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Das Salz der Erde - Historischer Roman

Daniel Wolf

 

Verlag Goldmann, 2013

ISBN 9783641105969 , 1152 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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9,99 EUR


 

Mai 1187

MAILAND

Mailand erwachte aus unruhigem Schlaf.

Im Westen der Po-Ebene war der Himmel noch dunkel, doch im Osten glühte er bereits violett und orange. Die Nacht zog sich langsam aus den Straßen der gewaltigen Stadt zurück wie eine geschlagene Streitmacht, während das erste Licht des Tages über die Dächer kroch und in Gassen und Klösterhöfe hinabtröpfelte. Schwarz erhoben sich die Zinnen der Wehrmauer vor dem flammenden Streif am Horizont, schwarz auch die Glockentürme des Doms. Zwei Tagelöhner torkelten über den menschenleeren Platz vor dem Gotteshaus, schwerfällig und betrunken. Einer hob seinen Kittel und urinierte gegen die Ziegelsteinfassade des Palazzo del Podestà; der andere stimmte ein schweinisches Lied an und weckte einen Hund auf, der wütend zu bellen begann.

Ein Hahn krähte im Hinterhof einer Herberge bei der Porta Romana, ein zweiter in der Gasse der Waffenschmiede, ein dritter in den Gärten bei der Ostmauer. Straßenräuber entrissen ihrem sterbenden Opfer die Geldkatze, wischten ihre Dolche ab und flohen vor der Morgendämmerung in ihren Schlupfwinkel. Bettler und Krüppel regten sich auf den Stufen der Kirchen und durchsuchten ihre Lumpen nach Brotresten. Kupplerinnen und Dirnen in den Arkaden zählten den Lohn der Nacht.

Hunderttausend Seelen seufzten, während allmählich die Wirklichkeit in ihre Träume drang.

Als die Sonne aufging, riefen die Klosterglocken zur Prim, dem ersten Gebet des Tages. Mönche verließen schläfrig ihre Zellen und schlurften durch die Kreuzgänge. Die Nachtwächter der verschiedenen Viertel beendeten ihre Runden, löschten ihre Laternen und stapften müde zu ihren ärmlichen Quartieren. Kerzen und Kienspäne flammten in den Fenstern auf; Dienstboten in den Palazzi der Reichen und Mächtigen bereiteten ihren Herren das Morgenbrot und legten frisch ausgebürstete Gewänder bereit. Ein Geldwechsler küsste ein letztes Mal seine blutjunge Magd und raunte ihr Versprechen zu, die er niemals einlösen würde. Leise stahl er sich davon und schlüpfte ins eheliche Schlafgemach, bevor sein Weib zu sich kam.

Michel erwachte, als der letzte Glockenschlag verklang. Er hatte wieder geträumt, irgendetwas von seinem Vater, der im fernen Oberlothringen mit dem Salzschiff auf der Mosel fuhr. An mehr konnte er sich nicht erinnern.

Er setzte sich auf, rieb sich das Gesicht. Seit einigen Wochen träumte er ständig von der Heimat, von Jean, von seiner Schwester Vivienne, die vor zwei Monaten geheiratet hatte, vom Geschäft der Familie. Stets waren es verwirrende Träume, die alltägliche Ereignisse mit Bildern aus der Vergangenheit mischten, und immer hinterließen sie in ihm ein Gefühl der Schwere. Woher kamen sie? Er konnte es sich nicht erklären. Natürlich vermisste er seine Familie, aber lange nicht so sehr wie vor drei Jahren, als er neu in Mailand gewesen war, und damals hatte er auch nicht von ihr geträumt.

Das muss das schlechte Gewissen sein. Ich sollte ihnen häufiger schreiben.

Er nahm sich vor, gleich heute Abend nach der Arbeit einen Brief an seine Familie aufzusetzen und ihn morgen früh einem berittenen Boten der Tuchhändlergilde mitzugeben. Mit etwas Glück würde er schon in zwei, drei Wochen in Varennes sein.

Er verscheuchte die Erinnerungen an den Traum und trat nackt ans Fenster seiner Kammer. Die Gasse vor dem Palazzo Agosti war noch nahezu menschenleer; lediglich zwei Stadtwachen mit geschulterten Spießen schlenderten über das Pflaster und verjagten einen Betteljungen, der unter den Arkaden herumlungerte. Spätestens in einer Stunde würde es in der schmalen Straße nur so wimmeln von fliegenden Händlern, Eilboten, Knechten und Mägden, die im Auftrag ihrer Herren Besorgungen machten.

Es versprach ein warmer, sonniger Maimorgen zu werden. Michel war nicht müde, obwohl er höchstens vier oder fünf Stunden geschlafen hatte. Wieder einmal hatte er bis weit nach Mitternacht gearbeitet und die Geschäftsbücher seines Lohnherrn auf den neuesten Stand gebracht – Messere Agostis Augenlicht ließ nicht mehr zu, dass er sich selbst um die Aufzeichnungen kümmerte. Michel beklagte sich nicht. Die zusätzliche Verantwortung gefiel ihm, und er brauchte nicht viel Schlaf.

Nachdem er sich gewaschen und sein bestes Gewand angezogen hatte, stieg er die Treppe hinab und betrat Messere Agostis Gemächer. Sein Lohnherr war bereits wach und saß am Tisch, der reich gedeckt war mit ofenwarmem Brot, Hartkäse, prallen Würsten und frischem, saftigem Obst.

»Herein mit dir, mein Junge, immer herein! Setz dich und lang tüchtig zu.«

Hätte er Salvestro Agosti nicht gekannt, wäre ihm nie eingefallen, dass einer der angesehensten und reichsten Kaufleute Mailands vor ihm saß. Der Messere sah eher wie ein kauziger Einsiedler aus, mit seinem wirren grauen Haar, dem zotteligen Bart und dem hageren Gesicht. Klein war er, dürr und knochig, seine Finger waren zu kurz und seine Ohren zu groß, und immerzu rieb er sich die Hände. Dank seiner unauffälligen Erscheinung, die durch das schlichte Gewand und die einfachen Lederschuhe noch unterstrichen wurde, vergaß man leicht, dass dieser gnomenhafte Mann über viele tausend Silberpfund Vermögen, mehrere Häuser und drei Handelsniederlassungen in Norditalien verfügte.

Wie jeden Morgen vibrierte er schier vor Tatendrang. »Heute ist ein wichtiger Tag, mein Junge, ein überaus bedeutender Tag«, sagte er, während sie aßen. »In zwei Stunden erwartet mich der Podestà. Fulvio und die Knechte laden gerade zwei Ballen panno pratese auf den Wagen. Ich habe es gerade noch einmal angesehen. Es ist wahrhaftig von erlesener Qualität – wenn unser geliebter Herr Podestà auch nur einen Funken Sinn für Schönheit hat, wird er nicht widerstehen können. Weißt du was, Michel? Ich habe so eine Ahnung, dass er uns sogar die gesamte Lieferung abnimmt. Bete, dass mich mein Gespür nicht täuscht. Es brächte uns auf einen Schlag achtzig Lira ein.«

Panno pratese war feines Tuch aus der aufstrebenden Stadt Prato. In ganz Norditalien leckten sich Gewandschneider und Hutmacher die Finger danach. Messere Agosti arbeitete seit Wochen daran, dem Podestà von Mailand, dem Oberhaupt der Stadtregierung, eine größere Menge zu verkaufen. Michel zweifelte nicht daran, dass es ihm gelingen würde. Der Messere mochte nicht mehr der Jüngste sein, aber sein senno, sein kaufmännischer Verstand, war noch so scharf wie vor zwanzig Jahren.

»Wünscht Ihr, dass ich Euch begleite?«, fragte Michel. Nach nunmehr drei Jahren in Mailand sprach er das Lombardische fließend, wenngleich er seinen lothringischen Akzent wohl nie verlieren würde.

»Nein, du triffst dich später mit Spini.«

»Ich dachte, das Treffen sei erst übermorgen?«

»Gestern Abend kam ein Bote. Spini kann übermorgen nicht – offenbar muss er dringend nach Venedig. Er erwartet dich heute Morgen auf dem Grundstück. Denk daran, was wir besprochen haben. Hundert Lira ist das Maximum, achtzig das Ziel. Allerdings würde es mich überraschen, wenn Spini weniger als hundertzwanzig verlangte. Du musst ihn herunterhandeln, also lass ihn auf keinen Fall spüren, wie gern ich das Grundstück haben möchte. Er ist ein unangenehmer Bursche und ein verbissener Sturkopf dazu, aber du schaffst das schon.«

Messere Agostis Reichtum gründete auf dem Fernhandel mit Gewürzen und Tuch. Da er allmählich zu alt wurde für das mühsame und gefährliche Leben eines fahrenden Kaufmannes, investierte er sein Vermögen zunehmend in Grundbesitz. Das Anwesen, von dem er sprach, wollte er abreißen lassen, um an seiner Stelle Mietquartiere für Handwerker, Arbeiter und Tagelöhner zu errichten. Der Pachtzins für neue Unterkünfte innerhalb der Stadtmauern würde ihm gut und gerne zwanzig Lira im Jahr einbringen.

»Wenn du wieder da bist, nimm dir die Bücher vor«, fuhr der Messere fort. »Die Aufzeichnungen der vergangenen Wochen müssen endlich geordnet werden – sie sind ein einziges Durcheinander. Ich weiß, es ist eine grässliche Arbeit, aber du bist der Einzige, den ich guten Gewissens damit betrauen kann. Wenn ich Fulvio an die Bücher heranlasse, kann ich sie genauso gut ins Feuer werfen.«

»Keine Sorge«, erwiderte Michel. »Ich habe sie schon gestern Abend in Ordnung gebracht.«

»Gestern Abend? Aber du warst doch bis Sonnenuntergang auf dem Markt. Schläfst du auch einmal?«

»So wenig wie möglich.« Michel lächelte. »Schlaf ist etwas für Säuglinge und Kranke.«

Sie verzehrten in Ruhe ihr Morgenbrot und unterhielten sich über künftige Geschäfte und die politische Lage in der Stadt. Seit Michel fattore war, Messere Agostis Bevollmächtigter und seine rechte Hand, frühstückten sie jeden Morgen zusammen. Die Gespräche, die sie dabei führten, genoss er sehr, nicht nur wegen Agostis Klugheit und Witz. Der Messere war ihm in den vergangenen drei Jahren ein väterlicher Freund geworden und ließ ihn stets an seiner Erfahrung teilhaben. Was Michel auf diese Weise über die Arbeit eines Kaufmanns lernte, ließ sich nicht mit Gold aufwiegen. Aber genau das hatte sein Vater schließlich beabsichtigt, als er ihn nach Mailand schickte.

Michels Vater war schon lange nicht mehr Knecht bei Herrn Caron. Nach ihrer abenteuerlichen Flucht aus Fleury hatte er sich mit Fleiß und Klugheit zum Handelsgehilfen hochgearbeitet, lesen und schreiben gelernt und schließlich ein eigenes Geschäft gegründet, das er seitdem erfolgreich betrieb. Michel begleitete ihn auf seinen Handelsreisen, seit er zwölf war, denn sein Vater wollte, dass er sich schon früh...