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Vergangenheitsschuld - Beiträge zu einem deutschen Thema

Bernhard Schlink

 

Verlag Diogenes, 2013

ISBN 9783257603903 , 192 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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17,99 EUR


 

[34] Rechtsstaat und revolutionäre Gerechtigkeit

I.

Kein Land hat für die Bewältigung seiner kommunistischen Vergangenheit so auf das Strafrecht gesetzt wie Deutschland. Die politische Forderung nach strafrechtlicher Abrechnung mit seinerzeit zur Stützung des Systems begangenem Mord, Folter, Freiheitsberaubung und Rechtsbeugung begegnet uns zwar in allen ehemals kommunistischen Ländern. Aber sie wird oft nur leise und nie so laut wie in Deutschland erhoben. Sie hat, besonders in Ungarn, Polen und Tschechien, dazu geführt, daß Staatsanwaltschaften Ermittlungen aufgenommen haben. Aber über einschlägige Verurteilungen war bis auf die Verurteilung des ehemaligen tschechoslowakischen Innenministers Frantisek Kincl nichts zu lesen. Ein ungarisches Gesetz vom November 1991, das ähnlich dem deutschen Gesetz über das Ruhen der Verjährung bei SED-Unrechtstaten vom April 1993 die Verfolgung systemstützender Straftaten dadurch fördern wollte, daß es ihre Verjährung erst 1990 beginnen ließ, wurde vom ungarischen Verfassungsgericht für verfassungswidrig erklärt, und ein ähnliches polnisches Gesetz von 1991 hat vor dem polnischen Verfassungsgericht zwar bestanden, aber nur zu wenigen Anklagen und noch weniger Verurteilungen geführt. In Rumänien wurde das Ehepaar Ceaus¸escu [35] erschossen und der Sohn eingesperrt wie auch in Albanien die Witwe Hodscha und in Bulgarien Todor Shiwkow, Georgi Atanassow und Rumen Owtscharow. Eine weitergehende Verfolgung systemstützender Straftaten wird hier wie auch in Rußland und in Staaten des ehemaligen Jugoslawien entweder überhaupt nicht gewollt oder angesichts der drängenden Probleme des Tages nicht für hinreichend wichtig gehalten.

Warum zeigt gerade Deutschland einen derartigen strafrechtlichen Eifer? Was unterscheidet Deutschland von den anderen Ländern mit kommunistischer Vergangenheit? Ist es der Umstand, daß Deutschland über die erforderliche strafrechtliche und -gerichtliche Infrastruktur verfügt, die in den anderen Ländern mit kommunistischer Vergangenheit erst geschaffen wird? Aber dieser Umstand könnte allenfalls Schwierigkeiten bei der Durchführung der strafrechtlichen Bewältigung der kommunistischen Vergangenheit erklären, nicht jedoch die Unwilligkeit oder Zurückhaltung, die strafrechtliche Bewältigung auch nur in Angriff zu nehmen. Hat der Unterschied seine Ursache in einem Bedürfnis der deutschen Justiz, bei der strafrechtlichen Bewältigung kommunistischen Unrechts zu leisten, was bei der strafrechtlichen Bewältigung nationalsozialistischen Unrechts versäumt wurde? Aber was für ein seltsames Bedürfnis wäre dies und was für eine seltsame Vorstellung, man könne verschiedene historische Kontexte gewissermaßen miteinander verrechnen. Ist der Umstand entscheidend, daß es in Deutschland in anderer Weise Sieger und Besiegte gibt als in den anderen Ländern? Daß der kalte Krieg in Deutschland ein kalter Bürgerkrieg war, daß es [36] jetzt eine siegreiche und eine besiegte deutsche Bürgerkriegspartei gibt und daß Bürgerkriege, wie mit besonderer Erbitterung geführt, so auch mit besonderem Abrechnungs- und Vergeltungseifer beendet werden? Der Vorwurf der Siegerjustiz, in der politischen Auseinandersetzung immer wieder erhoben, meint ebendies. Er kann darauf hinweisen, daß nur da, wo es wie in Deutschland eine siegreiche und eine besiegte Bürgerkriegspartei oder einen übernehmenden und einen übernommenen Landesteil gibt, der Übernehmende seine Elite an die Stelle der Elite des Übernommenen setzen und diesen Elitenaustausch strafrechtlich begleiten und legitimieren kann. Wo, wie in den anderen Ländern mit kommunistischer Vergangenheit, die alten Eliten weithin auch die neuen sind und mangels anderer Kandidaten auch sein müssen – wer sollte da mit wem strafrechtlich abrechnen?

Die historischen Erfahrungen mit Bürgerkriegen, Wiedervereinigungen, Reunifications und Reconstructions sind freilich keineswegs stets Abrechnungs- und Vergeltungserfahrungen. Der amerikanische Sezessionskrieg, erbittert um Teilung oder Einheit des Staats und die Gestalt der amerikanischen Gesellschaft geführt, endete in Versöhnung. Solange er dauerte, wurde im Norden der Prozeß gefordert für die Offiziere, Beamten und Politiker des Südens, die ehedem den Eid auf die Union geleistet hatten, für Spione und für die, die Sklaven mißhandelt und Freunde der Union verfolgt hatten. Als der Sezessionskrieg vorbei war, gab es einen einzigen Prozeß; er galt dem Kommandanten eines Südstaatenlagers wegen seiner Behandlung kriegsgefangener Nordstaatensoldaten. Gegen [37] Jefferson Davis, den Präsidenten der Konföderation, wurde ermittelt, aber nie verhandelt, und auch die Ermittlungen wurden nicht wegen seiner Rolle als Präsident der Konföderation, sondern wegen des Verdachts seiner Beteiligung an der Ermordung von Abraham Lincoln geführt. Nicht einmal der während des Sezessionskriegs im Norden geforderte und geplante Ausschluß von Südstaatenoffizieren, -beamten und -politikern von öffentlichen Ämtern wurde über das erste Friedensjahr hinaus durchgehalten.

Einen Grund hatte diese Politik der Versöhnung und des Verzichts auf strafrechtliche Abrechnung im Wunsch von Präsident Andrew Johnson, sich der Wähler aus dem Süden zu versichern. In der politischen und gesellschaftlichen Diskussion um die richtige Art der Reconstruction werden aber zwei weitere, tiefere Gründe sichtbar. Zum einen meinte man, dem Süden, mit dem man wie mit einem anderen Staat Krieg geführt hatte, mit dem man Gefangene ausgetauscht, Emissäre gewechselt und Verhandlungen gepflogen hatte, nicht nachträglich die Integrität seiner Staats- und Rechtsordnung absprechen zu können. Zum anderen erschien im Norden eine moralische Abrechnung mit dem Süden, wie sie der strafrechtlichen Abrechnung innegewohnt hätte, unangemessen, jedenfalls problematisch. Zwar war es, worum auch immer es politisch und ökonomisch im Sezessionskrieg gegangen war, moralisch um die Abschaffung der Sklaverei und die Emanzipation der Schwarzen gegangen und wurde der Sieg des Nordens über den Süden insofern als moralischer Sieg empfunden. Aber die Institution der Sklaverei war lange vom Norden mitgetragen, in einigen Nordstaaten überhaupt durch den [38] Sezessionskrieg hindurch aufrechterhalten worden. Es gab ein Gefühl gemeinsamer moralischer Verstrickungen, zu dem Abrechnung und Vergeltung schlecht gepaßt hätten.

Nein, Abrechnung und Vergeltung können auf einen Bürgerkrieg folgen, folgen auf ihn aber nicht notwendig. Sie können um gemeinsamer moralischer Verstrickung willen unterbleiben und auch aus gemeinsamer Erschöpfung oder aus dem gemeinsamen Wunsch nach Neubeginn und Wiederaufbau. Allerdings kann das Bedürfnis nach Gemeinsamkeit Abrechnung und Vergeltung auch befördern. Die Abrechnung mit einigen wenigen Schuldigen konstituiert die Gemeinschaft der vielen Unschuldigen. Die Verurteilung der Auswüchse eines Systems als spektakuläre Exzesse einzelner bedeutet die Exkulpation all derer, die das System auf weniger spektakuläre Weise gestützt haben. So können auch schlimme Abschnitte der Geschichte in das individuelle und kollektive geschichtliche Bewußtsein integriert werden: als doch nicht so schlimm, wenn man von individuellen Exzessen absieht.

II.

Die Frage, wo zwischen Siegerjustiz und Besiegtenexkulpation der besondere deutsche Eifer bei der strafrechtlichen Bewältigung der kommunistischen Vergangenheit seinen Grund hat, beantwortet sich, so meine ich, wenn die juristischen Argumente in den Blick genommen werden, deren die strafrechtliche Bewältigung sich bedient. Sie bedient sich nicht nur strafrechtlicher Argumente. Sie bedarf [39] verfassungsrechtlicher, rechtsphilosophischer und rechtsmethodologischer Argumente und eines spezifischen Begriffs des Rechts. Sie bedarf dessen, weil sie sich am rechtsstaatlichen Rückwirkungsverbot bricht.

Die rechtliche Ausgangslage ist einfach. Nach Art. 103 Abs. GG kann eine Tat nur bestraft werden, wenn ihre Strafbarkeit vor ihrer Begehung gesetzlich bestimmt war. Die gesetzliche Bestimmung der Strafbarkeit schließt die Festlegung des Tatbestands und der Rechtfertigungsgründe ein; nur tatbestandsmäßiges und nicht gerechtfertigtes Handeln ist strafbar. Der Todesschuß an der Mauer, der, als er abgegeben wurde, zwar den Tatbestand eines Tötungsdelikts erfüllte, aber durch einen Rechtfertigungsgrund gedeckt war, kann somit nicht bestraft werden. Einen Rechtfertigungsgrund bot das Grenzgesetz der DDR; nach dessen § 27 Abs. 2 war die Anwendung der Schußwaffe gerechtfertigt, um schwere Fälle des ungesetzlichen Grenzübertritts zu verhindern, z. B. den ungesetzlichen Grenzübertritt mit gefährlichen Mitteln oder in Gemeinschaft mit anderen, und nach § 27 Abs. 5 war dabei das Leben nur nach Möglichkeit zu schonen, also nicht in jedem Fall. Tatsächlich wurde, wer die Schußwaffe entsprechend angewandt hatte, nicht nur nicht bestraft, sondern belobigt und prämiert.

Die strafrechtliche Rechtsprechung, vom LG Berlin bis zum BGH, sieht sich an der Bestrafung von Todesschüssen an der Mauer gleichwohl nicht gehindert. Sie stützt sich, entweder alternativ oder kumulativ, auf zwei Argumente. Nach dem einen Argument soll »ein zur Tatzeit angenommener Rechtfertigungsgrund dann wegen Verstoßes gegen höherrangiges Recht unbeachtet bleiben, wenn in ihm ein [40] offensichtlich grober Verstoß gegen Grundgedanken der Gerechtigkeit...