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Liebe, Schmerz und das ganze verdammte Zeug - Vier Geschichten

Doris Dörrie

 

Verlag Diogenes, 2013

ISBN 9783257603842 , 176 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

Geräte

9,99 EUR


 

[9] Nach Armins Tod hatte Anna sofort alle elektrischen Geräte im Haus verschenkt oder verkauft und die Steckkontakte entfernen lassen. Außer für einige Hängelampen an der Decke floß im ganzen Haus kein Strom mehr, und so sehr Anna auch den Fernseher, das Tonband, den Schallplattenspieler oder einen Fön manchmal vermißte, so war es ihr doch auf jeden Fall lieber, sich nicht von Elektrizität umgeben zu fühlen und um Jans Sicherheit zittern zu müssen. Sie traute es sich einfach nicht länger zu, mit Strom umzugehen; fast fürchtete sie seine Rache… aber das war albern.

Mit vier Jahren hatte Jan einmal einen leichten elektrischen Schlag bekommen, als er Annas flauschigen Pullover berührte. Es gab einen kleinen Funken, und Jan brach vor Schreck in Tränen aus. Anna nahm ihn auf den Arm, trug ihn in ihr Zimmer und legte ihn aufs Bett. Jan schluchzte laut, zitterte und klammerte sich an sie, und Anna wußte, er stellte sich nicht an, er war zu Recht in Panik. Sie spürte Armin und die Vergangenheit im Rücken und drehte sich mutig und trotzig um, ging zum Schrank und zerrte den Schuhkarton mit ihren alten Fotos heraus.

Jans Schluchzen brach ab, er liebte Bilder über alles, griff sofort nach seinem Lieblingsfoto und betrachtete es aufmerksam, als wolle er überprüfen, ob darauf noch alles beim alten war: Anna mit dem glänzenden Saxophon nach ihrem ersten Konzert. Gerade 16, mit [10] schweißnassen Haaren, häßlich, glücklich. Im Hintergrund der Schlagzeuger. Jetzt fiel ihr noch nicht einmal mehr sein Name ein. Sehr sanft war er gewesen, und auf dem Bauch hatte er ein kleines Büschel sehr langer, schwarzer Haare. Wie Gras. Anna lächelte vor sich hin, und Jan grinste verständnislos zurück, die Tränen waren vergessen. Er kramte in dem Karton. Anna und Thomas in einem Fischerboot in Griechenland. Sie blickten mit gleichgültigen Mienen in entgegengesetzte Richtungen. Ein alberner Mensch mit übertriebenen Bewegungen, der ihr in dem halben Jahr, in dem sie zusammen waren, jeden Tag gesagt hatte, er liebe sie über alles. Anna nahm Jan das Foto aus der Hand. Armin vor dem kleinen roten Fiat, den er ihr zu ihrem 21. Geburtstag geschenkt hatte und den sie jetzt noch fuhr.

»War Papi sehr stark?«

»Nein, mein Schatz – das war er nicht. Aber sehr nett.«

»Was heißt nett?«

»Naja, er war sehr lieb zu mir.«

»Wart ihr Verliebte?« Jan kicherte aufgeregt.

»Nein«, sagte Anna sanft, »das waren wir nicht.«

Jan zuckte mit den Achseln und mischte das Foto wieder unter die anderen. Ihre Mutter Angelika und sie in ihrer Studentenbude in München. Anna hatte die Kamera auf Armeslänge weggehalten, ihre Mutter in den Arm genommen und auf den Auslöser gedrückt. [11] Von ihrem eigenen Gesicht war nur noch die Hälfte zu sehen, und diese Hälfte verriet nichts über den Ausdruck, den sie gehabt hatte. Abschiedsfoto. Sie hatte gar nicht von zu Hause weggewollt. Angelika lächelte in die Kamera. Hatte meine Mutter nach 19 Jahren genug von mir? Angelikas Enttäuschung, als Anna die Aufnahmeprüfung an der Musikhochschule nicht bestand. Auf jeden Fall studieren. Dann also in München, so weit weg von zu Hause. Sie haßte die nahen Berge. Das Zimmer war winzig und teuer und lag unter dem Dach. Unkraut in der Regenrinne vorm Fenster. Wasserflecken an der Decke. Tagsüber dunkel, abends recht gemütlich. Die Gasheizung war viel zu groß für den kleinen Raum und ließ sich nicht regulieren. Alle Viertelstunde mußte Anna sie ausmachen und das Fenster öffnen. The American Forces Network im Radio. Gebrabbel gegen die Stille.

Die Uni unterschied sich enttäuschend wenig vom gewohnten Schulalltag. Die Kommilitonen langweilten sie mit ihrer Ernsthaftigkeit. Abends ging sie allein ins Kino oder in eine Kneipe. Der verrückte Amerikaner, der mit seinem Bierglas neben dem Eingang stand und vor sich hin grinste. Sie wußte sofort, daß er Amerikaner war, weil er diese derben Wanderstiefel und eine blaue Daunenweste trug. »Hast du Hunger?« hatte sie ihn gefragt. »Ich gehe jetzt nach Hause und koche mir ein paar Spaghetti.« Wie blöd – aber er hatte tatsächlich Hunger. Schweigend und gutgelaunt gingen sie [12] zusammen über die Leopoldstraße. Er war mindestens 35, hatte lange graue Haare.

Auf der kleinen Elektroplatte kochte sie Spaghetti mit Butter, die er lobte. Er mochte auch Randy Newman. Als sie im Dunkeln im Bett lagen, grinste Anna, den Kopf an seiner Schulter: Sie hatte einen Mann regelrecht »aufgerissen«, er war nett – und eingeschlafen, noch bevor sie sich ausgezogen hatte.

Sie sah ihn nur noch einmal wieder, als sie morgens zur Vorlesung wollte und auf der Treppe im dritten Stock fast über ihn gestolpert wäre. Er schlief dort seinen Rausch aus; hatte es in der Nacht nicht mehr bis in den fünften Stock geschafft. Anna ließ ihre Vorlesung sausen und briet ihm Eier.

Er liebte ein deutsches Mannequin und las alles von Henry Miller, während er darauf wartete, von ihr erhört zu werden.

»Mami, warum hast du auf diesem Foto mit Papi blaue Haare?«

»Komm, Jan. Jetzt laß mich mal für fünf Minuten die Augen zumachen. Ich habe ein bißchen Kopfschmerzen.«

Jan tatschte ihr mit seiner kleinen heißen Hand auf die Stirn. Anna lächelte mit geschlossenen Augen.

[13] Die Arbeiten, die sie damals für Seminare hatte schreiben müssen, hatten sie gequält. Stundenlang hockte sie in ihrem Zimmer vor den Büchern. Es interessierte sie nicht. Sie trank in kleinen Schlucken Cinzano, bis sich ihre Gedanken verwirrten. Schlaf. Oft bis spät abends. Bunte, angenehme Träume, nichts Aufregendes, aber Grund genug, sich gegen das Aufwachen zu wehren. Mit geschlossenen Augen lag sie dann da und wartete darauf, wieder in den Schlaf abzugleiten.

»Mach dir für jeden Tag einen Plan«, ein Rat ihrer Mutter. Wie beschämend für die Menschheit, die eigene Sinnlosigkeit durch einen genauen Tagesplan zu übertünchen.

Ihr alter Lateinlehrer immer wieder: »Anna, Sie sind ein Windhund.« Sie bekam die Stadt nicht in den Griff, verlief sich in der Altstadt, stieg in die falschen Straßenbahnen und Busse. Die zielstrebigen Gesichter um sie herum ließen sie fahrig und ungeschickt werden. Sie trat anderen auf die Füße, verlor einmal den Halt und stützte sich auf dem Kopf eines Sitzenden ab. Erschrocken stieg sie sofort aus. Als wären ihre Gleichgewichtsorgane defekt gewesen. Zuviel Schlaf. Wie eine Krankheit ohne Schmerzen. Oder war sie nur durch und durch träge gewesen? Unangenehmer Gedanke.

[14] Entschlüsse faßte sie nur selten, und wenn, dann kamen sie von weit her über Nacht. Eines Morgens war sie klar und unverquollen aufgewacht und hatte gewußt: Heute lasse ich mir die Haare blau färben.

Es tat ihr gut zu sehen, wie selbst die modebewußten britischen Friseure in der Elisabethstraße von ihrem Vorhaben beeindruckt waren und sich nicht so recht trauten. Lächelnd wartete sie darauf, an die Reihe zu kommen, und blätterte mit leiser Verachtung in einer Frauenzeitschrift. Als dann die stinkende chemische Substanz in ihren Haaren wirkte und noch nicht abzusehen war, wie blau sie wohl werden würden, genoß Anna das heiße, aufregende Gefühl von leichter Elektrizität in ihrem Körper, das sie so sehr mochte, aber das sich nur bei seltenen Gelegenheiten einstellte. Die Trockenhaube wurde abgestellt und zur Seite geschwenkt. Ultramarinblau. Anna strahlte. So wie ein billiger Nylonpullover aus der Grabbelkiste eines Kaufhauses.

Es störte sie nicht, daß auf der Straße und im Hörsaal alle auf sie starrten und über sie flüsterten. Sie hatte sich immer anders als die meisten empfunden, nicht besser, nur anders; und die blauen Haare ließen diese ohnehin vorhandene Empfindung nun in ihrem Kopf zu einem Bild werden: Ein Schwarzweiß-Foto mit einem einzigen Farbklecks – Anna Blume. Eine einsame Existenz, das ahnte sie schon seit langem. Es strengte sie über die [15] Maßen an, sich mit anderen länger zu unterhalten. Vor Langeweile wurde ihr fast schwindlig, dabei redete sie gern, war sich jedoch nie sicher, ob die Weise, in der sie die Wörter gebrauchte, mit der üblichen Gebrauchsform übereinstimmte. Es lag ihr nicht unbedingt daran, verstanden zu werden. Aber anders als im Schlaf ließ sie der Zustand des Wachseins etwas vermissen, was sie nicht benennen konnte.

In den letzten sonnigen Herbsttagen nahm sie das Saxophon mit in den Englischen Garten. Sie freute sich über den weiten Klang. Ein Mann Mitte dreißig in einem schweren teuren Mantel, der ihm eine ganz rechteckige Statur gab, blieb stehen und hörte lange zu. Sie erinnerte sich ganz deutlich daran, daß sie unbewußt einen Schritt zurückgetreten war, um den Abstand zwischen sich und diesem Mann zu vergrößern. Sie spielte nicht für Geld, aber der Mann nahm seine Zeitung, breitete sie vor ihr aus und legte einen Zwanzigmarkschein darauf, den er mit einem kleinen Stein beschwerte. Sein großes Gesicht war gerötet. Sehr ernste helle Augen. Anna sah ihn unterm Spielen an. Er nahm seinen Blick nicht weg, und so wie er da stand und sie ruhig betrachtete, versetzte er Anna in Unruhe. Sie wandte sich ab. Warum ging er nicht endlich weiter? Ihre Hände fingen an, kalt zu schwitzen. Als sie sich umdrehte, war er weg, und sie spielte wieder besser.

[16] Gladiolen. Wie kitschig. Und gleich ein ganzes Dutzend. Sie lagen vor ihrer Tür, als sie spätnachts aufs Klo ging. Und eine weiße Karte mit gespreizter Handschrift: »Ich würde Sie gern morgen abend um 20.30 Uhr zum Essen in das Restaurant ›Die Wolke‹ einladen.« Keine...