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Die Erbin

John Grisham

 

Verlag Heyne, 2014

ISBN 9783641131333 , 720 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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9,99 EUR


 

1

Sie fanden Seth Hubbard an der vereinbarten Stelle, allerdings anders als erwartet. Er hing am Ende eines Seils zwei Meter über dem Boden und schwang leicht im Wind. Es regnete in Strömen, und Seth triefte vor Nässe, wobei das natürlich keine Rolle mehr spielte. Jemand merkte an, dass seine Schuhe nicht schlammig und unter ihm keine Fußabdrücke zu sehen seien. Er müsse folglich schon tot hier gehangen haben, als der Regen eingesetzt habe. War das noch wichtig? Letztendlich nicht.

Sich selbst an einem Baum zu erhängen ist gar nicht so einfach. Offensichtlich hatte Seth sein Vorhaben sorgfältig geplant. Das Seil war zwanzig Millimeter dick, aus Manilahanf, nicht mehr neu, aber stabil genug, um Seth zu tragen, der 72,5 Kilogramm wog, wie einen Monat zuvor in seiner Arztpraxis festgestellt worden war. Ein Angestellter aus einer von Seths Fabriken würde später berichten, dass er gesehen habe, wie sein Chef das fünfzehn Meter lange Stück Seil von einer Rolle abschnitt, das er dann zu diesem fatalen Zweck benutzte. Das eine Ende war mit Knoten und Schlingen an einem der unteren Äste des Baumes befestigt, improvisiert, aber es hielt. Das andere Ende lag in sechseinhalb Meter Höhe über einem Ast, der gut fünfzig Zentimeter dick war. Von dort hing es rund drei Meter herab und mündete in eine Henkerschlinge mit dreizehn Wicklungen wie aus dem Lehrbuch, die aussah, als hätte Seth eine Weile dafür geübt. Ein echter Henkersknoten lässt das Genick brechen, sodass der Tod schneller eintritt und weniger schmerzvoll ist. Offenbar hatte Seth seine Hausaufgaben gemacht. Neben den charakteristischen Malen wies seine Leiche keine Spuren von Kampf oder Todesqual auf.

Auf dem Boden lag eine harmlos wirkende, drei Meter lange Stehleiter. Seth hatte sich seinen Baum ausgesucht, das Seil über den Ast geworfen und festgebunden, die Leiter erklommen, die Schlinge übergestreift und, als alles passte, die Leiter unter sich weggetreten. Seine Hände baumelten neben seinen Hosentaschen.

Hatte es einen Moment des Zweifels gegeben? Hatte Seth, als seine Füße keinen Halt mehr fanden, instinktiv nach dem Seil über seinem Kopf gegriffen und verzweifelt daran gezogen? Niemand würde es je erfahren, aber es sah nicht danach aus. Später sollte sich herausstellen, dass Seth von einer Mission getrieben gewesen war.

Seth hatte für den Anlass seinen besten Anzug gewählt, aus Schurwolle, dunkelgrau und normalerweise für Beerdigungen bei kühler Witterung reserviert. Er besaß nur drei Anzüge. Erhängen führt zu einer Streckung des Körpers, sodass ihm die Hosenbeine nur noch bis zu den Knöcheln reichten und das Jackett bis zur Hüfte. Die schwarzen Lederschuhe waren auf Hochglanz poliert, die blaue Krawatte sorgfältig gebunden. Nur sein weißes Hemd war verschmiert, weil unter der Schlinge Blut ausgetreten war. Binnen Stunden würde bekannt sein, dass Seth Hubbard am Elf-Uhr-Gottesdienst in der nahen Kirche teilgenommen hatte, dort mit Bekannten geplaudert, mit dem Diakon gescherzt und seinen Teil zur Kollekte beigesteuert hatte und relativ guter Dinge gewesen war. Die meisten wussten, dass er an Lungenkrebs erkrankt war, aber nicht, dass ihm die Ärzte nur noch kurze Zeit gegeben hatten. Seths Name stand auf mehreren Gebetslisten in der Kirche. Allerdings war er zweimal geschieden. Für einen echten Christen war das ein Stigma.

Und jetzt hatte er auch noch Selbstmord begangen.

Der Baum war eine alte Platane, die Seth und seiner Familie seit vielen Jahren gehörte. Um sie herum erstreckte sich ein Hartholz-Wald, den Seth wiederholt mit Hypotheken belastet und gewinnbringend erweitert hatte. Sein Vater hatte den Forstbestand in den Dreißigerjahren durch zweifelhafte Methoden an sich gebracht. Seths Exfrauen hatten beide hartnäckig versucht, das Land in die Scheidungsmasse einfließen zu lassen, doch Seth war hart geblieben. Dafür hatte er ihnen fast alles Übrige überlassen.

Als Erster war Calvin Boggs vor Ort gewesen, ein Handwerker und Farmarbeiter, der seit einigen Jahren für Seth tätig war. Am frühen Sonntagmorgen hatte Calvin einen Anruf von seinem Chef bekommen. »Wir treffen uns um vierzehn Uhr an der Brücke«, hatte Seth ohne weitere Erklärung gesagt, und Calvin war nicht der Typ, der nachfragte. Wenn Mr. Hubbard ihn rief, kam er. Im letzten Moment wollte sein zehnjähriger Sohn unbedingt mitkommen, und trotz eines unguten Gefühls im Magen nahm Calvin ihn mit. Sie folgten einer Schotterstraße, die sich kilometerlang durch Hubbards Ländereien schlängelte. Auf der Fahrt fing Calvin an, sich Gedanken zu machen. Sein Chef hatte ihn noch nie an einem Sonntagnachmittag zu sich bestellt. Er wusste, dass Mr. Hubbard krank war, sogar todkrank, wenn die Gerüchte stimmten, doch von ihm selbst hatte er dazu nie etwas gehört.

Die Brücke war nicht mehr als eine Holzplattform über einem namenlosen, schmalen Bach, der von Kudzu-Kraut überwachsen war und von Mokassinottern nur so wimmelte. Mr. Hubbard hatte eigentlich vorgehabt, den Graben zu einem betonierten Kanal ausbauen zu lassen, doch in den letzten Monaten war er schon zu krank gewesen. In der Nähe standen auf einer Lichtung zwei verfallene und von Grün überwucherte Schuppen. Nichts sonst deutete darauf hin, dass sich hier einst eine kleine Siedlung befunden hatte.

Nahe der Brücke parkte Mr. Hubbards nagelneuer Cadillac, Fahrertür und Kofferraumdeckel standen offen. Calvin hielt dahinter und betrachtete den Wagen. In diesem Moment hatte er zum ersten Mal das Gefühl, dass irgendetwas nicht stimmte. Es regnete beständig, und der Wind hatte zugenommen, warum also hatte Mr. Hubbard Tür und Deckel nicht geschlossen? Calvin ließ seinen Sohn im Pick-up sitzen und ging langsam um den Cadillac herum, ohne ihn zu berühren. Nirgendwo ein Hinweis auf den Chef. Er atmete tief durch, wischte sich den Regen aus dem Gesicht und suchte mit den Augen die Umgebung ab. Hinter der Lichtung, vielleicht hundert Meter entfernt, hing ein Mann an einem Baum. Er kehrte zu seinem Wagen zurück und hieß seinen Sohn, sich nicht von der Stelle zu rühren und die Türen verriegelt zu lassen. Doch es war zu spät. Der Junge hatte die Platane in der Ferne auch gesehen und starrte unverwandt in ihre Richtung.

»Du bleibst hier«, sagte Calvin streng. »Wehe, du steigst aus.«

»Ja, Sir.«

Vorsichtig machte Calvin sich auf den Weg. Der Boden war schlammig und glatt, und er musste seine Schritte bedachtsam wählen, um nicht auszurutschen. Außerdem – wozu sich eilen? Je näher er kam, desto klarer wurde das Bild. Der Mann im dunklen Anzug am Ende des Seils war eindeutig tot. Jetzt erkannte Calvin auch, wer es war. Und als er die Stehleiter sah, war ihm endgültig klar, was geschehen war. Ohne etwas anzufassen, kehrte er zum Auto zurück.

Man schrieb Oktober 1988, und selbst im ländlichen Mississippi war das Autotelefon inzwischen angekommen. Auf Mr. Hubbards Drängen hin hatte Calvin sich eines in seinen Pick-up einbauen lassen. Er rief den Sheriff von Ford County an, berichtete kurz und begann zu warten. In der Wärme seines beheizten Autos, beschwichtigt von Merle Haggard, der im Radio sang, starrte Calvin durch die Windschutzscheibe und klopfte mit den Fingern zum Takt der Scheibenwischer, bis er merkte, dass er weinte. Der Junge wagte nichts zu sagen.

Eine halbe Stunde später trafen zwei Deputys ein. Während sie Regencapes überstreiften, kam ein Krankenwagen mit drei Sanitätern. Zunächst blieben alle auf dem Weg stehen und spähten auf die Platane in der Ferne, bis sie überzeugt schienen, dass da tatsächlich ein Mann hing. Calvin erzählte ihnen, was er wusste. Die Deputys beschlossen, den Vorfall wie ein Verbrechen zu behandeln, und untersagten dem Erste-Hilfe-Team den Zutritt. Ein dritter Deputy erschien, dann ein weiterer. Sie durchsuchten den Cadillac, fanden aber nichts. Sie fotografierten und filmten Seth, wie er mit geschlossenen Augen und grotesk verdrehtem Kopf am Ast baumelte. Sie studierten die Spuren um die Platane, entdeckten jedoch keine Hinweise auf eine zweite Person. Ein Deputy fuhr Calvin zu Mr. Hubbards Haus, das ein paar Kilometer entfernt lag. Der Junge saß auf dem Rücksitz und sprach immer noch kein Wort. Das Haus war unverschlossen. Auf dem Küchentisch lag ein gelber Schreibblock mit einer Nachricht. In Seths ordentlicher Handschrift stand da geschrieben: »Für Calvin. Bitte teilen Sie der Polizei mit, dass ich mir das Leben genommen habe und dass mir niemand dabei geholfen hat. Auf dem beigefügten Blatt habe ich Anweisungen zu meiner Bestattung und Trauerfeier aufgeschrieben. Keine Autopsie! S. H.« Das Datum war das desselben Tages, Sonntag, 2. Oktober 1988.

Schließlich durfte Calvin gehen. In aller Eile brachte er seinen Sohn nach Hause, der sich in die Arme der Mutter stürzte und auch für den Rest des Tages kein Wort mehr sprach.

Ozzie Walls war einer von zwei schwarzen Sheriffs in Mississippi. Der andere war erst kürzlich gewählt worden, in einem County im Delta, dessen Bevölkerung zu siebzig Prozent schwarz war. Ford County war zu vierundsiebzig Prozent weiß, dennoch hatte Ozzie Wahl und Wiederwahl mit großer Mehrheit gewonnen. Die Schwarzen verehrten ihn, weil er einer der Ihren war, und die Weißen respektierten ihn, weil er als Polizist ein...