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Venedig kann sehr kalt sein

Patricia Highsmith, Paul Ingendaay

 

Verlag Diogenes, 2013

ISBN 9783257603989 , 368 Seiten

4. Auflage

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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10,99 EUR


 

[9] 1

Coleman sagte: »Sie war mein einziges Kind. Aber nicht Ihre einzige Frau. Nur Ihre letzte.«

Ray schwieg. Was für eine Antwort erwartete Coleman darauf? Dachten denn andere schon zehn Tage nach dem Tod ihrer Frau daran, wieder zu heiraten? Brachten sie überhaupt die Kraft auf, bei solch einer Bemerkung wütend zu werden? Ray ging mit gesenktem Kopf, die Hände tief in den Manteltaschen vergraben. Er zitterte. Die schneidende Kälte des kommenden Winters lag in der römischen Nachtluft. Die Straße, durch die sie gingen, war dunkel. Ray hob den Kopf, suchte ein Straßenschild, fand aber keines. »Sie wissen den Weg?« fragte er Coleman.

»Da unten sind sicher Taxis«, sagte Coleman und wies mit dem Kopf nach vorne.

Der Gehweg führte abwärts. Ihre Schritte klangen heller, denn die Schuhe rutschten ein bißchen: schripp, schrapp, schripp, schrapp. Für einen Schritt von Ray brauchte der andere fast zwei. Der Mann war klein, sein Gang schnell, abgehackt und wiegend zugleich. Ab und zu wehte der Qualm von Colemans Zigarre, die er zwischen den Vorderzähnen hielt, schwarz und bitter herüber und stieg Ray in die Nase. Coleman hatte zu einem Restaurant gewollt, für das es sich nicht lohnte, Rom zu durchqueren, fand Ray. Er war [10] mit Coleman um acht im Caffè Greco verabredet gewesen. Coleman hatte gesagt, er müsse in dem Restaurant einen Mann treffen (wie war noch sein Name?), doch der war nicht gekommen. Und sobald sie dort waren, hatte Coleman ihn kein einziges Mal erwähnt – Ray fragte sich inzwischen, ob es den Mann überhaupt gab. Coleman war eigenartig. Vielleicht hatte er in diesem Restaurant ein paarmal mit Peggy gegessen, mittags oder abends, und mochte es wegen der Erinnerungen. Im Restaurant hatte er vor allem von Peggy gesprochen, nicht so zornig wie auf Mallorca; heute abend hatte er sogar ab und zu leise gelacht. Aber sein Groll, seine Frage standen ihm immer noch ins Gesicht geschrieben. Und Rays Versuch, mit ihm zu reden, hatte zu nichts geführt. Für Ray war das nur ein weiterer Abend, den er über sich ergehen ließ, ein Abend wie viele andere auf Mallorca, seit Peggys Tod vor zehn Tagen: farblos, gedämpft, wie von der Welt getrennt – Abende mit Speisen, die gegessen wurden, ganz oder zur Hälfte, nur weil sie auf den Tisch kamen.

»Sie fliegen weiter nach New York«, sagte Coleman.

»Zuerst nach Paris.«

»Geschäftlich?«

»Sozusagen. Doch das läßt sich alles in zwei Tagen erledigen.« Ray wollte in Rom einige Maler treffen und sehen, ob sie Interesse hatten, sich von seiner Galerie in New York vertreten zu lassen. Die Galerie gab es noch gar nicht. Heute hatte er keine Telefongespräche geführt, obwohl er seit Mittag in Rom war. Er seufzte, weil er wußte, daß er nicht den Mut hatte, die Maler zu treffen und zu überzeugen, die Galerie Garrett werde ein Erfolg werden.

Viale Pola, las Ray auf einem Straßenschild.

[11] Vor ihm lag ein breiterer Boulevard: Das dürfte die Nomentana sein.

Undeutlich nahm er wahr, wie Coleman etwas aus seiner Manteltasche zog. Dann drehte der Mann sich plötzlich ihm zu, ein Schuß fiel, explodierte zwischen ihnen, schleuderte Ray rückwärts gegen eine Hecke und dröhnte ihm so laut in den Ohren, daß er einige Sekunden lang Colemans davoneilende Schritte auf dem Pflaster nicht hören konnte. Jetzt war Coleman schon außer Sicht, und Ray wußte nicht, ob eine Kugel ihn zurückgeschleudert hatte oder ob er vor Überraschung hintenübergefallen war.

»Che c’è?« schrie ein Mann aus einem Fenster.

Ray rang keuchend nach Luft – er hatte den Atem angehalten –, mühte sich dann, aus der Hecke herauszukommen und aufzustehen. »Niente«, rief er automatisch zurück. Wenn er tief einatmete, tat nichts weh. Er war also nicht getroffen, sagte er sich und ging langsam weiter in die Richtung, die Coleman und er vorher eingeschlagen hatten.

»Das ist der Mann!«

»Was ist passiert?«

Die Stimmen wurden leiser, als Ray die Nomentana erreichte. Sofort kam ein Taxi von links. Er winkte es heran.

»Albergo Mediterraneo.« Er sank zurück in den Sitz, spürte ein Stechen, ein Brennen im linken Oberarm. Er hob den Arm: Die Kugel hatte den Knochen sicherlich nicht durchschlagen. Er tastete den Mantelärmel ab und blieb mit einem Finger in dem Loch im Ärmel hängen. Nach weiterem Suchen fand er das Austrittsloch auf der anderen Seite des Ärmels. Und nun spürte er die warme Nässe in seiner Armbeuge, wo sich das Blut sammelte.

[12] Das Mediterraneo war ein modernes Hotel, dessen Stil Ray nicht gefiel, doch seine Lieblingshotels waren alle ausgebucht gewesen. Er holte sich seinen Schlüssel und fuhr mit dem Pagen hinauf, die Linke in der Manteltasche, damit kein Blut auf den Teppichboden tropfte. Die Tür seines Zimmers hinter sich zu schließen gab ihm ein Gefühl der Sicherheit; dennoch mußte Ray in allen Ecken nachsehen, nachdem er Licht gemacht hatte, als rechne er damit, Coleman in einer zu entdecken.

Er ging ins Badezimmer, fuhr aus seinem Mantel und warf ihn auf das Bett im Schlafzimmer, zog dann sein Jackett aus und sah Blutspritzer und einen blutigen Streifen, der sich den blauweiß gestreiften Hemdsärmel hinabzog. Weg mit dem Hemd.

Die Wunde war eine kleine Kerbe, etwa einen Zentimeter lang, ein klassischer Streifschuß. Er näßte einen sauberen Waschlappen und wusch die Wunde aus, holte ein Pflaster aus einem Seitenfach des Koffers und erinnerte sich, daß nur noch dieses breite Pflaster in der Blechbüchse übrig gewesen war, als er das Arzneischränkchen auf Mallorca ausgeräumt hatte. Dann nahm er die Zähne zu Hilfe und band sich ein Taschentuch fest um den Arm. Das Hemd weichte er in kaltem Wasser ein.

Fünf Minuten später, im Pyjama, rief Ray die Bar an und bestellte einen doppelten Dewar’s. Dem Zimmerjungen gab er ein gutes Trinkgeld. Dann löschte er das Licht und trat mit dem Drink ans Fenster. Sein Zimmer lag ziemlich weit oben. Rom wirkte weit und flach, bis auf die ferne, massige Kuppel des Petersdoms und die Säule der Trinità dei Monti über der Spanischen Treppe. So wie er rückwärts in die [13] Hecke gefallen war, dachte Ray, könnte Coleman annehmen, er sei tot. Er lächelte dünn, runzelte aber die Stirn: Wo hatte sich Coleman die Pistole beschafft? Und wann?

Der Mann flog morgen mit einer Mittagsmaschine nach Venedig. Mit Inez und Antonio, hatte Coleman am Abend gesagt – er brauche Tapetenwechsel, wolle etwas Schönes sehen und eine bessere Stadt als Venedig sei ihm nicht eingefallen. Würde Coleman morgen früh anrufen, um zu erfahren, ob er in sein Hotel zurückgekehrt war? Und wenn man im Hotel sagte: »Ja, Mr. Garrett ist im Hause« – würde der andere aufhängen? Außerdem: Wenn Coleman glaubte, ihn getötet zu haben, was würde er dann Inez sagen? »Ray und ich haben uns in der Nähe der Nomentana getrennt und verschiedene Taxis genommen. Keine Ahnung, wer das getan haben könnte.« Oder hatte Coleman vorher das Abendessen mit ihm gar nicht erwähnt, sondern gesagt, er werde mit jemand anderem essen? Und hatte er die Pistole sofort, heute abend noch, von einer Brücke in den Tiber geworfen?

Ray nahm einen größeren Schluck Whisky. Coleman würde nicht hier im Hotel anrufen, ihm wäre das schlichtweg egal. Und sollte man ihn darauf ansprechen, würde er lügen, und zwar gut.

Außerdem würde der Mann selbstverständlich herausfinden, daß er noch am Leben war, einfach weil in den Zeitungen nichts von seinem Tod oder einer schweren Verletzung stehen würde. Und sollte er dann schon in Paris oder New York sein, dann sähe das für Coleman so aus, als sei er geflüchtet, weggelaufen wie ein Feigling, bevor alles erklärt, etikettiert und analysiert werden konnte. Ray wußte, [14] daß er nach Venedig fliegen mußte. Er wußte auch, daß weitere Gespräche folgen würden.

Der Drink half; Ray entspannte sich auf einmal und wurde müde. Er starrte zu seinem großen, offenen Koffer auf der Ablage hinüber. Auf Mallorca hatte er klug gepackt, weder die Manschettenknöpfe vergessen noch den Zeichenblock, seinen Tintenfüller und die Adreßbücher. Seine restlichen Sachen, zwei Kisten und mehrere große Kartons, hatte er nach Paris geschickt. Warum Paris und nicht New York, wußte er selber nicht, denn in Paris würde er sie doch nur nach New York weitersenden müssen. Praktisch war die Regelung nicht, aber angesichts der verwirrenden Umstände, unter denen er auf Mallorca gepackt hatte, fand er es erstaunlich, daß er alles so gut geschafft hatte. Coleman war am Tag vor der Beerdigung von Rom herübergeflogen und hinterher noch drei Tage geblieben, und in dieser Zeit hatte Ray Peggys und seine Sachen gepackt, Rechnungen mit örtlichen Lieferanten beglichen, Briefe geschrieben, telefonisch den Vertrag mit seinem Vermieter Dekkard gekündigt, der in Madrid wohnte. Und die ganze Zeit war Coleman durch das Haus geschlichen, wie betäubt, eher schweigsam, doch Ray hatte gesehen, wie sein schmaler Mund sich zu einem kurzen geraden Strich verdünnte, während sein Zorn auf Ray allmählich wuchs und sich verhärtete. Ray wußte noch, wie er einmal ins Wohnzimmer gekommen war, weil er Coleman etwas fragen wollte (Coleman hätte das Gästezimmer haben können, schlief aber lieber auf der Couch), und den anderen dort angetroffen hatte, einen Lampenständer aus Terracotta in den Händen, der wie ein großer Flaschenkürbis geformt war – und [15] wie er einen Moment gedacht hatte, der Mann würde damit nach ihm werfen. Aber Coleman hatte ihn wieder hingestellt. Ray hatte ihn gefragt, ob er...