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funny girl

Anthony McCarten

 

Verlag Diogenes, 2014

ISBN 9783257604153 , 384 Seiten

2. Auflage

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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10,99 EUR


 

[13] 1

Nach ihrem Tod sprach man wochenlang in jedem türkischen Restaurant über sie, an der Bushaltestelle, in den Waschsalons, Wettbüros und verrauchten Cafés von Green Lanes, aber keiner wollte sie gekannt haben, keiner fragte nach den Einzelheiten. »Die Täter müssen sie schwer misshandelt haben. Nicht alle Verletzungen ließen sich durch den Sturz erklären, als man sie tot vor einem sechzehnstöckigen Hochhaus fand.« Die großen Zeitungen griffen den Fall auf, nannten sie »ein allseits beliebtes Mädchen, eine gehorsame Tochter und fromme Muslimin«, und bei so viel Anteilnahme hätte man gedacht, dass es rasch Antworten auf alle offenen Fragen geben würde: Wer hatte das Mädchen umgebracht, wer hatte sie vom Balkon im achten Stock gestoßen, wenn sie tatsächlich gestoßen worden war? Und warum war sie umgebracht worden, wenn sie denn umgebracht worden war?

Der Islamische Rat Großbritanniens wollte sich nicht äußern und erklärte lediglich, es sei »Aufgabe der Polizei«; allerdings werde man die Angelegenheit aufmerksam verfolgen. Amnesty International, zu einer Stellungnahme gedrängt, schrieb, entscheidend sei, dass diese »grausame Bluttat« nicht ungesühnt bleibe.

Aber was das kleine Grüppchen ihrer Freunde am [14] meisten quälte, war, dass niemand, kein Einziger – nicht ihre Familie, nicht die Polizei, nicht die Behörden, die wegen laufender Ermittlungen ihr Begräbnis sechs Wochen lang hinausgezögert hatten, oder die Honoratioren der geschäftigen türkisch-kurdischen Gemeinde –, dass niemand etwas unternommen hatte, um die Sache aufzuklären und die Verantwortlichen vor Gericht zu bringen. »Wieder ein Todesfall mit ethnischem Hintergrund« war das Fazit der Zeitungen, und mit diesem Schlusswort senkte sich der unvermeidliche Staub des Vergessens auf die Angelegenheit.

»Mörder!«

Als er diesen Schrei über die gebeugten Häupter der Trauernden schallen hörte, fuhr der Vater des toten Mädchens, an den er gerichtet war, herum und suchte mit weit aufgerissenen Augen nach dem Ankläger. »Wer hat das gerufen? Wer hat das gerufen?«

Er riss sich vom Grab seiner Tochter los, wo er sich mehrfach verneigt und leise Klagelaute ausgestoßen hatte, bahnte sich einen Weg durch die dichtgedrängten Angehörigen, Freunde und anderen Trauergäste, bis er ganz hinten auf ein paar Fremde stieß. »Wer war das? Sagt mir, wer das war! Wer hat das gerufen? Sie war meine Tochter

Die Anklage war aus dieser kleinen Gruppe gekommen, den Schulfreunden des toten Mädchens, und keiner von den Jungs hatte vor, sich zu melden – schon gar nicht gegenüber diesem Mann, von dem sie überzeugt waren, dass er, auch wenn er die Tat vielleicht nicht mit eigenen Händen begangen hatte, der Schuldige war.

Willkürlich griff sich der Vater einen jungen Mann von gerade mal fünfzehn heraus, packte ihn am Revers seiner [15] billigen Lederjacke: »Warst du das? Das warst du, oder? Gib’s zu!«

»Er hat nichts gesagt!«, rief einer von seinen Freunden.

»Er war’s nicht!«, ein anderer.

»Lassen Sie ihn in Ruhe.«

Und dann: »Haben Sie nicht schon genug angerichtet? Schämen Sie sich nicht?«

Der Vater ließ den ersten jungen Mann los, als er das Wort »schämen« hörte, und stürzte sich auf einen anderen, gleichaltrigen, einen Jungen mit einem ersten Anflug von Bartwuchs, aus dessen Mund das Wort gekommen war. »Wer spricht hier von Schämen – dass ich mich beim Begräbnis meiner Tochter schämen soll? Wer wagt es, so was zu sagen? Für wen hältst du dich, dass du so was sagst? Meine Tochter! Sie war meine Tochter!« Plötzlich standen Tränen in den wütenden Augen des Vaters.

Aber die jungen Freunde des toten Mädchens blieben ungerührt, und aus einer ganzen Reihe von Kehlen kam leise und wie im Chor das Wort »Dreckskerl«.

Der Vater stürzte sich mitten in das Grüppchen, und ohne einen Gedanken daran, wie es auf Außenstehende wirken würde, begann er auf sie einzuschlagen, verteilte rechts und links Ohrfeigen an die jungen Gesichter, schlug ihnen um die flaumigen Wangen, als wollte er wegschlagen, was gesagt worden war, obwohl es doch, einmal ausgesprochen, auf ewig in der Welt sein würde.

Die Schlägerei war nicht mehr zu vermeiden. Andere Männer aus der Trauergesellschaft kamen gelaufen, entweder um dem alten Mann beizustehen oder den jungen Freunden des toten Mädchens, und mit der Feier – deren Stimmung von [16] Anfang an so fragil gewesen war wie ein Schmetterlingsflügel – war es vorbei.

Zwei junge Frauen, die ganz hinten in der Menge gestanden hatten, hielten es nicht mehr aus. Fast im Laufschritt verließen sie den muslimischen Teil des Friedhofs und hielten erst wieder inne, als sie an einige englische Eichen kamen; von da blickten sie mit tränenverschmierten Augen auf die Szene zurück, betrachteten voller Verachtung die Männer (die sich immer noch hin und her schubsten und in einem kurdischen Dialekt einfältige Drohungen und Beschimpfungen ausstießen) und voller Verzweiflung die Frauen, die, ganz wie man es erwartete, mit bereiften Armen fuchtelten und nach Mäßigung riefen (sie aber nicht erwarteten).

»Der Dreckskerl hat sie umgebracht«, zischte Banu. »Und jetzt spielt er den Unschuldigen.«

»Ich weiß.«

»Ihr eigener Vater. Hat sie vom Balkon geworfen.«

»Ich weiß, ich weiß. Der Dreckskerl.«

»Und ihr eigener Bruder hat ihm dabei geholfen. Hat geholfen, sie runterzuwerfen. Einer hat sie an den Armen gepackt, einer an den Füßen, und dann ab übers Geländer.«

»Habe ich auch gehört.«

»Eins, zwei drei… und schwuppdiwupp.«

»Ich weiß, ich weiß. Ich weiß. Aber keiner hat es gesehen, oder?«

»Keiner, aber alle wissen, was passiert ist. Dreckskerle.«

»Dreckskerle.«

Azime (oder Azi, wie die meisten sie nannten) und Banu waren Schulfreundinnen des toten Mädchens gewesen, [17] das heißt, bis die Eltern das Mädchen von einem Tag auf den anderen von der Schule genommen hatten, um sie »zu Hause zu erziehen«, was sich für ein Mädchen in Green Lanes im Londoner Stadtteil Harringay in der Regel mit »unbezahlte Arbeit im Familiengeschäft, bis ein Ehemann gefunden ist« übersetzen lässt. In diesem Falle war es aber die Strafe dafür, dass sie mit einem Jungen ausgegangen war, einem, der kein Kurde war, nicht einmal Muslim. Ein ganzes Jahr Strafe, wie sich herausstellte, ein Tagesgefängnis, achteinhalbtausend Stunden, die sie fast ganz auf ihrem Zimmer verbringen musste, das sie nur zu den Mahlzeiten verließ. Und nach diesem Jahr, das ihr letztes sein sollte, durfte sie als Belohnung wieder zurück auf die Schule.

Und nun war sie tot.

Banu und Azime zupften ihre Kopftücher zurecht und verließen den Friedhof mit seiner Moschee und der langen himmelwärts weisenden Fahnenstange, an der die Flagge mit dem kurzen Dolch und dem Stern darüber wehte; ließen die Trauergesellschaft zurück, die in ihrer Wut, ihrem Gebrüll und ihrer Gewalttätigkeit anscheinend vergessen hatte, dass es jemanden zu betrauern gab.

Sie gingen zu Azimes Haus, durch abstoßend hässliche Straßen. Die Häuser dieser Gegend verloren Jahr für Jahr weiter an Wert und dienten jetzt nur noch Einwanderern als notdürftige Unterkunft. Die Arbeitslosigkeit im Viertel lag bei siebzig Prozent, die anderen dreißig Prozent arbeiteten für den Mindestlohn (oder weniger), weshalb die Gegend ziemlich heruntergekommen wirkte. Schwarze Müllsäcke lagen vor den Geschäften, in denen man auf jede der 193 Sprachen des Viertels gefasst sein konnte. Azime und Banu kamen [18] an vertrauten Restaurants vorbei, an Waschsalons, Schnapsläden, Internetcafés, am häufigsten aber sahen sie in den Schaufenstern von Green Lanes das Schild: »Zu vermieten«.

Als sie an einem Jobcenter vorbeikamen, gestand Azime, dass sie sich auf die Suche nach einem richtigen Job gemacht hatte, einem außerhalb des Familienbetriebs. Sie sei für alles offen, trotzdem sei es unmöglich, eine freie Stelle zu finden. Die Mädchen machten halt an einer Falafelbude. Sie sahen zu, wie die würzigen Bällchen frittiert und dann, zusammen mit Salat, Knoblauchmayonnaise und Chilisoße und jeweils einer Peperonischote, in Fladenbrot gesteckt wurden.

»Was macht deine Mutter?«, fragte Banu.

»Total von der Rolle. Wie üblich.«

»Wie viele Heiratskandidaten hat sie diesmal für dich?«

»Diese Woche nur drei. Alles Männer so alt wie mein Vater oder noch älter. Die passenden Jungs in meinem Alter hat sie alle durch. Jetzt sucht sie in den Altersheimen.«

»Aber du hast alle abgelehnt, stimmt’s?«

»Ich bin zwanzig. Ich lasse mich mit niemandem verheiraten.«

Banu machte eine beleidigte Miene. »Na danke. Herzlichen Dank.«

Azime merkte, dass sie ihre Freundin, die schon vor über einem Jahr geheiratet hatte, gekränkt hatte. Sie wollte es wiedergutmachen. »He, warum haben Inder diesen roten Fleck auf der Stirn?«

»Halt die Klappe!«

»Weil«, und dabei tippte Azime ihr bei jedem Wort mit dem Zeigefinger auf die Stirn, »DU… NICHT… HIER… HER… GEHÖRST!«

[19] Banu unterdrückte ein Grinsen.

Also versuchte Azime es noch einmal: »Ein Mann kommt in ein Wäschegeschäft und will ein durchsichtiges Négligé, Größe vierundvierzig. Der Verkäufer sieht ihn an und fragt: ›Warum zum Teufel wollen Sie denn da...