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Allgemeine Psychologie - Wahrnehmung

Mike Wendt

 

Verlag Hogrefe Verlag GmbH & Co. KG, 2013

ISBN 9783840922886 , 370 Seiten

Format PDF, OL

Kopierschutz Wasserzeichen

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30,99 EUR


 

Die volle Tragweite der Frage nach dem „Warum“ des Aussehens der Dinge erschließt sich, wenn man sich Folgendes vor Augen führt: Ein bestimmter Zustand eines Sinnesorgans kann prinzipiell immer durch eine Vielzahl verschiedener äußerer Reize hervorgerufen werden. Ein in diesem Zusammenhang häufig genanntes Beispiel ist das Abbild eines Objekts auf der Netzhaut des Auges. Eine trapezförmige Netzhautprojektion könnte einerseits durch die Lichtreflektion einer tatsächlich trapezförmigen Fläche hervorgerufen werden, wenn sich diese Fläche frontal und parallel zum Auge befindet. Dasselbe Netzhautbild könnte aber auch durch eine rechteckige Fläche, die sich nicht frontoparallel zum Auge befindet, hervorgerufen werden, z. B. durch eine halb geöffnete Tür. Es könnte auch durch eine Vielzahl von anderen Formen zustande kommen, wenn sich diese in entsprechender Orientierung befinden, so dass diese eine trapezförmige Projektion auf der Netzhaut hervorruft. Genausowenig, wie sich vom Netzhautbild auf die Form eines Objekts schließen lässt, kann eine Aussage über dessen Größe getroffen werden. Schließlich könnte die Netzhautprojektion von einem kleinen nahen als auch von einem großen entfernten Objekt stammen. Letzendlich könnte man nicht ausschließen, dass es sich gar nicht um ein statisches Objekt handelt, sondern um eines, dass sich mit so großer Geschwindigkeit bewegt, dass sein Aufenthalt an verschiedenen Orten zur Wahrnehmung einer ausgedehnteren Form „verschwimmt“. Kurz gesagt: Zu ein und derselben Netzhautprojektion ließen sich theoretisch unzählige verschiedene Kombinationen aus Objektform, Orientierung, Entfernung etc. finden, durch die die Projektion hervorgerufen werden könnte. Im Wahrnehmungseindruck schlägt sich diese Ambiguität allerdings nicht nieder: Ein gegebener Reiz wird quasi immer so wahrgenommen, als ob er von einer ganz bestimmten Form ist und sich in einer ganz bestimmten Orientierung und in einer ganz bestimmten Entfernung befindet.

Begriffsklärungen Distaler Reiz: (entfernter Reiz) das physikalische Objekt (z. B. die halb offenstehende Tür)
Proximaler Reiz: (naher Reiz) die Repräsentation am Sinnesorgan (die trapezförmige Verteilung von Rezeptoraktivität auf der Netzhaut)
Perzept: der bewusste Wahrnehmungsinhalt

Inverses Problem Der Versuch, den distalen Reiz aus den Reizinformationen (dem proximalen Reiz), die dem Wahrnehmungssystem unmittelbar zur Verfügung stehen, zu rekonstruieren, kann als inverses Problem bezeichnet werden. Das bedeutet, dass die Transformationsprozesse der Einwirkung des Reizobjekts auf die Rezeptoren quasi in umgekehrter Richtung durchlaufen werden. Da einem Zustand des Sinnesorgans (bzw. einem proximalen Reiz) jedoch eine Vielzahl möglicher äußerer Ereignisse (bzw. distaler Reize) zugrunde liegen kann, handelt es sich um ein unterspezifiziertes Problem. Keine noch so gründliche Analyse des proximalen Reizes allein ist in der Lage, eine eindeutige Lösung hervorzubringen.

Auf welche Art kommt also der eindeutige Wahrnehmungseindruck zustande, der uns die Dinge so aussehen lässt, wie sie aussehen? Wenn die vorliegende Sinnesinformation zur Bestimmung des distalen Reizes nicht ausreicht, so liegt der Gedanke nahe, dass weitere Informationsquellen zur Disambiguierung herangezogen werden. Geht man davon aus, dass es die vornehmliche Aufgabe der Wahrnehmung ist, aus dem vorliegenden proximalen Reiz den wahrscheinlichsten distalen Reiz zu konstruieren, so wird der Wahrnehmungsprozess zu einem anspruchsvollen Ratespiel, bei dem neben den vorliegenden sensorischen Informationen auch frühere Erfahrungen mit demselben oder ähnlichen Wahrnehmungskontexten mit einbezogen werden.

Theorie unbewusster Schlüsse Die Theorie unbewusster Schlüsse geht auf den Physiker und Physiologen Hermann von Helmholtz (1821–1894) zurück. Die Theorie nimmt an, dass sich der Wahrnehmungseindruck durch die Anwendung von Heuristiken (einfache Entscheidungregeln) ergibt, welche aus dem Vorwissen des Wahrnehmungssystems hervorgehen. Die Disambiguierung bzw. die Auflösung von Mehrdeutigkeiten erfolgt demnach in Form eines unbewussten Schlussfolgerungsprozesses anhand von impliziten Annahmen. Wir werden in Kapitel 7 näher auf Fragen der Wahrnehmungsorganisation und die Rolle unbewusster Schlüsse eingehen.

Nicht alle theoretischen Ansätze teilen die Annahme, dass Sinnesinformationen prinzipiell unzulänglich sind. Tatsächlich ist das oben beschriebene Beispiel des trapezförmigen Netzhautbildes insofern irreführend, als dass die beschriebene Vieldeutigkeit nur unter extremen Laborbedingungen zustande kommen könnte, bei denen statische Reize mit unstrukturierter Oberfläche verwendet werden. Unter natürlichen Bedingungen würden nicht nur weitere Informationen aus dem Netzhautbild selbst (z. B. der Texturgradient der Oberfläche des Türblatts), sondern auch aus weiteren Quellen zur Verfügung stehen, die es ermöglichen könnten, die Form des Objekts, dessen Größe und Lage im Raum festzustellen. Dabei ist insbesondere ein Vergleich der Szenerie aus einem veränderten Blickwinkel, wie er durch Eigenbewegung erreicht werden kann, von Bedeutung. Der von James J. Gibson (1904–1979) begründete ökologischer Ansatz betont dementsprechend die Reichhaltigkeit des Informationsangebots, insbesondere für aktiv explorierende Beobachter. So entstehen bei jeder Bewegung des Auges optische Flussmuster auf der Netzhaut, die in systematischer Weise von der räumlichen Struktur der Umgebung abhängen. Der ökologische Ansatz weist eine gewisse Radikalität auf, indem er annimmt, dass bestimmte Invarianten – Strukturmerkmale, die bei Eigenbewegung des Beobachters konstant bleiben – ohne weitere vermittelnde Prozesse wie unbewusste Schlussfolgerungen zur Handlungssteuerung genutzt werden können.

Empfindung und Wahrnehmung Eine in der Wahrnehmungsforschung traditionelle Unterscheidung wird mit dem Begriffspaar Empfindung – Wahrnehmung (sensation – perception) ausgedrückt. Dabei werden mit Empfindung zumeist elementare, von kognitiven Prozessen noch unbeeinflusste durch einen Reiz hervorgerufenen Bewusstseinszustände bezeichnet. Der Begriff Wahrnehmung hingegen wird für umfangreichere, in gewisser Weise organisierte Perzepte verwendet, die als Resultat aus der Weiterverarbeitung der Empfindungen aufgefasst werden. „Empfindung“ ist in diesem Zusammenhang also nicht als Verweis auf einen emotionalen Gehalt gemeint.