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Königsallee - Roman

Hans Pleschinski

 

Verlag Verlag C.H.Beck, 2013

ISBN 9783406653889 , 393 Seiten

6. Auflage

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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9,49 EUR

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Alarm


Der Aufruhr im Breidenbacher Hof war groß.

Das Grand Hotel befand sich im Ausnahmezustand.

Krude Zeiten.

Da mußte man durch.

Zu allen üblichen Herausforderungen kam an diesem Vormittag hinzu, daß die Feuerwehr die hintere Zufahrtsstraße und damit die Lieferanteneingänge abgesperrt hatte. Eine Spaziergängerin, vielmehr ihr Hund, war auf einen Blindgänger gestoßen.

Direktion und Personal durften froh sein, daß nicht der gesamte Gebäudekomplex geräumt werden mußte. Die vergangenen Evakuierungen aus demselben Grund hatten üble Erinnerungen hinterlassen. Vor zwei Jahren war nach dem nur leidlich kontrollierbaren Entweichen aus dem Hotel ins Sichere – vor allem die Gasleitungen im Keller stellten ein erhebliches Risiko dar – außer einer Menge Besteck auch eine Delfter Vase aus einem Vestibül verschwunden geblieben. Im Jahr zuvor war eine kanadische Geigerin oder Sopranistin, die vor der Rheinarmee gastieren sollte, nach der Aufforderung We would like you to leave the house in all calmness but immediately. There might be an explosion dermaßen angsterfüllt, ja, panisch – dennoch mit einigem Gepäck – die Treppen hinabgestürmt, daß sie schlimm gestürzt war. Direkt aus der Chirurgie im Domenikus-Krankenhaus hatte die Kanadierin ihre Heimreise angetreten.

Todesfurcht angesichts einer womöglich detonierenden Luftmine konnte man einer Künstlerin aus dem ruhigen Ottawa natürlich nicht verübeln. Die Hotelleitung hatte alle Anweisungen befolgt und war mit einer kurzen Untersuchung des Unfalls davongekommen. Die nicht unerheblichen Regreßforderungen wegen der ausgefallenen Tournee vor Soldaten und einer vielleicht beendeten Bühnenkarriere hatte das recht neuartige Bundesland Nordrhein-Westfalen, selbst noch ein Hungerleider, wiewohl im Aufschwung, zu begleichen. Die Bereinigung von Kriegsschäden mit sämtlichen Begleiterscheinungen oblag – zumindest auf deutschem Boden – deutschen Behörden. Und die hatten durchgehend teils sogar in verheerendsten Zeiten funktioniert. Noch im Untergang waren Jahressteuerbescheide Männern des Volkssturms zugeleitet und mit dem Vermerk Gefallen an ausgebrannte oder verlassene Ämter in Aachen oder gen Stettin zurück expediert worden. Triumph des Willens, oder gespenstischer ging es nicht.

Keine zehn Jahre war das her.

In sicherer Distanz zum Hotel kreiste das Blaulicht der Feuerwehr und des Technischen Hilfswerks. An der abgesperrten Trümmerbrache herrschte angespannte Konzentration. Nach einem Handzeichen aus dem Ruinengestrüpp räumte der Sprengmeister geborstene Ziegel über einem verschütteten Kellereingang vorsichtig beiseite.

Es glich einem Wunder, daß in der Flußmetropole überhaupt noch eine Schindel auf den Dachstühlen, eine Hauswand senkrecht und eine Glasscherbe in den Fensterrahmen geblieben war. Ein vierteltausend Angriffe – anfangs nachts, später auch bei Sonnenschein – hatten die Stadt umgepflügt. Um die sechstausend Menschen, Einheimische, zu den Fabriken Herverschleppte aus dem Osten, waren auf den Straßen zerfetzt, unter Gemäuer begraben worden, in ausglühenden Schutzräumen erstickt und verschmort. Lodernd waren Lancaster-Bomber in den Rhein gestürzt. In den Cockpits der Feinde, der Bezwinger, der Befreier war noch unter Wasser ein Flammen und verzweifeltes Gestikulieren zu erkennen gewesen.

Kein Wort konnte die Geschehnisse erfassen und zur Ruhe bringen.

Das Ausmaß und die Tiefe der Wunde waren vielleicht noch längst nicht erkannt. Wie viele Jahre müßten vergehen? – Zerstörung, Schande waren nun das Erbe der Nation. Wann käme eine neue, bessere Vermischung ihrer Substanz? Daß man als Deutscher wieder zu dem würde, was man ehedem gewesen war: Bürger der Welt, tüchtiger Arbeiter, Faulenzer vor dem Herrn, Verkehrspolizist oder Verliebte ohne Schattenreich im Nacken.

Gottlob gab es den Alltag. Auch wenn er die Nerven aufs äußerste strapazierte.

Entsetzt nahm Oskar Siemer wahr, wie die Halle des ersten Hauses am Platze verwüstet wurde. Der Empfangschef des Breidenbacher Hofs spürte das Jucken in seiner rechten Wange und griff sich kurz an die Haut. Wie immer, wenn der gewünschte Tagesablauf aus dem Lot geriet, meldete sich der Granatsplitter, erhitzte sich leicht und geriet in Bewegung. Das dunkle Stück sowjetische Munition, das im Brandenburgischen, wenige Kilometer südlich von Berlin, in Siemers Gesicht gespritzt war, wanderte unmerklich. Der Streif unter der Haut, manchmal nur mit der Lupe zu erkennen, hatte sich einmal überm Mundwinkel gezeigt und sich dann wieder in Richtung Ohr verschoben. Die Armee Wenck, das letzte Aufgebot der Wehrmacht, war damals zumindest nicht in den Untergang Berlins marschiert – womit auch? –, sondern hatte nach einem Westschwenk zur Elbe vor den Amerikanern kapituliert. Andernfalls wäre Siemer, trotz einer Fersenverknorpelung im letzten Kriegswinter noch eingezogen, niemals in Düsseldorf gestrandet. Da der graue Erinnerungsstahl meist nicht spürbar war, lohnte auch eine Operation kaum. Nur heute wieder saß der Splitter am Nerv.

Der Empfangschef und ehemalige Eigentümer des Cafés Kronprinz in Tilsit registrierte vor der Rezeption neue Invasoren, die nicht in die Weite und gepflegte Atmosphäre einer internationalen Ankunftshalle gehörten. Wegen der Sperrung der Hintereingänge wälzte sich jetzt das gesamte Lieferantenvolk an Sesseln und Tischen vorbei. Wenigstens waren die Teppiche im letzten Moment aufgerollt und beiseite geschoben worden. Noch verhältnismäßig unauffällig und beinahe charmant wirkten an diesem Alarmmorgen die Blumenmädchen, die durch den Haupteingang des Hotels in die Etagen gehuscht waren, um ihre Garben frischer Gladiolen dem Zimmerservice auszuhändigen. Nur wenige Blüten und Blätter hatten die eiligen Floristinnen auf Bodenplatten und Stufen hinterlassen.

Nun aber gab der Klavierstimmer, der ausgerechnet am Blindgängertag seinen Termin wahrnahm, das Horchen an den Flügelsaiten auf und ließ den Daumen entnervt über alle Tasten gleiten, so daß ein unerschütterlicher Gast aus seinem Sessel fast erwartungsvoll zum Instrument blickte.

Burschen vom Großmarkt schleppten Kisten voller Salat, Möhren und Kräutern an den Teppichröhren vorbei zum Küchentrakt. Ein Sack Kartoffeln hinterließ eine sandige Wolke. Den Gemüsejungen folgten zur üblichen Anlieferungszeit Fleischerlehrlinge mit leidlich abgedeckten Zinkwannen, aus denen jedoch einiges Blut von Kalbfleisch, erstklassigem Rind und Wild tropfte. Zumindest stand Hauspersonal mit Eimern und Lappen bereit, um die roten Spuren sofort aufzuwischen. Gegen Blut richtete nach einiger Zeit sogar Schrubben wenig aus. Herr Elkers, der einarmige Vormittagsportier, hatte am Hauptportal sein Walten eingestellt und klopfte sich neben der weit offenen Einfallsbresche Staub von der Brust. Gleichfalls in der falschen Richtung – nämlich nicht vom Hof, sondern von der Körner Straße her – rollten die Angestellten der Chemischen Reinigung Blaufärber zwei Garderobenständer mit Kleidern und Gästesakkos zur Verteilstelle im Wirtschaftstrakt. Ihnen wehte Zement von der gegenüberliegenden Baustelle nach. Die gereinigte Kleidung, darunter ein schwarzes Abendkleid mit Paillettengeglitzer, blieb durch moderne hauchdünne Kunststoffhüllen offenbar geschützt.

Auch das noch!

Oskar Siemer stützte sich mit beiden Händen neben der Rezeptionsglocke ab. Sein Assistent, der rundliche Herr Friedemann, dessen hochrotes Gesicht – entweder Bluthochdruck oder Hochprozentiges nach Dienst – völlige Fassungslosigkeit über den Lieferantenstrom zeigte, das Jüngste Gericht würde mit ganz anderen Turbulenzen aufwarten, trat neben seinen Vorgesetzen und flüsterte: «Türen?»

«Ja, das sind Türen. Für die wurde es aber auch höchste Zeit.»

Drangen Tischler oder Polsterer oder beide vereint in die Halle? Portier Elkers in weinroter Uniform gab seinen Posten auf und zog sich neben die Litfaßsäule mit dem Programm der Düsseldorfer Bühnen zurück. Mit Hilfe breiter Schultergurte bugsierte die Schar von Handwerkern schweres Rechteckiges herein. Auf der Seite, die Siemer und Friedemann sahen, waren die neuen Türen mit dickem seidigen Polsterstoff bezogen, der sich durch Messingknöpfe in Rhomben aufteilte. Durch solche Schalldämmung dringe kein Laut in die Suite. Ein Nobelpreisträger bedurfte der größtmöglichen Ruhe. Und insbesondere der alsbald erwartete. Der Gast galt als einer der empfindlichsten. Weltweit. Die Berühmtheit, so hieß es, gerate in fiebrige Alpdrücke, müsse zu Unmengen von Schlafpulver greifen, wenn der federleichte, wichtige Schlummer auch nur angehaucht würde. Doch die Direktion hatte für den eminenten Aufenthalt, denn anders konnte man es nicht nennen, weder Kosten noch Mühen gescheut. Die Doppelfenster waren renoviert und gegen mögliches Tröpfeln die Wasserhahndichtungen ausgetauscht worden. Ein Verwaltungsangestellter hatte in der Präsidentensuite sogar probegeschlafen und nicht das leiseste Quietschen der neuen Bettfederung vernommen.

Jetzt mußten nur noch die maßgefertigten...