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Solange du lügst

Sarah Waters

 

Verlag Verlag Krug & Schadenberg, 2013

ISBN 9783944576237 , 750 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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12,99 EUR


 

KAPITEL 2

Der alte Büchernarr, so erfuhr ich, hieß Christopher Lilly. Seine Nichte hieß Maud. Sie lebten westlich von London, in Richtung Maidenhead, in der Nähe eines Ortes namens Marlow, auf einem Anwesen mit dem Namen Briar, was Wildrose heißt.

Gentlemans Plan sah vor, mich zwei Tage später allein mit dem Zug dorthin zu schicken. Er selbst müsse noch mindestens eine weitere Woche lang in London bleiben, um die Bücher des alten Mannes binden zu lassen.

Mir gefiel der Gedanke nicht sonderlich, allein nach Briar reisen zu müssen und ganz allein dort anzukommen. Ich war bisher nicht viel weiter westlich gekommen als bis nach Cremore Gardens, wohin ich samstagsabends manchmal mit Mr. Ibbs’ Neffen ging und mir die Tanzveranstaltungen ansah. Einmal habe ich von dort aus gesehen, wie die französische Seiltänzerin den Fluss überquerte und beinahe abgestürzt wäre – das war was. Es hieß, sie habe Strümpfe getragen, mir jedoch kamen ihre Beine ganz schön nackt vor. Aber ich erinnere mich noch, wie ich auf der Battersea Bridge stand, während sie oben auf dem Seil tanzte, und wie ich den Blick schweifen ließ, weit über Hammersmith hinaus, bis hin zu jener Landschaft, die sich dahinter erstreckte, die nur aus Bäumen und Hügeln bestand und in der weit und breit kein einziger Schornstein oder Kirchturm zu sehen war – oh! was war das für ein abschreckender Anblick. Hätte man mir damals gesagt, dass ich eines schönen Tages unser Viertel mit all meinen Freunden und Mrs. Sucksby und Mr. Ibbs verlassen und ganz allein losziehen und eine Anstellung als Kammerzofe in einem Haushalt auf der anderen Seite jener dunklen Hügel annehmen würde, dann hätte ich wohl lauthals gelacht.

Doch Gentleman meinte, ich müsse bald fahren, damit die junge Dame – Miss Lilly – unseren Plan nicht womöglich vereitelte, indem sie ein anderes Mädchen als Zofe anstellte. Am Tag nachdem er in die Lant Street gekommen war, setzte er sich hin und verfasste einen Brief an sie. Er sagte, er hoffe, sie werde ihm verzeihen, dass er sich die Freiheit herausnahm, ihr zu schreiben, doch er habe sein altes Kindermädchen besucht – die ihm wie eine Mutter gewesen sei, als er noch klein war – und sie halb verrückt vor Sorge um das Schicksal der Tochter ihrer verstorbenen Schwester angetroffen. Die Tochter der verstorbenen Schwester sollte natürlich ich sein: Die Geschichte ging so, dass ich als Zofe bei einer Dame, die im Begriff war, zu heiraten und nach Indien zu gehen, gearbeitet und so meine Stellung verloren hatte. Dass ich eine neue Herrin suchte, aber in der Zwischenzeit von allen Seiten in Versuchung geführt wurde und auf die schiefe Bahn zu geraten drohte. Wenn doch nur irgendeine gutherzige Dame mir die Gelegenheit bieten würde, eine Stellung weit fort von den Übeln der großen Stadt anzutreten – und so weiter und so fort.

Ich sagte: »Wenn sie diesen Schwachsinn schluckt, Gentleman, dann ist sie noch dämlicher, als du sie uns beschrieben hast.«

Doch er erwiderte, zwischen The Strand und Picadilly gäbe es bestimmt hundert Mädchen, die sich mit dieser Geschichte an fünf Tagen in der Woche großzügige Einladungen zum Abendessen erschwindelten. Und wenn die abgeklärten feinen Pinkel in London auf diese Weise ihre Shillings rausrückten, musste Miss Maud Lilly dann nicht noch viel gütiger sein, da sie so unwissend und traurig war und niemanden hatte, der sie eines Besseren belehrte?

»Du wirst schon sehen«, versprach er. Und er versiegelte den Brief, schrieb die Adresse darauf und ließ ihn von einem Nachbarjungen zur Post bringen.

So sicher war er sich des Erfolgs seines Plans, dass er meinte, man müsse sogleich anfangen mir beizubringen, wie eine anständige Kammerzofe sich zu benehmen habe.

Als Erstes wuschen sie mir die Haare. Ich trug mein Haar damals, wie viele Mädchen bei uns, dreigeteilt – hinten mit einem Kamm hochgesteckt und mit ein paar dicken Locken an den Seiten. Wenn man die Locken mit einem sehr heißen Eisen eindrehte und das Haar vorher mit Zuckerwasser angefeuchtet hatte, dann wurden sie steif wie ein Brett und hielten eine Woche oder noch länger. Gentleman jedoch fand die Frisur zu gewagt für eine Dame vom Lande. Ich musste mir das Haar waschen, bis es ganz glatt war; dann hieß er mich, es hinten am Kopf zu einem einfachen Knoten zusammenzustecken. Auch Dainty musste sich das Haar waschen, und als ich mir das Haar gekämmt und festgesteckt und wieder gekämmt und wieder festgesteckt hatte, bis er endlich zufrieden war, da musste ich ihr Haar kämmen und so wie meines feststecken, als sei es das Haar von Miss Lilly. Er sprang um uns herum wie eine echte Kammerzofe. Als wir fertig waren, sahen Dainty und ich so schlicht und rotwangig aus, als wollten wir uns um einen Platz im Kloster bewerben. John sagte, wenn man Bilder von uns in der Molkerei aufhängte, dann würde die Milch sauer werden.

Als Dainty das hörte, zog sie sich die Nadeln aus dem Haar und warf sie ins Feuer. An manchen hingen noch Haare, die in den Flammen zischten.

»Kannst du nichts anderes, als dein Mädchen zum Weinen bringen?«, schimpfte Mr. Ibbs mit John.

John lachte. »Ich sehe sie gerne weinen. Dann schwitzt sie weniger.«

Er war wirklich ein bösartiger Kerl.

Doch wider Willen war er ganz eingenommen von Gentlemans Plan – genau wie wir alle. Zum ersten Mal, so weit ich zurückdenken konnte, ließ Mr. Ibbs das Rollo an seiner Ladentür geschlossen, und der Schmiedeherd blieb kalt. Wenn Leute anklopften und einen Schlüssel gefertigt haben wollten, schickte er sie fort.

»Es geht nicht, Jungs. Nicht heute. Ich brüte hier gerade was aus.«

Nur Phil ließ er am frühen Morgen herein. Er setzte sich mit ihm hin und ging mit ihm die einzelnen Punkte einer Liste durch, die Gentleman am Abend zuvor aufgestellt hatte. Dann zog Phil seine Mütze tief ins Gesicht und ging wieder. Als er zwei Stunden später zurückkehrte, hatte er einen Beutel und einen leinenbezogenen Koffer dabei, den er von einem Bekannten, der am Fluss einen Laden mit Hehlerware betrieb, bekommen hatte.

Den Koffer sollte ich mit aufs Land nehmen. In dem Beutel waren ein Kleid aus billigem braunem Stoff, mehr oder minder in meiner Größe, ein Mantel, Schuhe und schwarze Seidenstrümpfe. Obenauf lag ein Stapel echte weiße Damenunterwäsche.

Mr. Ibbs hatte bloß den Knoten des Beutels geöffnet, hineingelugt und die Wäsche gesehen. Dann war er zur anderen Seite der Küche hinübergegangen und hatte sich dort hingesetzt. Er hatte ein besonderes Schloss, das er hin und wieder zum Vergnügen auseinandernahm, reinigte und wieder zusammensetzte. Er winkte John zu sich, um die Schrauben festzuhalten. Gentleman jedoch nahm die Damenwäsche Stück für Stück heraus und breitete sie auf dem Tisch aus. Neben den Tisch stellte er einen Küchenstuhl.

»Nun denn, Sue«, sagte er, »stellen wir uns also vor, der Stuhl ist Miss Lilly. Wie kleidest du sie an? Nehmen wir an, du beginnst mit den Strümpfen und den Pantalons.«

»Den Pantalons?«, gab ich zurück. »Du meinst, sie ist nackt?«

Dainty schlug die Hand vor den Mund und kicherte. Sie saß zu Mrs. Sucksbys Füßen und ließ sich die Haare aufdrehen.

»Nackt?«, erwiderte Gentleman. »Aber ja, splitterfasernackt. Was denn sonst? Sie muss doch ihre Kleider ausziehen, wenn sie schmutzig sind. Sie muss sich ausziehen, wenn sie baden will. Deine Aufgabe wird es sein, ihr die Sachen abzunehmen, wenn sie sich entkleidet, und ihr frische Sachen anzureichen.«

Daran hatte ich noch gar nicht gedacht. Ich fragte mich, wie es wohl sein würde, dort zu stehen und einem fremden nackten Mädchen Pantalons anzureichen. Einmal war ein fremdes nacktes Mädchen kreischend die Lant Street hinuntergelaufen, einen Polizisten und eine Krankenschwester auf den Fersen. Angenommen, Miss Lilly würde einen solchen Schrecken bekommen und ich müsste sie festhalten? Ich errötete, was Gentleman bemerkte.

»Na los«, sagte er, beinahe lächelnd. »Sag nicht, du zierst dich?«

Ich warf den Kopf in den Nacken, um zu beweisen, dass ich mich keineswegs zierte. Er nickte, dann nahm er ein Paar Strümpfe und dann einen Schlüpfer. Er legte alles auf die Sitzfläche des Küchenstuhls, so dass die Beine herabbaumelten.

»Und was jetzt?«, fragte er mich.

Ich zuckte die Schultern. »Ihr Unterleibchen, nehme ich an.«

»Ihr Unterhemd, so solltest du sagen«, erwiderte er. »Und du musst dich vergewissern, dass es warm ist, bevor sie es anzieht.«

Er hob das Hemdchen hoch und hielt es an das Feuer in der Küche. Dann hängte er es sorgsam oberhalb des Schlüpfers über die Stuhllehne, als ob der Stuhl die Sachen anhätte.

»Nun das Korsett«, erklärte er dann. »Sie wird wollen, dass du es ihr schnürst. Na los, zeig uns, wie du es machst.«

Er streifte das Korsett über das Hemdchen, die Schnürbänder im Rücken. Und während er sich auf den Stuhl lehnte, um zu verhindern, dass er kippte, musste ich die Bänder festziehen und sie zu einer Schleife binden. Die Bänder hinterließen rote und weiße Striemen auf meinen Handflächen, als hätte man mich ausgepeitscht.

»Warum trägt sie nicht so ein Korsett, das vorne geschlossen wird, so wie jedes gewöhnliche Mädchen?«, fragte Dainty.

»Weil sie dann keine Kammerzofe bräuchte«, erwiderte Gentleman. »Und wenn sie keine Zofe bräuchte, woher wüsste sie dann, dass sie eine Dame ist? Na?« Er zwinkerte Dainty zu.

Nach dem Korsett kam ein Schnürmieder und danach ein Bluseneinsatz. Dann folgten eine Krinoline mit neun Reifen und noch mehr Unterröcke, diesmal aus Seide....