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Walden - oder Leben in den Wäldern

Henry David Thoreau

 

Verlag Diogenes, 2014

ISBN 9783257604085 , 352 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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10,99 EUR


 

[16] Ökonomie

Als ich die folgenden Seiten, oder jedenfalls den größten Teil davon schrieb, wohnte ich eine Meile weit von meinem nächsten Nachbar entfernt, in einem Haus, das ich mir selbst am Ufer des Waldenteiches in Concord, Massachusetts, gebaut hatte, allein im Walde und verdiente meinen Lebensunterhalt einzig mit meiner Hände Arbeit. Dort lebte ich zwei Jahre und zwei Monate lang. Jetzt bin ich wieder in die Zivilisation zurückgekehrt.

Ich würde meine Angelegenheiten der Aufmerksamkeit meiner Leser nicht aufdrängen, wenn nicht von meinen Mitbürgern über meine Lebensweise die genauesten Erkundigungen eingezogen worden wären, Erkundigungen so eingehender Art, daß man sie fast als unverschämt bezeichnen könnte, wenn nicht die Verhältnisse sie natürlich und angemessen erscheinen ließen. Die einen fragten mich, was ich gegessen, ob ich mich nicht einsam gefühlt, mich nicht gefürchtet habe, und so weiter. Andre wünschten zu wissen, welchen Teil meines Einkommens ich zu wohltätigen Zwecken verwendet habe, und wieder andere, die große Familien hatten, interessierten sich dafür, wie viele arme Kinder ich unterstützte. Ich bitte deshalb diejenigen meiner Leser, welche kein besonderes Interesse an mir nehmen, um Entschuldigung, wenn ich versuche, einige dieser Fragen in diesem Buch zu beantworten. In den meisten Büchern wird die erste Person, das ›Ich‹ umschrieben; hier wird sie beibehalten. Das ist, was den Egoismus anbelangt, der Hauptunterschied. Wir erinnern uns gewöhnlich nicht daran, daß im Grund genommen ja doch nur die erste Person spricht. Ich würde nicht so viel über mich reden, wenn ich irgend jemand anderen ebenso gut kennte. Leider bin ich durch die Beschränktheit meiner Erfahrung auf dieses Thema angewiesen. Auch verlange ich von jedem Schriftsteller, zu Anfang oder am Ende, einen einfachen, aufrichtigen Bericht über sein eigenes Leben, und nicht einen solchen über das Leben anderer Leute; einen Bericht, wie er ihn wohl aus fernem Lande seinen [17] Verwandten zukommen ließe; denn wenn er aufrichtig gelebt hat, so muß das fern von hier gewesen sein. Vielleicht sind diese Zeilen mehr an arme Studenten gerichtet. Meine übrigen Leser müssen sich dasjenige daraus aneignen, was für sie paßt. Ich hoffe, daß niemand die Nähte ausdehnt, wenn er den Rock anprobiert, denn er kann dem, welchem er paßt, möglicherweise gute Dienste leisten.

Ich möchte gern mancherlei sagen, weniger über die Sandwichinsulaner oder die Chinesen als über euch, die ihr diese Zeilen lest, die Bewohner von Neuengland; allerhand über eure Verhältnisse, besonders eure äußeren Verhältnisse in dieser Welt, dieser Stadt; welcher Art sie sind, ob es notwendig ist, daß sie so schlecht sind, wie sie sind, und ob sie nicht ebenso leicht verbessert werden könnten.

Ich bin ziemlich viel in Concord herumgekommen und überall, in den Läden, den Schreibstuben und auf dem Feld, schienen mir die Einwohner auf tausenderlei merkwürdige Weise ihre Sünden abzubüßen. Was man so hört von Brahmanen, welche sich der Hitze von vier Feuern aussetzen und der Sonne ins Antlitz schauen, die sich mit dem Kopf nach unten über Flammen hängen, über ihre Schulter nach dem Himmel blicken, »bis es ihnen unmöglich wird, wieder ihre natürliche Stellung einzunehmen, während infolge ihres verdrehten Halses nur Flüssigkeiten in den Magen gelangen können«, die an einen Baum angekettet ihr Leben verbringen, auf dem Bauche kriechend, wie Raupen, weite Reiche durchmessen oder mit einem Bein auf der Spitze einer Säule stehen – selbst diese Ausdrucksformen bewußter Reue sind kaum unglaublicher und erstaunlicher als die Szenen, deren Zeuge ich täglich bin. Die zwölf Arbeiten des Herkules sind Kleinigkeiten im Vergleich mit denen, welche meine Nachbarn unternehmen; denn jene waren nur zwölf und sie hatten ein Ende; aber ich konnte noch nie bemerken, daß diese Leute ein Ungetüm einfingen oder eine Arbeit zu Ende brachten. Sie haben keinen Freund Jolaos, der mit glühendem Eisen die Hälse der Hydra versengt, sondern sobald ein Kopf zerschmettert ist, wachsen zwei neue nach.

Ich sehe junge Leute, meine Mitbürger, deren Unglück es ist, Güter, Häuser, Scheunen, Vieh und Ackergeräte geerbt zu haben; denn solche Dinge sind leichter zu haben, als wieder [18] loszuwerden. Besser wären sie auf offener Weide geboren und von einer Wölfin gesäugt worden, dann hätten sie mit klareren Augen gesehen, in welchem Feld zu arbeiten sie berufen sind. Wer machte sie zu Sklaven des Bodens? Warum sollen sie ihre 60 Morgen Land verzehren, wenn der Mensch doch nur dazu verdammt ist, sein Häufchen Schmutz zu essen? Warum sollen sie anfangen ihr Grab zu graben, kaum daß sie geboren sind? Sie sollen ein Menschendasein leben, all diese Dinge vor sich herschieben und dabei so schnell als möglich vorwärtskommen. Wie mancher armen unsterblichen Seele bin ich begegnet, die fast erstickte und zusammenbrach unter ihrer Bürde; langsam kroch sie die Straße des Lebens hinab und schob dabei 75 auf 40 Fuß große Ställe vor sich her, Augiasställe, die nie gereinigt wurden, und hundert Morgen Land, Äcker, Wiesen, Weiden und Waldparzellen. Die Unbegüterten, welche sich nicht mit so viel unnötigen ererbten Hindernissen abzuquälen haben, finden Arbeit genug, wenn sie nur ihre paar Kubikfuß Fleisch bezwingen und kultivieren wollen.

Aber die Menschheit krankt an einem Irrtum. Ihr besserer Teil ist bald als Dünger unter die Erde gepflügt. Infolge eines scheinbaren Verhängnisses, das man gewöhnlich Schicksal nennt, beschäftigt sie sich damit, Schätze zu sammeln, welche die Motten und der Rost fressen und denen die Diebe nachgraben, wie es in dem alten Buche heißt.1 Ein Narrenleben ist es, wird jeder an seinem Ende denken, wenn er zu seinem Ende gelangt, wenn nicht schon früher. Die Sage geht, daß Deukalion und Pyrrha Menschen erzeugten, indem sie Steine über ihre Häupter hinter sich warfen:

Inde genus durum sumus, experiensque laborum

Et documenta damus qua simus origine nati.

Seither sind wir ein hart’ Geschlecht, ausdauernd in Müh und Pein,

Und geben wir Beweis, daß unsre Körper sind aus Stein.

So geht es, wenn man einem unklaren Orakel blind vertraut, Steine über die Köpfe wirft und nicht schaut, wohin sie fallen.

Die meisten Menschen sind, selbst in unserm verhältnismäßig freien Land, aus lauter Unwissenheit und Irrtum so sehr durch die unnatürliche, überflüssige, grobe Arbeit für das Leben in [19] Anspruch genommen, daß seine edleren Früchte von ihnen nicht gepflückt werden können. Von der anstrengenden Arbeit sind ihre Finger zu plump geworden und zittern zu sehr. Tatsächlich hat der arbeitende Mensch Tag für Tag keine Muße zu einer wahren Ganzheit; er kann die Zeit nicht auf bringen, die menschlichsten Beziehungen zu den Menschen zu unterhalten; seine Arbeit würde auf dem Markte im Werte sinken, und er hat keine Zeit, etwas anderes zu sein als eine Maschine. Wie kann derjenige viel an seine Unwissenheit denken – und er muß es tun, wenn er vorwärtsschreiten will –, der so oft von dem, was er weiß, Gebrauch zu machen hat? Wir sollten ihn von Zeit zu Zeit umsonst verpflegen und kleiden und ihn mit einer belebenden Herzstärkung erquicken, ehe wir uns ein Urteil über ihn erlauben. Die schönsten und feinsten Eigenschaften unserer Natur können, wie der duftige Hauch, der auf den Früchten liegt, nur durch die zarteste Behandlung erhalten bleiben.

Aber wir behandeln weder uns selbst noch irgend jemand anders auf so zarte Weise.

Einige von euch sind, wir wissen es alle, arm, finden es hart, zu leben, und müssen hie und da sozusagen nach Luft schnappen. Ich bezweifle nicht, daß mancher, der dies Buch liest, nicht imstande ist, all die Mittagessen, die er in Wirklichkeit schon eingenommen hat, oder die Kleider und Schuhe, die schon abgetragen sind, zu bezahlen, und daß er bis zu dieser Seite nur gekommen ist, weil er zum Lesen geborgte oder gestohlene Zeit verwendet, eine Stunde, um die er seine Gläubiger betrügt. Ich sehe es wohl – denn mein Blick ist durch die Erfahrung geschärft –, was für ein niedriges, kriechendes Leben ihr führt, immer auf der Lauer, bemüht, in Stellung und aus den Schulden herauszukommen, aus dem uralten Sumpf, den die Lateiner aes alienum nannten, andrer Leute Erz, denn einige ihrer Münzen waren aus Erz verfertigt. Ihr lebt und sterbt und werdet begraben von andrer Leute Erz, ihr, die ihr immer zu bezahlen, morgen zu bezahlen versprecht und heute insolvent sterbt; die ihr auf jede Weise – nur nicht durch Gesetzesübertretungen, auf die Gefängnisstrafe droht – versucht, bevorzugt zu werden und Kunden zu bekommen; die ihr lügt und schmeichelt, eure Stimmen abgebt und euch in [20] eine Nußschale von Höflichkeit zusammenzieht oder euch zu einer Atmosphäre dunstiger Großmut ausdehnt, nur um euren Nächsten dazu zu bringen, daß ihr ihm die Schuhe, den Hut, den Wagen machen oder für ihn die Kolonialwaren einführen dürft; die ihr euch krank macht, damit ihr etwas habt, was ihr für Zeiten der Krankheit zurücklegen könnt, etwas, was man in einer alten Kommode oder in einem Strumpf, hinter dem Wandbewurf oder, sicherer, auf der Bank versteckt, auf das wo, wieviel oder wie wenig kommt es nicht an.

Ich wundere mich oft darüber, daß wir so – ich möchte fast sagen – leichtfertig sein können, uns um die grobe, aber etwas ferner liegende Form der Negersklaverei zu bekümmern, wo es so viele strenge und schlaue Herren gibt, die sowohl den Süden wie den Norden in Sklavenketten gefangenhalten. Es ist...