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Erebos

Ursula Poznanski

 

Verlag Loewe Verlag, 2013

ISBN 9783732000968 , 488 Seiten

2. Auflage

Format ePUB

Kopierschutz DRM

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9,99 EUR


 

1.

Schon zehn Minuten nach drei und noch keine Spur von Colin. Nick ließ den Basketball auf dem Asphalt aufschlagen, fing ihn einmal mit der rechten, dann mit der linken, dann wieder mit der rechten Hand auf. Ein kurzes, singendes Dröhnen bei jeder Bodenberührung. Er bemühte sich, den Rhythmus zu halten. Noch zwanzig Mal – wenn Colin dann nicht hier war, würde Nick allein zum Training gehen.

Fünf, sechs. Es sah Colin nicht ähnlich, ohne Erklärung wegzubleiben. Er wusste genau, wie schnell man aus Trainer Betthanys Team flog. Colins Handy war auch nicht an, er hatte garantiert wieder vergessen, den Akku zu laden. Zehn, elf. Aber dass er auch Basketball vergaß, seine Kumpels, sein Team? Achtzehn. Neunzehn. Zwanzig. Kein Colin. Nick seufzte und klemmte sich den Ball unter den Arm. Auch gut, dann würden die meisten Körbe heute endlich mal auf sein eigenes Konto gehen.

Das Training war hammerhart und Nick nach zwei Stunden schweißgebadet. Mit schmerzenden Beinen humpelte er unter die Dusche, stellte sich in den heißen Wasserstrahl und schloss die Augen. Colin war nicht mehr aufgetaucht und Betthany war wie erwartet ausgeflippt. Seinen Ärger hatte er zur Gänze an Nick ausgelassen, als sei der schuld an Colins Fernbleiben.

Nick verteilte Shampoo auf seinem Kopf und wusch sein – in Trainer Betthanys Augen – viel zu langes Haar, das er anschließend mit einem ausgeleierten Gummiring zu einem Zopf zusammenband. Er war der Letzte, der die Sporthalle verließ, draußen wurde es bereits dunkel. Während er die Rolltreppe zur U-Bahn hinunterfuhr, holte Nick sein Handy aus der Tasche und drückte die Kurzwahl, unter der er Colins Nummer gespeichert hatte. Nach dem zweiten Läuten sprang die Mailbox an und Nick legte auf, ohne eine Nachricht hinterlassen zu haben.

Mum lag auf der Couch, las eine ihrer Frisuren-Fachzeitschriften und sah gleichzeitig fern.

»Heute gibt’s nur Hotdogs«, erklärte sie, kaum dass Nick die Tür hinter sich geschlossen hatte. »Ich bin total erledigt. Kannst du mir ein Aspirin aus der Küche bringen?«

Nick ließ seine Sporttasche in die Ecke fallen und warf eine Aspirin plus C-Tablette in ein Glas mit Wasser. Hotdogs, toll. Er war am Verhungern.

»Ist Dad nicht zu Hause?«

»Nein, der kommt später. Ein Kollege hat Geburtstag.«

Ohne viel Hoffnung scannte Nick den Kühlschrank auf etwas Erfreulicheres als Würstchen – die Pizzareste von gestern zum Beispiel –, wurde aber nicht fündig.

»Was sagst du zu der Sache mit Sam Lawrence?«, rief Mum aus dem Wohnzimmer. »Wahnsinn, oder?«

Sam Lawrence? Der Name kam ihm bekannt vor, aber er konnte kein Gesicht damit verbinden. Wenn er so müde war wie heute, gingen ihm die verschlüsselten Nachrichten seiner Mutter gehörig auf die Nerven. Er servierte ihr den gewünschten Anti-Kopfschmerz-Cocktail und überlegte, ob er nicht auch eine Tablette einwerfen sollte.

»Wart ihr dabei, als sie ihn geholt haben? Mrs Gillinger hat mir die Geschichte heute erzählt, während ich ihr Strähnchen gefärbt habe. Sie arbeitet in der gleichen Firma wie Sams Mutter.«

»Hilf mir auf die Sprünge: Sam Lawrence geht auf meine Schule?«

Mum beäugte ihn missbilligend. »Na sicher! Nur zwei Jahre unter dir. Wurde jetzt vom Unterricht suspendiert. Hast du die ganze Aufregung nicht mitbekommen?«

Nein, das hatte Nick nicht, aber seine Mutter setzte ihn gern und ausführlich ins Bild.

»Sie haben Waffen in seinem Spind gefunden! Waffen! Angeblich waren es eine Pistole und zwei Springmesser. Wo hat ein Fünfzehnjähriger eine Pistole her? Kannst du mir das verraten?«

»Nein«, sagte Nick wahrheitsgemäß. Ihm war der ganze Skandal, wie seine Mutter es nannte, entgangen. Er dachte an die Amokläufe an amerikanischen Schulen und schüttelte sich unwillkürlich. Gab es wirklich so kranke Typen bei ihnen? Es juckte ihn in den Fingern, Colin anzurufen, der wusste vielleicht mehr darüber, aber Colin hob ja nicht ab, der faule Sack. War vielleicht besser, denn wahrscheinlich übertrieb Mum wieder mal gehörig und dieser Sam Lawrence hatte bloß eine Wasserpistole und ein Taschenmesser dabeigehabt.

»Es ist schon schlimm, was alles schiefgehen kann, während die Kinder groß werden«, sagte seine Mutter und sah ihn mit diesem Blick an, der mein Schnuckelhase sagte, mein Kleiner, mein Baby, du würdest so etwas doch nicht tun?

Es war dieser Ausdruck, der Nick immer wieder überlegen ließ, ob er vielleicht doch zu seinem Bruder ziehen sollte.

»Warst du krank gestern? Betthany hat vielleicht geflucht!«

»Nein. Alles okay.« Colins gerötete Augen fixierten die Wand des Schulkorridors neben Nicks Kopf.

»Sicher? Du siehst scheiße aus.«

»Sicher. Hab bloß nicht viel geschlafen letzte Nacht.«

Ganz kurz streifte Colins Blick Nicks Gesicht, um sich dann wieder beharrlich an die Wand zu heften. Nick unterdrückte ein Schnauben. Wenig Schlaf hatte Colin noch nie etwas ausgemacht.

»Warst du unterwegs?«

Colin schüttelte den Kopf, seine Rastalocken schwangen hin und her.

»Gut. Aber falls es dein Dad ist, der mal wieder –«

»Es ist nicht mein Dad, okay?« Colin drückte sich an Nick vorbei und ging ins Klassenzimmer – setzte sich aber nicht an seinen Platz, sondern schlenderte hinüber zu Dan und Alex, die am Fenster standen, total vertieft in ihr Gespräch.

Dan und Alex? Nick blinzelte ungläubig. Die beiden waren so uncool, dass Colin sie immer nur ›die Häkelschwestern‹ nannte. Häkelschwester 1 (Dan) war deutlich zu kurz geraten und man hatte den Eindruck, er versuche das durch seinen besonders fetten Hintern wettzumachen, an dem er sich gern kratzte. Bei Häkelschwester 2 (Alex) wechselte, kaum dass man ihn ansprach, die Gesichtsfarbe in rekordverdächtiger Geschwindigkeit von Stubenhockerweiß zu Stoppschildrot. Jedes Mal.

Hatte Colin vor, sich bei den beiden als Häkelschwester Nummer 3 zu bewerben?

»Das kapier ich nicht«, murmelte Nick.

»Selbstgespräche?« Hinter ihm war Jamie aufgetaucht, patschte ihm mit der Hand auf die Schulter und ließ seine zerfledderte Tasche quer durch den Klassenraum schlittern. Er grinste Nick an und zeigte dabei eine Reihe der schiefsten Zähne, die an der Schule zu finden waren.

 »Selbstgespräche sind ein schlechtes Zeichen. Eines der ersten Anzeichen für Schizophrenie. Hörst du auch schon Stimmen?«

»Quatsch.« Nick versetzte Jamie einen freundschaftlichen Rempler. »Aber Colin verbrüdert sich mit den Häkelschwestern.«

Er sah noch einmal hin und stutzte. Halt. Da war keine Verbrüderung im Gange, sondern eine Unterwerfung. Colin hatte einen noch nie dagewesenen flehenden Gesichtsausdruck aufgesetzt. Unwillkürlich ging Nick ein paar Schritte näher.

»… verstehe nicht, was dabei ist, wenn du mir ein paar Tipps gibst«, hörte er seinen Freund sagen.

»Das geht nicht. Stell dich nicht so an, du weißt es selbst«, sagte Dan und verschränkte die Arme vor seinem Hängebauch. Auf der Krawatte seiner Schuluniform klebte ein Dotterrest vom Frühstücksei.

»Hey, komm – nichts Großartiges. Und ich verpfeif dich auch nicht.«

Während Alex zweifelnd zu Dan blickte, stand diesem die Freude an der Situation deutlich ins Gesicht geschrieben.

»Vergiss es. Bist doch sonst so großkotzig. Sieh selbst zu, wie du da rauskommst.«

»Wenigstens –«

»Nein! Halt endlich die Klappe, Colin!«

Gleich. Gleich würde Colin Dan an den Schultern nehmen und ihn quer über den Gang segeln lassen. Gleich.

Doch Colin senkte nur den Kopf und betrachtete seine Schuhspitzen.

Da war etwas faul. Nick schlenderte Richtung Fenster und gesellte sich zu der Dreiergruppe dazu.

»Na, was läuft bei euch?«

»Brauchst du irgendwas?«, fragte Dan angriffslustig.

Nick sah zwischen ihm und den anderen beiden hin und her.

»Nicht von dir«, antwortete er. »Nur von Colin.«

»Bist du blind? Er unterhält sich gerade.«

Nun blieb Nick doch die Luft weg. Wie redete der mit ihm?

»Ach wirklich, Dan?«, sagte er langsam. »Worüber könnte er sich mit dir unterhalten? Über Häkelmuster?«

Colin warf ihm einen hastigen Blick aus seinen schwarzen Augen zu, sagte aber kein Wort. Wäre seine Haut nicht so dunkel gewesen, Nick hätte schwören können, dass er rot angelaufen war.

Das durfte doch nicht wahr sein! Hatte Colin Dreck am Stecken und Dan wusste davon? Erpresste er ihn?

»Colin«, sagte Nick laut, »Jamie und ich treffen uns nach der Schule mit ein paar Leuten am Camden Lock. Bist du dabei?«

Es dauerte lange, bis Colin antwortete.

»Weiß noch nicht«, sagte er, den Blick angestrengt aus dem Fenster gerichtet. »Rechnet besser nicht mit mir.«

Dan und Alex wechselten einen vielsagenden Blick, der Nicks Magengrube nervös kribbeln ließ.

»Worum geht es hier eigentlich?« Er nahm seinen Freund bei der Schulter. »Colin? Hey, was ist los?«

Es war Dan, der lächerliche Klops, der Nicks Hand von Colins Schulter nahm. »Nichts, das dich was angeht. Nichts, wovon du was verstehst.«

Um halb sechs war die Northern Line voll bis auf den letzten Stehplatz. Nick und Jamie, auf dem Weg ins Kino, standen eingequetscht zwischen müden, schwitzenden Menschen. Immerhin ragte Nick über die Massen hinaus und bekam unverbrauchte Luft, während Jamie rettungslos zwischen einem Anzugträger und einer großbusigen Matrone eingekeilt war.

»Und ich sage dir, da stimmt etwas nicht«, beharrte Nick. »Dan hat Colin behandelt wie seinen Laufburschen. Und mich wie ein Kleinkind. Das nächste Mal …«...