dummies
 

Suchen und Finden

Titel

Autor/Verlag

Inhaltsverzeichnis

Nur ebooks mit Firmenlizenz anzeigen:

 

Skulduggery Pleasant (Band 6) - Passage der Totenbeschwörer - Urban-Fantasy-Kultserie mit schwarzem Humor

Derek Landy

 

Verlag Loewe Verlag, 2014

ISBN 9783732000760 , 576 Seiten

2. Auflage

Format ePUB

Kopierschutz DRM

Geräte

3,99 EUR


 

ICH UND DAS MÄDCHEN

Kenny saß im Verhörzimmer und versuchte nicht herumzuzappeln. Er war einigermaßen enttäuscht, dass kein Einwegspiegel in die Wand eingebaut war, wie er das von Krimis her kannte. Aber vielleicht hatten sie solche Spiegel ja nur in Amerika. In Irland hatte die Polizei wahrscheinlich nicht einmal normale Spiegel.

Die Tür rechts von ihm ging auf und zwei Leute kamen herein. Der Mann war groß und schlank. Er trug einen dunkelblauen, perfekt sitzenden Maßanzug und einen Hut wie ein Privatdetektiv aus den 1940er Jahren. Er setzte sich Kenny gegenüber an den Tisch und nahm den Hut ab. Er hatte dunkles Haar und hohe Wangenknochen und schien Probleme mit den Augen zu haben. Sein Blick wanderte ständig hin und her. Seine Haut wirkte wächsern. Er trug Handschuhe.

Seine Kollegin stellte sich hinter ihm an die Wand. Sie war groß und hübsch und dunkelhaarig, konnte aber nicht älter als sechzehn sein. Sie trug eine schwarze Hose und eine schmal geschnittene schwarze Jacke, deren Reißverschluss zur Hälfte geschlossen war. Das Material war Kenny unbekannt. Sie blickte ihn nicht an.

„Hallo.“ Der Mann lächelte breit. Er hatte schöne Zähne.

„Hallo“, grüßte Kenny zurück.

Das Mädchen sagte nichts.

Die Stimme des Mannes war weich wie Samt. „Ich bin Kriminalinspektor Ich. Ein ungewöhnlicher Name, ich weiß. Meine Vorfahren waren unwahrscheinlich narzisstisch. Ich kann von Glück sagen, dass ich wenigstens ein gewisses Maß an Bescheidenheit mitbekommen habe. Andererseits ist es mir immer gelungen, Erwartungen zu übertreffen. Sie sind Kenny Dunne, nicht wahr?“

„Der bin ich.“

„Ich habe lediglich ein paar Fragen an Sie, Mr. Dunne. Oder Kenny? Darf ich Sie Kenny nennen? Ich habe das Gefühl, dass wir in den letzten paar Sekunden Freunde geworden sind. Kann ich Kenny sagen?“

„Klar“, antwortete Kenny einigermaßen ratlos.

„Danke. Vielen Dank. Es ist mir wichtig, dass Sie sich in meiner Gegenwart wohl fühlen, Kenny. Es ist mir wichtig, dass ein Vertrauensverhältnis entsteht. Dann treffe ich Sie nämlich vollkommen unvorbereitet, wenn ich Sie plötzlich wegen Mordes anklage.“

Kenny riss die Augen auf. „Wie bitte?“

„Du liebe Zeit“, seufzte Inspektor Ich. „Das hätte erst in ein paar Minuten kommen sollen.“

„Ich habe Paul Lynch nicht umgebracht!“

„Können wir zu dem angenehmen Vertrauensverhältnis zurückkehren, das wir entstehen ließen?“

„Hören Sie, ich war mit ihm verabredet. Ich wollte ein Interview mit ihm machen, doch als ich hinkam, war er schon tot.“

„Es würde Sie bestimmt überraschen, wenn Sie wüssten, wie oft wir bei unserer Arbeit dieses ‚Er war schon tot’ zu hören bekommen. Aber vielleicht wäre es auch keine Überraschung für Sie. Ich weiß es nicht. Tatsache ist, dass es nicht gut für Sie aussieht, Kenny. Wenn Sie uns alles erzählen, was Sie wissen, können wir unsere Kollegen vielleicht dazu bringen, dass sie ein Auge zudrücken.“

Kenny starrte den Mann an, dann ging sein Blick zu dem Mädchen. „Wer bist du?“

Sie erwiderte seinen Blick, hob eine Augenbraue, antwortete jedoch nicht.

„Sie macht hier ein Praktikum“, erklärte Inspektor Ich. „Machen Sie sich wegen ihr keine Gedanken, Kenny. Es genügt, wenn Sie sich um sich selbst Gedanken machen. In welcher Beziehung standen Sie zu dem Verstorbenen?“

„Hm. Ich bin Journalist. Ich habe ein paar Interviews mit ihm geführt.“

„Worüber?“

„Ach … nichts. Er ist oder besser – er war eine Art Verschwörungsfreak.“

„Verschwörungen? Sie meinen Vertuschung auf Regierungsebene, solche Sachen?“

„Nein, das nicht. Er war eher …“ Kenny seufzte erneut. „Hören Sie, das ist eine lange Geschichte.“

„Ich habe keine anderen Termine“, erwiderte Inspektor Ich. Und mit einem Blick auf das Mädchen fragte er: „Du?“

„Ja. Ich muss zu einer Taufe.“

„Oh. Natürlich.“ Ich wandte sich wieder an Kenny. „Wenn Sie beim Sprechen einen Zahn zulegen, können Sie uns vielleicht trotzdem alles erzählen.“

Kenny überlegte einen Augenblick. Er durfte auf gar keinen Fall wie ein Bekloppter klingen. „Okay“, begann er schließlich, „ich bin in den letzten paar Jahren einigen merkwürdigen Geschichten nachgegangen. Nichts Großartiges, nichts von Bedeutung, sondern Geschichten, die keine Beachtung finden, weil sie so verrückt klingen. Keine Zeitung wird solches Zeug jemals ernst nehmen, deshalb kann ich wirklich nur sehr wenig Zeit darauf verwenden. Angefangen hat es, als ich einen Artikel über Großstadtlegenden schrieb. Es war das Übliche, moderne Mythen und folkloristisches Erzählgut, einiges davon komisch, einiges schrecklich und einiges gruselig. Alles, was man eben so erwartet. Aber dann habe ich irgendwann neue Geschichten gehört.“

„Zum Beispiel?“

„Es waren eigentlich nur Gerüchte, Ausschnitte aus Geschichten. Jemand hat eine Schießerei beobachtet, bei der Leute Feuer warfen. Ein anderer hat gesehen, wie ein Mann über ein Gebäude sprang oder wie eine Frau einfach verschwand.“

Inspektor Ich legte den Kopf schief. „Dann handeln die modernen Großstadtlegenden also von Superhelden?“

„Das dachte ich anfangs auch, aber jetzt bin ich mir nicht mehr so sicher. Hinter vorgehaltener Hand habe ich von einer ganzen Subkultur gehört, in der solche Sachen abgehen. Lynch meinte, man könnte sie überall finden, wenn man nur wüsste, wonach man suchen muss.“

„Verstehe. Und hat Lynch behauptet, er sei ein solcher Superheld?“

„Lynch? Nein. Überhaupt nicht. Es ging ihm nicht gut, das war offensichtlich. Er sagte, er hätte Visionen. So hat er es genannt, Visionen. Die hatte er, seit er ein Teenager war. Sie haben ihn zu Tode erschreckt. Man hat ihn von einem Psychiater zum nächsten geschickt, ihn eine Pille nach der anderen schlucken lassen, aber nichts hat geholfen. Er hat mir seine Visionen beschrieben und es klang alles so anschaulich, so echt. Er hielt es in keinem Job aus, konnte keine Beziehung aufrechterhalten … Schließlich wurde er obdachlos, trank zu viel, hing in Hauseingängen herum und murmelte ständig vor sich hin.“

„Und das war Ihre Quelle?“, fragte Inspektor Ich.

„Ich weiß, er klingt unzuverlässig.“

„Nur ein kleines bisschen.“

„Aber ich blieb dran, habe mir angehört, was er zu erzählen hatte. Und irgendwann konnte ich das wirre Gequassel von den … na ja, ich nehme an, es waren Tatsachen, unterscheiden.“

„Was hat er alles gesehen?“, fragte das Mädchen.

Kenny runzelte die Stirn. Ihm war nicht klar, was einer Schülerin im Praktikum das Recht gab, ihn zu befragen. Da Inspektor Ich jedoch keine Einwände hatte, antwortete er widerstrebend: „Er hat die Apokalypse vorhergesehen. Eigentlich waren es mehrere. Die erste betraf die dunklen Götter oder die Gesichtslosen, wie er sie nannte. Irgendjemand – keiner weiß, wer – hat sie vor Urzeiten verbannt und seither versuchen sie wiederzukommen. Als Lynch siebzehn war, hatte er eine Vision, in der sie zurückkehrten. Er hat Millionen von Toten gesehen. Geschleifte Städte. Er hat die Welt auseinanderbrechen sehen. Diese Visionen kamen immer wieder und jedes Mal unter einem neuen Aspekt. Immer wieder war es ein anderer Blickwinkel, aus dem er das Ende der Welt beobachten konnte. Vor knapp drei Jahren war er überzeugt, dass wir alle in einer bestimmten Nacht sterben würden. Er behauptete, diese Dinger, diese Gottwesen würden durch ein glühendes gelbes Tor zwischen unterschiedlichen Wirklichkeiten zurückkommen. Natürlich hat ihm niemand geglaubt. Und dann kam die Nacht, in der die Welt untergehen sollte … und sie ging nicht unter. Und die Visionen hörten auf.“

„Ich liebe Geschichten mit einem Happyend“, bekannte Inspektor Ich.

„Es war damit nicht vorbei, zumindest nicht für Lynch. Er hatte jetzt andere Visionen. So sagte er zum Beispiel das Wahnsinnsvirus voraus.“

„Wie ich gehört habe, soll es kein Virus gewesen sein“, meldete sich das Mädchen zu Wort, „sondern ein Halluzinogen. Sie haben die Typen erwischt, die dafür verantwortlich waren.“

Kenny lachte. „Und du glaubst das tatsächlich?“

Inspektor Ich sah ihn ganz merkwürdig an. „Sie etwa nicht?“

„Es kommt alles ziemlich gelegen, nicht wahr? Eine Gruppe radikaler Anarchisten verseucht als Weihnachtsscherz überall im Land das Wasser – und Monate später bekennt sie sich dazu? Anarchisten, die Verantwortung für ihre Taten übernehmen? Das widerspricht doch dem Wesen des Anarchistseins komplett! Wissen Sie, wann die Verhandlung stattfindet? Wissen Sie, in welchem Gefängnis sie bis dahin festgehalten werden? Ich weiß es nämlich nicht.“

Inspektor Ich lehnte sich zurück. „Das klingt ganz nach einer Verschwörungstheorie, Kenny. Was ist wirklich passiert? Was glauben Sie?“

„Ich weiß es nicht, aber Lynch war überzeugt, dass es keine Anarchisten waren. Er hat von kleinen dunklen Schatten gesprochen, die herumgeflogen seien und die Menschen infiziert hätten.“

Kenny wunderte sich, dass weder der Inspektor noch das Mädchen feixten.

„Haben Sie eine Ahnung, wie viele Leute in diesen paar Tagen zu Protokoll gegeben haben, dass sie merkwürdige Dinge gesehen hätten?“, fuhr Kenny fort. „Ich habe Dutzende solcher Protokolle gelesen. In einem Nachtclub in Haggard wurden offenbar ganze Schwärme von diesen Dingern gesichtet, aber in der Lokalzeitung stand kein Wort darüber.“

„Für mich hört sich das so an, als hätten ein paar Leute halluziniert“, meinte das...