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Geschichte der Welt 1870-1945 - Weltmärkte und Weltkriege

Akira Iriye, Jürgen Osterhammel, Emily S. Rosenberg

 

Verlag Verlag C.H.Beck, 2012

ISBN 9783406641152 , 1152 Seiten

Format PDF, ePUB, OL

Kopierschutz Wasserzeichen

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36,99 EUR

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Zur Einführung

Beginnen sollten wir vielleicht am Fuße der Berge im Süden Montanas, an einem Sommertag vor fast einhundertfünfzig Jahren – was nicht wirklich lange her ist, wenn man bedenkt, dass der Großvater des Verfassers im gleichen Jahr in einer dicht besiedelten Gegend in Mitteleuropa, Tausende von Kilometern weiter östlich, geboren wurde. Die US-Armee hat rund siebenhundert berittene Soldaten gegen ein Stammesbündnis von Lakota-, Arapaho- und Cheyenne-Indianern entsandt, die sich im Jahr zuvor unter der Führung von Häuptling Sitting Bull zusammengeschlossen hatten, nachdem weiße Goldsucher, angelockt durch Berichte über Goldfunde in den Black Hills South Dakotas, in Gebiete geströmt waren, die den Indianern 1868 vertraglich zugestanden worden waren. Im Frühjahr 1876 war es immer wieder zu Zusammenstößen gekommen, und Washington schickte drei Marschkolonnen nach Montana, welche die Indianer attackieren und Richtung Westen zurückdrängen sollten. Am 25. Juni griffen die Soldaten der südlichen Kolonne, die das 7. Kavallerieregiment umfasste, im Tal des Little Bighorn River eine Indianersiedlung an und merkten zu spät, dass sie es mit deutlich mehr Gegnern zu tun hatten, als man ursprünglich angenommen hatte.

Waren diese gefährdeten Soldaten tatsächlich der Überzeugung, dass diese Hügel und Flusstäler dem Land gehörten, dem sie dienten? Und was könnte eine solche Vorstellung bedeuten? Welcher Status war dabei dem Volk der Lakota zugedacht, deren Großeltern ein Dreivierteljahrhundert zuvor die Forscher Meriwether Lewis und William Clark willkommen geheißen hatten, die es nun aber mit einem unablässigen Zustrom von Goldsuchern, Ranchern und Siedlern zu tun hatten? Die amerikanischen Ureinwohner hatten ihre spezielle elementare Beziehung zu diesem Territorium, und dazu zählten das Jagen und das jahreszeitlich bedingte Umherziehen ebenso wie der Ackerbau; das Ganze beruhte auf Gewohnheitsrecht, wurde jedoch von den neuen Siedlern offenkundig nicht anerkannt. Vielleicht begriff keine der beiden Seiten so richtig, warum die jeweils andere ein so riesiges Gebiet für sich beanspruchte. Die Indianer hatten unter Druck viele Abkommen unterzeichnet, von denen sie glaubten, sie würden ihnen ein zwar reduziertes, dafür aber gesichertes Territorium garantieren. Doch sie mussten erleben, wie diese Verträge einseitig abgeändert wurden und ihr Land immer weiter schrumpfte. Zumindest an diesem Tag sollten sie ihren Verfolgern Einhalt gebieten. Als General George A. Custer schließlich merkte, dass er seine Truppen in Gefahr gebracht hatte, teilte er seine Männer im Flusstal in drei Abteilungen auf. Zwei von ihnen konnten sich die Angreifer nach einem verlustreichen Rückzug vom Leibe halten, doch die 210 Mann unter seinem Kommando, die auf die Kuppen der angrenzenden Hügel zurückgedrängt wurden, wurden binnen einer Stunde besiegt. Am Ende des Tages waren sie alle tot, ihrer Ausrüstung und Uniformen beraubt und die meisten von ihnen skalpiert.[1]

Auf lange Sicht jedoch sollten die Sieger dieses Tages die Verlierer sein. Ihr Reservat sollte weiter schrumpfen. Es sollte mehr Kavallerie kommen, die Eisenbahnen sollten neue Siedler bringen, und die Stämme sollten in den folgenden Jahren immer weiter in die unwirtlichen Hochebenen zurückgedrängt werden, bis einer ihrer Häuptlinge schließlich eine Generation später endgültig kapitulierte. Der siegreiche Anführer vom Sommer 1876 wird 1890, als alter Mann, in dem Reservat, das seinem Volk zugewiesen wurde, ermordet werden. Wir wollen noch einmal mit ihnen beginnen, mit denen, die sich überall auf der Welt dem Vordringen des modernen Staates widersetzten, dieses Staates mit seinem Streben nach territorialer Expansion, seiner Nutzung von Dampfkraft und Stahl und seiner hoch entwickelten Regierungsorganisation. Wir wollen denen, die mit diesen Herrschaftsinstrumenten (denn als solche haben sie sie empfunden) konfrontiert waren, eine letzte Chance gewähren, ihre Heimat und ihre Autonomie zu behalten. Das Tableau, das sie bieten, ist von den Romanen, Gemälden und Stichen her vertraut, die im 19. Jahrhundert für Wochenzeitschriften gefertigt wurden, und später, nach der endgültigen Niederlage, bestimmt durch die bewegende Melancholie der Silberhalogenidfotos von «edlen» Kriegern oder tief traurigen Familien, die sich dem erbarmungslosen Druck von Siedlern, Forschern und Soldaten ausgesetzt sahen.

Gesellschaften, die wir salopp als Nomaden oder Stämme zu bezeichnen pflegten – ob nun (um nur ein paar typische Fälle zu nennen) Wüstenbeduinen an den Rändern des Osmanischen Reiches, die Dorfbewohner im Kaukasus oder im Hochland Zentralasiens, die es mit den Verwaltern des Zaren zu tun bekamen, die Indianer in den unfruchtbaren Gegenden Nordamerikas oder die Völker in den Savannen Afrikas –, wurden langsam, aber unausweichlich unterjocht. Ihr langer, schwieriger Rückzug hatte natürlich schon lange vor dem Ende des 19. Jahrhunderts begonnen: als die Europäer auf dem amerikanischen Doppelkontinent landeten, als die Portugiesen und Niederländer von den Küsten im südlichen Afrika aus ins Landesinnere vordrangen, als die Franzosen und Briten um die Kontrolle der Großen Seen in Nordamerika wetteiferten oder die Dynastien der Qing und der Romanows die Gebiete Xinjiangs und der Mongolei nacheinander ihrer jeweiligen imperialen Herrschaft unterwarfen. Im 20. Jahrhundert bestanden ihre Territorien weiter als dezimierte Einheiten, als offiziell legalisierte oder de facto bestehende Stammesgebiete, mitunter auch als subsidiäre Staaten innerhalb der Großreiche, aber ihre früheren Stammesbünde und die internationale Rolle, die sie einst gespielt hatten, waren nur noch Erinnerung – sie fanden bei späteren Anthropologen keine Beachtung, die ihre lokalen Bräuche und Familienstrukturen, nicht aber ihre Politik untersuchten, oder wurden von den Historikern ignoriert, die sich dank der üppigen Ressourcen der siegreichen Staaten auf die Erfolgsgeschichten ihrer Nationen konzentrierten.

Nur ganz gelegentlich konnten die indigenen Verteidiger dieser ausgedehnten Gebiete der Dampfwalze der «Zivilisation» Einhalt gebieten. Und genau das geschah am 25. Juni 1876 am Little Bighorn. Ebenso drei Jahre später, als Zulukrieger in der Schlacht von Isandlwana ein Truppenlager der Briten zerstörten. Im Jahr 1893 griffen Stämme aus dem Rif-Gebirge, die theoretisch Untertanen des Königs von Marokko waren, spanische Truppen in Melilla an und besiegten sie. Doch diese spektakulären Siege im letzten Viertel des ausgehenden Jahrhunderts festigten nur die Vorstellung vom Wilden, den es zu unterwerfen galt, und änderten nichts am Endergebnis. Es waren tatsächlich die letzten Gefechte der Stämme und Nomaden. Auch die Äthiopier schlugen italienische Einheiten 1887 bei Dogali vernichtend und dann noch einmal weitaus verheerender 1896 in der Schlacht von Adua. Doch Äthiopien war keine wirkliche Stammesregion, sondern eines der ältesten Königreiche der Welt.

Die geläufige Bezeichnung «Stämme» erfasst die politische Existenz all dieser regionalen Völker ohnehin nur unzureichend, denn auch sie verfügten über Staaten oder zumindest Quasi-Staaten.[2] Als Stämme gelten Gemeinschaften, die ihre Organisationsform auf die Abstammung von frühen Begründern oder Anführern zurückführen; diesen Anspruch erhoben theoretisch aber auch die osmanischen Türken sowie die Qing-Dynastie, die in China seit 1644 herrschte. Stämme waren jedoch auch politische Einheiten, die mitunter in konföderativen Versammlungen über Krieg und Frieden entschieden, allerdings üblicherweise nicht über die Bevölkerungsdichte und die differenzierte Verwaltungsstruktur verfügten, wie sie für die europäischen Staaten typisch waren.

Die Spanier hatten im 16. Jahrhundert in Zentralmexiko und Peru zwei komplex organisierte Stammesimperien erobert. Die amerikanische Republik unterzeichnete in ihren Anfängen wiederholt Verträge (die sie dann oft einseitig wieder revidierte) mit den Indianervölkern Nordamerikas, in denen sie ein gewisses Maß an tribaler Staatlichkeit, darunter die Kontrolle über ein bestimmtes Territorium, ebenso anerkannte wie gewisse Grade der Eingliederung in die internationalen Grenzen der nordamerikanischen Republik. Die Creek und die Seminolen sowie die Cherokee, die Irokesen, die Komantschen, die Sioux und die Apachen bewohnten riesige Gebiete, mitunter allein, mitunter in symbiotischer Nutzung zusammen mit rivalisierenden Völkern. Unter ihrem charismatischen und rücksichtslosen Anführer Shaka hatten die Zulu im 19. Jahrhundert einen robusten Staat geschaffen, der mit den benachbarten Burenrepubliken und britischen Eindringlingen verhandelte. Einige Stämme hielten es für vorteilhaft, einmal im Jahr oder zumindest in regelmäßigen Abständen ihren Wohnsitz zu wechseln, ob nun zu Jagdzwecken wie in den Great Plains oder auf der Suche nach unterschiedlichen Höhenlagen und damit geeigneten klimatischen Bedingungen für die Viehzucht. In den Steppen Russlands spürten Dutzende von Stammesbünden und Hunderte von Untereinheiten lediglich die zarten, fernen Ansprüche einer russischen Macht, die Tausende Kilometer weit entfernt war, nicht...