie nur über gelerntes Wissen bezüglich ihrer Defizite verfügen und diese nicht wirklich erleben oder fühlen (s. Fallbeispiel).

Gauggel (2008) empfiehlt Psychoedukation, Realitätsprüfung (Leistungseinschätzungenund Abgleich mit Feedbackinterventionen durch Therapeut, Gruppe, Video), Perspektivenwechsel oder operante Verstärkung realitätsnaher und situationsangemessener Handlungen. Allen vorliegenden Ansätzen ist gemein, dass sie eine kontinuierliche Realitätstestung und -überprüfung verlangen. Es soll jeweils eine konkrete Aufgabe bearbeitet werden. Zwischen den Aufgaben sollen Patienten eigene Ziele formulieren, anschließend sollen diese mit dem erreichten Ergebnis verglichen und Abweichungen thematisiert werden. So haben z. B. Chittum et al. (1996) ein individualisiertes Therapieprogramm in Form eines Spiels in drei Schwierigkeitsstufen, bei welchem Tokens erworben werden können, entwickelt. Bei schweren Störungen muss jedoch davon ausgegangen werden, dass mit den angeführten Methoden nur geringe Erfolge erzielt werden können. Es verbleiben nur die Möglichkeiten der Psychoedukation von Angehörigen und der Einsatz externer Hilfsmittel.