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Die Frühreifen

Philippe Djian

 

Verlag Diogenes, 2013

ISBN 9783257604276 , 400 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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10,99 EUR


 

[5] Acht Monate nach dem Tod seiner Schwester wachte Evy noch immer ganz plötzlich vor Tagesanbruch auf. Es war nicht mehr nötig, an seine Tür zu klopfen, laut zu reden oder die Vorhänge aufzuziehen, um ihn zum Aufstehen zu bewegen.

Am frühen Morgen rührte sich bei den Trendels so gut wie nichts mehr. Während er sich im Halbdunkel anzog, blieb im Haus jetzt alles still.

Das wenigstens schätzte er. Diese Ruhe, diese morgendliche Einsamkeit, die an Perfektion grenzte, wenn er in die leere Küche kam und eine große Schale schwarzen Kaffee trank, ohne etwas zu essen – jetzt hatte er niemanden mehr auf der Pelle.

Seit Lisas Tod hatte sich ziemlich viel verändert.

Seine Mutter bemühte sich nicht mehr, zum Frühstück nach unten zu kommen. Die Aussicht, am Vormittag ihren Weg zu kreuzen, war gering. Ab und zu begegnete Evy noch seinem Vater in der Küche, doch dann wurde die Atmosphäre sehr schnell bedrückend.

Am besten verließ man das Haus so schnell wie möglich.

In der näheren Umgebung gab es zahlreiche Seen, und auf dem Grund eines dieser Seen hatte man Lisa an einem [6] schönen eisigen Februartag gefunden, während die Sonne auf den Gummianzügen der Froschmänner glitzerte und sich rings um ihr Schlauchboot spiegelte wie ein glühender Strom aus Weißgold, der nichts Gutes verhieß.

Die Polizei hatte versucht, der Familie diesen Anblick zu ersparen, doch Richard Trendel und sein Sohn blieben unverwandt am Ufer stehen, die Füße fast im Wasser, das Haar von jähen Windstößen zerzaust. Laure hatte nicht die Kraft gehabt, aus dem Auto zu steigen.

Seit jenem Tag frühstückte Evy allein. Da die Küche nach Osten ging, sah er oft, wie die ersten Sonnenstrahlen auf dem Nadelkleid der Fichten, die die Straße säumten, funkelten oder im Swimmingpool der Nachbarn glitzerten, und Evy dachte, daß es besser so war, daß es die beste Lösung war.

Den Mädchen aus seiner Klasse gefiel er, und sie blickten ihm manchmal mit begierigen Lippen tief in die Augen, aber der Zweifel, der Lisas Tod umhüllte, dämpfte ihre Unternehmungslust ein wenig und ließ sie nicht ganz so kühn vorgehen wie gewöhnlich. Ich beobachtete das alles mit großem Interesse.

Niemand behauptete, Evy habe seine Schwester umgebracht. Lisas Leiche trug keine Spuren von Gewalt, und man hatte sie nicht nackt gefunden, wie manche zartfühlenden Seelen geflüstert hatten, aber niemand war Zeuge der Tat gewesen, niemand konnte bekräftigen, was Evy sagte – genausowenig wie ich zu jenem Zeitpunkt. Alle nahmen es ihm ein bißchen übel, daß sie gezwungen waren, ihm aufs Wort zu glauben, aber was blieb ihnen schon anderes übrig?

[7] Es war ein Unfall. Ein unglücklicher Sturz in eisiges Wasser. Mehr hatte er nie darüber verlauten lassen und hatte stets auf dieser Version beharrt. Er fragte, was für Einzelheiten sie denn wissen wollten, sprach von einer falschen Bewegung, vom Verlust des Gleichgewichts, von einem tragischen Sturz über Bord, mehr sagte er dazu nicht und sah nicht recht, was er dem hinzufügen solle. Selbst auf die Gefahr hin, für leicht schwachsinnig gehalten zu werden.

Eines Abends geriet seine Mutter über sein hartnäckiges Schweigen so in Rage, daß sie aufloderte wie ein mit purem Whisky begossenes Pulverfaß. Sie packte ihn, schüttelte ihn wie besessen und betäubte ihn mit ihren Schreien, wobei sie ihn reichlich mit Speichel und Tränen besprühte, sie hatte gehofft, mehr aus ihm herauszubringen, aber sie erhielt keinerlei weitere Informationen. Evy hatte nicht versucht, den Schlägen auszuweichen, die seine Mutter auf ihn einhageln ließ, sie erreichte nichts damit.

Schließlich griff Richard ein. Er hielt seine Frau zurück und bemühte sich, eine Weile den Blick seines Sohnes zu ergründen. Er wollte es mit einer anderen Methode versuchen und fuhr mit Evy an einem friedlichen Nachmittag ans Seeufer. »Weißt du, daß uns das guttun würde, deiner Mutter und mir?« sagte er zu ihm.

Richard ließ die Hände auf dem Steuer liegen, und Evy klemmte seine Finger in die Achselhöhlen, sie beobachteten gut zehn Minuten lang einen Bussard, der langsam über den Wäldern kreiste, und danach machte Richard abrupt kehrt.

Um noch einmal auf die Mädchen zurückzukommen, sie waren nicht alle der Ansicht, daß Lisas Tod ein unersetzbarer Verlust war.

[8] Als sich Richard und Laure gegen Mitte der achtziger Jahre in dieser Gegend niederließen, hatten sie noch keine Kinder, und die Welt lag ihnen praktisch zu Füßen. Laure tat sich Schlag auf Schlag in zwei aufsehenerregenden Rollen hervor, so daß sie von jenem Augenblick an zu den zwei oder drei besten Schauspielerinnen ihrer Generation zählte – ihre verblüffende Verkörperung der tyrannischen Schwester im letzten Film von Raúl Ruiz brachte ihr einen Anruf von Martin Scorsese ein. Und Richard schrieb regelmäßig Romane. Für das Buch, an dem er zu jener Zeit gerade arbeitete, hatte er den Gegenwert von siebenhundertfünfzigtausend Euro erhalten.

Aber all das lag lange zurück. Richard hatte in der Zwischenzeit Drogenprobleme gehabt – mit Heroin sowie mit gewissen Cocktails –, und Laure, die überzeugt war, daß ihr Erfolg in Form einer steil ansteigenden Kurve verlaufen würde, hatte es an Wachsamkeit und Urteilsvermögen fehlen lassen.

Das Wohnzimmer war mit einer großen Auswahl an Erinnerungsstücken aus rosigen Zeiten geschmückt. Wenn Evy die Fotos seiner Mutter betrachtete – deren hinreißendes Lächeln eine ganze Wand bedeckte – oder die verschiedenen Auszeichnungen, die Richard bekommen hatte, wie etwa den in Japan errungenen, heiß begehrten Preis, fragte er sich, warum sich seine Eltern so quälten.

Das Haus lag auf einer Anhöhe außerhalb der Stadt, und die säuselnde Vegetation umhüllte es in der erstaunlich lang andauernden, schwermütigen Oktoberhitze mit ihrem Moschusduft. Der Himmel blieb von morgens bis abends strahlend blau. Nachts, beim Sirren der Insekten, ging Laure auf [9] ihren Balkon, um Luft zu schnappen – und nicht um die Landschaft zu bewundern, die sie seit dem Tod ihrer Tochter zutiefst haßte. Evy hörte, wie sie stöhnte oder wie sie Judith Beverini, von der sie sich kurz zuvor verabschiedet hatte, ihr Leben erzählte.

Judith Beverini war so ziemlich die einzige, die Laure noch blieb, eine der wenigen, die sie in ihrem langsamen und unaufhaltsamen Abstieg nicht im Stich gelassen hatten – in den letzten zwölf Monaten hatte Laure in einer Fernsehserie mitgespielt, der Rest war nicht einmal erwähnenswert. Judith gehörte zu jenen, die Evy für schuldig hielten. Sie wußte zwar nicht recht, was man ihm vorwerfen konnte, aber für sie war er auf die eine oder andere Weise schuldig – den Grund dafür konnte sie nicht angeben.

Das war im übrigen die allgemeine Ansicht, was Evy anging, man begegnete ihm mit einer Mischung aus Mitleid und Vorwürfen, gegen die er sich nicht wehren konnte. Wenn er morgens an Judiths Haus vorbeiging, spuckte er auf ihre Türschwelle, und Andreas spuckte ebenfalls.

Etliche Manager und Führungskräfte hätten ohne zu zögern Vater und Mutter die Gurgel durchgeschnitten, um hier auf diesem Hügel wohnen zu können – in diesem grünen Paradies mit unzähligen Schattierungen, unzähligen Baumarten, schicken Privatwegen, hochgeschätzten abendlichen Empfängen und improvisierten Festen, auf denen man Schauspielerinnen, Produzenten, Schriftstellern, Filmregisseuren, Tänzern, Musikern, Theaterbesitzern, Modeschöpfern und dergleichen mehr begegnete –, aber das würde ihnen natürlich nie gelingen.

Andreas’ Großvater hatte den Grundstein zu dieser [10] Künstlerkolonie gelegt, die sich zu Beginn der fünfziger Jahre entfaltet hatte. Nachdem er in Deutschland ein Vermögen erworben hatte, kaufte er den ganzen Hügel auf, während sich die Vororte immer weiter ausbreiteten und deren Bewohner begehrlich auf die sonnigen, leider nicht zur Bebauung freigegebenen Anhöhen schielten – doch sein Vorfahr verfügte über enorme Mittel, hatte während des Krieges viel Geld in der Schweiz angelegt und konnte daher mit ein wenig Unverfrorenheit die Probleme lösen. Doch dann begann seine Frau unter der Einsamkeit und der für jemanden wie sie, die jahrelang in Paris gelebt und so viele Berühmtheiten in ihrem Haus bewirtet hatte, furchtbar beschränkten provinziellen Gesinnung zu leiden, so daß er den Hügel in Parzellen aufteilte und diese als Bauland verkaufte, jedoch nicht an irgendwelche x-beliebigen Leute, selbst heute noch nahmen die Miteigentümer jeden Neuankömmling in ihrem Kreis unter die Lupe – eine Praxis, die zwar skandalös war, es aber erlaubte, den Charakter der Gegend zu bewahren und gute nachbarschaftliche Beziehungen aufrechtzuerhalten.

Richard und Laure waren wenigstens klug genug gewesen, ihr Geld in den Kauf eines Hauses zu investieren, ehe ihr langsamer, unaufhaltsamer kläglicher Abstieg begann, der nach der Geburt ihrer Kinder einsetzte. Manchmal wußten sie es zu schätzen, daß sie keine Miete zu zahlen brauchten, sonst hätte Richard einen Artikel schreiben müssen, wozu er nicht die geringste Lust hatte – zu manchen Zeiten hing er mehrmals täglich an der Nadel, und das Geld schwand kofferweise –, ganz zu schweigen von einem Drehbuch oder einem Roman, einer Aufgabe, für die er nicht [11] mehr das nötige Durchhaltevermögen besaß. Noch heute sträubten sie sich, ihr Talent zu vergeuden und sich für Geld zu kompromittieren, aber sie machten nicht mehr so ein großes Getue darum, sprachen nicht mehr darüber und nahmen diese Demütigungen als notwendiges...