dummies
 

Suchen und Finden

Titel

Autor/Verlag

Inhaltsverzeichnis

Nur ebooks mit Firmenlizenz anzeigen:

 

Daily Soap - Ein Fall für den Frisör

Christian Schünemann

 

Verlag Diogenes, 2014

ISBN 9783257604047 , 240 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

Geräte

8,99 EUR


 

[5] 1

Tina Schmale starrte geradeaus in ihre eigenen Augen und versuchte, sich im Spiegelbild ihr neues Aussehen vorzustellen. Mit den Händen umklammerte sie dabei die Armlehnen, erschrocken über ihre eigenen Worte.

Ich wickelte mir ihr kräftiges Haar um den Handrücken und versteckte den Knoten in ihrem Nacken. Zum Vorschein kamen das Oval von Tinas Gesicht und ein Schimmer in ihren Augen. Ich war mir nicht sicher, ob es der Ausdruck von Trauer und Schmerz über den bevorstehenden Verlust war oder die Neugier auf das Leben danach. »Warum sollte ich das tun?«, fragte ich.

Tina drückte sich mit der flachen Hand gegen die Nasenspitze, eine Angewohnheit, die – glaubt meine Farbstylistin Bea – »Ausdruck eines sexuellen Verlangens« ist oder ein Zeichen dafür, »dass sie einen Parasiten in sich trägt«. Das war natürlich Quatsch. Tina litt an Heuschnupfen, und das ging jetzt im Februar schon wieder los.

Sie sagte: »Kein Typ. Nicht, was du denkst. Ich habe einen neuen Job.«

Ich ließ das Haar los, so dass es wie ein duftender Vorhang über ihren Rücken fiel. Wie viele Jahre hatten wir es lang und länger gezüchtet? Im Stehen reichte es ihr bis zum Po. Wir hatten es immer geliebt. Und jetzt hieß es plötzlich: [6] »Zu viel Gewicht. Zu viel zu schleppen. Es belastet mich. Kannst du das nicht verstehen?«

Ich war mir nicht sicher, ob Tina ihren Entschluss wirklich ernst meinte oder ob es eine Laune war, die so schnell verfliegen würde wie die Hoffnung, dass mit der ersten Krokusblüte der Frühling kommt. Nach ein paar Stunden Sonne tobte seit heute Mittag ein sibirischer Schneesturm durch die Hans-Sachs-Straße und verwandelte die Welt in eine weiße Hölle. Keine Ahnung, ob Aljoschas Maschine bei diesem Wetter überhaupt landen konnte. Heute Abend ohne ihn – ich wollte jetzt nicht schwarzmalen.

»Schau mal«, sagte ich, »du kannst es jederzeit hochstecken, wenn es dich stört. Das sieht dann ungefähr so aus.« Tina als Dame, vielleicht zur Abwechslung mal auf Absätzen statt immer in diesen Turnschuhen. Aber klar, dieses Styling würde sie jeden Morgen ein paar Minuten kosten – zu viel für Tina und all die anderen Frauen. Morgens muss es fix gehen. Keine Zeit für die Schönheit.

Tina drehte den Kopf, betrachtete sich seitlich, die Mundwinkel nach unten verzogen, aber von dem, was sie sagte, verstand ich kein Wort. Aus den Lautsprechern dröhnte mein geliebter Russenrock, aus dem Föhn die heiße Luft, mit der Dennis, mein Topstylist, zwei Positionen von mir entfernt das Resthaar seiner Kundin für meinen Geschmack viel zu sehr aufbauschte. Aber die Dame mochte, was Dennis mit ihr veranstaltete, und lächelte verliebt in ihr Spiegelbild. Kitty servierte Kräutertee und schlenderte zum Telefon, das hinter der Theke seine eigene Melodie sang. »Tomas Prinz für Haare – was kann ich für Sie tun?« Den Hörer zwischen Ohr und Schulter geklemmt, blätterte sie [7] in der Hängevorrichtung mit den Termintafeln. »Sofort? Ausgeschlossen. Übernächste Woche kann ich Ihnen anbieten… Nein. Herr Prinz selbst nimmt keine neuen Kunden.«

Tina schnitt kleine Grimassen, Härchen auf dem Näschen. Ich nahm die weiche Bürste und fragte: »Dein neuer Job – um was geht’s da eigentlich?«

»So ist das Leben.«

»Wie?«

»›SidL‹.«

»Ach so, die Fernsehserie. Hab ich früher regelmäßig geguckt. Meine Mutter schaut es immer noch jeden Abend. 19.30 Uhr ist ›SidL‹-Zeit. Versuch mal, sie dann anzurufen. Sie ist total süchtig. – Und wieso bist du jetzt bei dem Verein gelandet?«

»Das ging alles ganz schnell«, sagte Tina. »Anfang Januar kam der Anruf aus dem Headquarter in Berlin, ob ich Producerin von ›So ist das Leben‹ werden will. Ich dachte, ich dreh durch. ›SidL‹, der Klassiker! Vor zwanzig Jahren, als die Serie anfing, war ich vierzehn.«

»Und ich – mein Gott. Da war ich noch bei Sassoon in London und hätte im Traum nicht daran gedacht, dass ich einmal hier, in München, in der Hans-Sachs-Straße einen Salon aufmachen würde.«

»Ich bin jetzt Chefin von einer ganzen Produktion. 180 Leute – Schauspieler, Regisseure, Kostümbildner, Techniker, Kameraleute, und ich sage denen, wo es langgeht.«

Angenehm kühl fühlte sich Tinas Haar an, als es mir durch die Finger glitt. Ich überlegte, was möglich ist. Natürlich, man könnte alles unterschneiden. Den Nacken, die Seiten – alles in sich kurz. Ein radikaler Neuanfang.

[8] »Und jetzt noch das Jubiläum«, sagte Tina. »Folge 5000 steht an, wir ziehen eine riesige Pressekampagne auf. ›SidL‹ wird wieder überall Thema sein. Aber das ist auch nötig. Die Einschaltquoten sind zum Heulen. Die jungen Zuschauer gucken ›SidL‹ nicht mehr, die ticken heute anders. Und ich soll da jetzt ein Wunder vollbringen. Alles neu machen und trotzdem nichts verändern. Das ist jedenfalls mein Eindruck nach den ersten beiden Wochen.«

Das Deckhaar wollte ich auf jeden Fall länger lassen, damit wir damit noch etwas anstellen konnten.

»Und darum renne ich in der Produktion den ganzen Tag von einem zum anderen und sage: Hey, aufwachen! Wenn wir nicht ab sofort besser werden, schmeißt der Sender ›SidL‹ aus dem Programm. Dies hier ist unsere letzte Chance! – Die Kollegen in der Ausstattung, zum Beispiel, hassen mich vermutlich jetzt schon.«

Unordnung machen. Chaos stiften. Ich dachte an Anarchie, Patchwork und Parkas, Öko und Punk. Kein Retrochic, nein, eine ganz neue Interpretation. Langsam bekam auch ich Spaß an der Vorstellung.

Unsere Augen trafen sich im Spiegel. »Du bleibst also dabei?«, fragte ich. »Alles ab?«

Es war mehr ein Augenschließen als ein Nicken. Wenn Tina etwas beschlossen hatte, dann galt das.

»Aber da ist eine Sache«, sagte Tina und verfolgte jede meiner Bewegungen. »Gleich an meinem ersten Tag kam diese furchtbare Nachricht.«

Ich hatte ihre Haare zu einem Pferdeschwanz zusammengefasst und nahm die Schere. In diesem Moment verstummte der Föhn von Dennis, und die silberne Scheibe im [9] CD-Player hörte auf, sich zu drehen. In der Stille schnitt ich ab, und Tina sagte: »Die Nachricht, dass ein Kollege tot ist.«

»Sehr schön!«, lobte die Kundin links von uns Dennis’ Werk.

Tinas Haar, abgetrennt, ungefähr fünfzig Zentimeter lang und zwei Pfund schwer, fiel in die Tüte, die Kitty bereithielt. Manchmal wird ein großer Verlust klein, wenn er von einem anderen Ereignis überschattet wird.

»Tot?«, fragte ich. »Welcher Kollege?«

Die Musik dudelte wieder, und Tina sagte: »Ein Schauspieler. Er war seit der ersten Folge dabei. Ich weiß nicht, ob du dich erinnerst, schon ein bisschen älter, Johannes Beyerle heißt er.«

»Wann ist das passiert?«

»Vergangene Woche, stand doch groß in der Zeitung. Man hat ihn bei der Großhesseloher Brücke aus der Isar gefischt. Mein Vorgänger hatte ihn aus der Serie geschrieben und den Fernsehtod sterben lassen. ›Frischen Wind‹ hat er es genannt. Aber nach so vielen Jahren bei ›SidL‹ hast du als Schauspieler natürlich eine ›SidL‹-Fresse‹ und bekommst nirgendwo mehr eine neue Rolle. Aus. Mit sechsundfünfzig auf der Straße.«

Ich suchte nach Tinas Scheitel.

»Und seitdem sind die Einschaltquoten erst richtig in den Keller gegangen. Beyerles Gesicht fehlt einfach. Die Zuschauer vermissen ihn. Ich wollte die Entscheidung rückgängig machen und hatte mit unseren Autoren schon die passende Geschichte entwickelt. Sie liegt fertig in der Schublade. Beyerle steht von den Toten auf und kommt zurück – diese Maßnahme stand ganz oben auf meinem Zettel.«

[10] Ich nahm den großen Kamm – mit dem komme ich besser durchs trockene Haar –, kämmte alles aus dem Gesicht und klemmte eine Partie zwischen Zeige- und Mittelfinger.

»Er muss meine Nachricht verpasst haben. Ich bin so doof: Warum quassele ich ihm auch auf den AB? Warum bin ich nicht einfach direkt hin zu ihm? Hier, bitte schön, ist der Vertrag, unterschreiben, danke, das war’s. Die Sache wäre geritzt gewesen und alle zufrieden. Stattdessen springt der Mann. Es ist wirklich eine Tragödie.«

Büschel für Büschel fiel auf den Umhang und glitt zu Boden. »Hat die Polizei den Fall untersucht?«

»Wieso?«

»Es ist nur…« Indem ich die Haare auf die richtige Länge brachte, schuf ich eine glatte, kompakte Linie. »Vergiss es. Ich sehe Gespenster.«

»Und ich stehe vor einem Scherbenhaufen. Eine Stimmung herrscht bei uns in Unterföhring: zum Aus-dem-Fenster-Springen.«

Ich achtete darauf, genügend Stützhaare zurückzubehalten. Ich suchte Fransen und Kanten. Ich schnitt Ecken hinein. »Du musst irgendwie für einen Befreiungsschlag sorgen«, murmelte ich. »Neu durchstarten.«

»Ich brauche dringend einen neuen Hauptdarsteller oder eine neue Hauptdarstellerin. Jemanden, der Erfahrung hat, der mit seiner Aura und seinem Können die Geschichten zusammenhält. Am liebsten ein Gesicht, das bekannt ist, mit dem die Leute etwas verbinden. Ein Gesicht, das Quote bringt.«

Ich wechselte zur Modellierschere, nur so ein Gefühl, und überarbeitete von hinten. Ich dünnte noch einmal richtig aus.

[11] Tina rieb sich wieder die Nase. »Aber wer von den Stars in Deutschland gibt sich schon für eine Daily Soap her? Wir sind ja schließlich nicht in den USA, wo mal eben ein George Clooney um die Ecke kommt. Oder eine Jennifer Aniston.«

Ich zog mit leichter Hand runde Bahnen zum Wirbel, steckte die Partie fest und...